Film-Dokumentation über die Liberale Synagoge in Darmstadt
von Paul-Hermann Gruner

Sie existierte seit 1876 und wurde 1938, vor rund 75 Jahren beim Novemberpogrom der Nationalsozialisten, geplündert, verwüstet, abgebrannt: die Liberale Synagoge Darmstadt in der Bleichstraße. Jetzt hat der Filmemacher Florian Steinwandter-Dierks eine Dokumentation über die Synagoge gedreht. „Wenn Steine aus der Mauer schreien“ heißt er und wurde am Donnerstag vorgestellt.

Einen Film über ein Gebäude zu drehen, dass es nicht mehr gibt – das habe ihn gehörig gereizt, gibt Florian Steinwandter-Dierks unumwunden zu. Der 40 Jahre alte Darmstädter griff also im Frühjahr 2012 zum Telefon, rief Martin Frenzel an. Im Gespräch mit dem Vorsitzenden des Fördervereins Liberale Synagoge war nach kurzem Dialog die Absicht beschlossene Sache: ein Dokumentarfilm über die Liberale Synagoge.

„Wenn Steine aus der Mauer schreien“ ist also keine Auftragsproduktion des Vereins, sondern die Kooperation zweier engagierter Ehrenamtlicher. So viel Ehrenamt ist selten beim Film. Entweder gibt es Finanzmittel aus der Filmförderung oder vom Auftraggeber. Hier gab es weder noch. Aber Steinwandter-Dierks war zunächst auch der Ansicht, er drehe einen fünfminütigen Digitalfilm.

Aber erstens kommt es anders, als man will, und zweitens muss man Chancen nutzen: Martin Frenzel sorgte für Zeitzeugen und vermittelte Interviews mit Politikern und Experten für den Filmemacher. So wurden aus den fünf sehr schnell dreißig Minuten. Und bei denen blieb es nur dank ausgeprägter Disziplin: „Aus sechzehn bis siebzehn Stunden Material“, so der Regisseur, habe man auswählen können. Innerhalb eines Jahres entstand in sechs Wochen Arbeit (Skriptentwicklung, sieben Drehtage, eine Woche Schnitt) der Film mit dem Titel „Wenn Steine aus der Mauer schreien: Die Liberale Synagoge – Zukunft braucht Erinnerung“.

Der Haupttitel ist ein Zitat aus den Briefen „zur Beförderung der Humanität“ des aufklärerischen Dichters und Philosophen Johann Gottfried Herder (1744-1803). Tatsächlich befasst sich der Film vergleichsweise eingehend mit – Steinen. Das Meiste, was von der Liberalen Synagoge übrig blieb, sind jene Teile des gemauerten Fundaments, die auch heute noch in der im Klinikumsneubau eingerichteten Gedenkstätte zu sehen sind.

Weil man aber ein Gebäude, das nicht mehr existiert, schwer filmen kann und nur begrenzte Zeit Fotos, Steine, Fensterreste, kleine Messing-Fundstücke oder Teile der angebrannten Thora-Rolle als Ersatz dienen können, geht der Film produktive Umwege in der Beschreibung des einst so eindrucksvollen Sakralbaus.

Einer der Umwege führt über den ehemaligen Großherzoglich-Hessischen Landesrabbiner Julius Landsberger. Dieser hatte 1876 auch die Einweihung des Gotteshauses vorgenommen.

Ein anderer Umweg sind Erfahrungen von Zeitzeugen wie Wilhelm Wannemacher oder Klaus Lingelbach. Als die Synagoge in der Nacht zum 10. November brannte, ging Vater Lingelbach mit seinem sechsjährigen Sohn zur Bleichstraße: „Da gehe mer mal gucke.“ Und sie sahen, wie die Feuerwehr herumstand und nicht eingriff. Der Vater, Sozialdemokrat, habe sofort von Brandstiftung gesprochen, erinnert sich Klaus Lingelbach. Und einen Satz seines Vaters, auf dessen Schultern er gesessen habe beim Blick in die Flammen, habe sich ihm fast wörtlich eingeprägt: „Das kann kein gutes Ende nehmen, wenn man Gotteshäuser anzündet.“

Dritter Umweg: der Blick auf die Wiederentdeckung der Synagogenreste 2003. Vierter Umweg: Die Gänge zum Modell der Altstadt und der Liberalen Synagoge, angefertigt von Christian Häussler, zum Jüdischen Museum in der Neuen Synagoge, zum „Denkzeichen Güterbahnhof“, das an die Deportation aus der damaligen Landeshauptstadt Darmstadt erinnert.

Mit seiner durchweg eleganten Filmsprache, dem Einsatz der Filmmusik (bedeutungstragende Klavierthemen meist) und der erklärend und überleitend eingesetzten Off-Stimme (von ZDF-Redakteur Christoph Schreiner) gelingt Steinwandter-Dierks ein formal routiniertes, in seiner Expressivität empathisches Porträt nicht nur eines Gebäudes – sondern auch eines Stadtbildes, eines Zeitgeistes, einer Verlusterfahrung. Es soll künftig auch Schulen zur Verfügung stehen. Und verdiente allemal einen angemessenen Sendeparkplatz beim Hessischen Fernsehen.

Der Film „Wenn Steine aus der Mauer schreien“ ist in diesem Jahr noch mehrfach zu sehen, zwei Termine stehen fest: am 8. Oktober und 12. November , jeweils 19.30 Uhr im Justus-Liebig-Haus. Schulleitungen oder Lehrer, die Interesse an Filmvorführungen haben, wenden sich direkt an Martin Frenzel, Telefon 06151  99 26 804 oder 0176 249 858 79.

Echo-Online, 21.3.2013

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email