Mut zur Unterbrechung
Schabbat und Sonntag als Hilfe zur Entschleunigung, Teil II
von Peter Hirschberg

Der auch der Arbeit seine Grenze setzt …
Die (am Schabbat) geforderte Abgrenzung bezieht sich natürlich nicht nur auf die Grenzen des Schabbat, sie durchdringt die inhaltliche Gestaltung des ganzen Tages. Dies zeigt sich vor allem darin, dass am Schabbat die Arbeit kategorisch verboten ist. Nach der Mischna (= Grundlage des jüdischen Religionsgesetzes, „mündliche“ Lehre) sind es 39 Hauptarbeiten, die verboten sind. Es handelt sich dabei um Arbeiten, die bei der Errichtung der Stiftshütte notwendig waren (31,15; 35,2) und bereits in biblischer Zeit am Schabbat verboten waren. Aus diesen 39 Hauptarbeiten werden weitere verbotene Arbeiten abgeleitet. Diese Definition von Arbeit wirkt zugegebenermaßen willkürlich und lässt noch nicht wirklich erkennen, was nun eigentlich inhaltlich mit „Arbeit“ gemeint ist. Denn warum soll eine Tätigkeit, die zufällig gerade zum Bau der Stiftshütte notwendig war, verboten sein, während viele andere denkbare Tätigkeiten erlaubt sind? Hier kann Erich Fromm weiterhelfen, der versucht hat, den inneren Sinn des jüdischen Arbeitsverbotes zu erfassen. Er schreibt: „Nichts darf zerstört und nichts aufgebaut werden; der Schabbat ist ein Tag des Waffenstillstandes im Kampf des Menschen mit der Natur. Sogar das Abreißen eines Grashalms wird ebenso als eine Verletzung dieser Harmonie angesehen wie das Entzünden eines Streichholzes. Auch keine gesellschaftlichen Veränderungen dürfen vorgenommen werden. Das ist der Grund, warum es verboten ist, etwas auf der Straße zu tragen, selbst wenn es so wenig wiegt wie ein Taschentuch, während es erlaubt ist, im eigenen Garten eine schwere Last zu tragen. Nicht das Tragen als solches ist verboten, sondern der Transport eines Objekts von einem privaten Grundstück zu einem anderen, da es sich bei einem solchen Transfer ursprünglich um die Veränderung von Eigentumsverhältnissen handelt. Am Schabbat lebt der Mensch, als hätte er nichts, als verfolge er kein Ziel außer zu sein, das heißt seine wesentlichen Kräfte auszuüben - beten, studieren, essen, trinken, singen, lieben.“ Das biblische Arbeitsverbot besagt also in seiner jüdischen Interpretation nicht, dass jegliche Art von Arbeit verboten ist. Die Schwere einer Tätigkeit ist gerade nicht dafür ausschlaggebend, ob etwas als Arbeit zu gelten hat oder nicht. Es gibt ein inneres Kriterium. Versuchen wir, dieses innere Kriterium noch etwas deutlicher herauszuarbeiten.

Arbeit ist zuerst einmal all das, wodurch der Mensch sich sein Leben sichert und erhält. Diese Art von Arbeit ist nicht von vornherein negativ qualifiziert. Wir alle müssen arbeiten, um uns unseren Lebensunterhalt zu verdienen, und viele arbeiten sogar sehr gerne. Das Problem besteht darin, dass die Arbeit den Menschen dazu verführt zu meinen, er könne sich aus eigener Kraft das Leben sichern. Erliegen wir dieser Illusion, dann verkennen wir den Geschenkcharakter des Lebens, sehen nicht mehr, dass jeder Atemzug, den wir tun, Geschenk der göttlichen Liebe ist. Gegen diese eigenmächtige und gottlose Dynamik, die die Arbeit bei uns Menschen oft bekommt, richtet sich das biblische Arbeitsverbot. Indem der Mensch sich an einem Tag der Arbeit enthält, steuert er gegen diese Dynamik an. Der Mensch lebt im letzten nicht von seiner Arbeit, sondern von der Gnade Gottes. Auch unsere gelingende Arbeit verdanken wir Gott.

Was für die Ebene des natürlichen Lebens gilt, gilt noch mehr für unser inneres Leben. Auch hier erliegen wir oft der Illusion, dass wir Leben, Glück und innere Zufriedenheit durch eigene Anstrengung finden könnten. Erich Fromm weist hier zu Recht auf die in unserer alltäglichen Welt so entscheidende Dimension des Habens hin. All unsere Reichtümer, unsere Erfolge und Errungenschaften, aber auch unsere vielen Würden und Titel, sind oft nur Ausdruck unserer inneren Leere. Wären wir von innen her stark und zufrieden, müssten wir uns nicht mit allen möglichen Varianten des Habens künstlich aufblähen. Das menschliche Grundproblem – nämlich unsere Leere – wird dadurch gerade nicht gelöst, sondern nur verdrängt. Arbeit meint auf dieser Ebene all die nach außen gerichteten Aktionen des Haben-Wollens, die im letzten dadurch motiviert sind, unseren unersättlichen Lebensdurst zu stillen. Indem der Mensch sich am Schabbat all diese Aktionen untersagt, verherrlicht er die Dimension des Seins. Er erkennt an, dass ihm das Entscheidende eigentlich schon von Gott her geschenkt ist und es jetzt nur noch nur darum geht, dies vertrauensvoll aus Gottes Händen zu nehmen. Sehr schön beschreibt Heschel diesen besonderen Charakter des Schabbat: „Wie sollen wir den Unterschied zwischen dem Schabbat und den anderen Tagen der Woche bewerten? Wenn ein Tag wie z.B. der Mittwoch kommt, sind die Stunden leer; und wenn wir ihnen nicht Bedeutung verleihen, bleiben sie ohne Eigenart. Die Stunden des siebten Tages tragen ihre Bedeutung in sich selbst; ihre Bedeutung und ihre Schönheit hängen nicht von irgendeinem Werk, Profit oder Fortschritt ab, den wir zustande bringen können. Sie besitzen die Schönheit des Erhabenen.“

Es ist klar, dass die auf diesen Sinnebenen getroffenen Unterscheidungen von Arbeit und Nicht-Arbeit nicht immer eindeutig sind. Gerade als Christen werden wir hier an manchen Stellen Einspruch erheben und zu Recht das Moment der subjektiven Einschätzung ins Spiel bringen. Denn was für den einen Arbeit in dem problematisierten Sinn ist, muss es für den anderen noch lange nicht sein. Jemand, der während der Woche schwere körperliche Arbeit leistet, wird wahrscheinlich wenig Lust haben, diese Arbeit auch noch am Schabbat oder Sonntag auszuüben. Sie ist viel zu sehr mit seinem anstrengenden alltäglichen Existenzkampf verbunden. Umgekehrt wird ein Mensch, der in erster Linie einer geistigen Tätigkeit nachgeht, es vielleicht als eine Wohltat empfinden, wenn er am Schabbat eine schöne lange Wanderung unternehmen darf, auch wenn er dabei den am Schabbat erlaubten Weg um ein Vielfaches überschreitet. Man wird also in jedem Fall darüber nachzudenken haben, inwieweit solche Grenzen kollektiv gesetzt werden können. Insofern werden wir als Christen den Versuch, aus halachischer Perspektive Arbeit exakt zu definieren, auch immer hinterfragen müssen. Als Gegenpol zu unserer sehr subjektiven, christlich-liberalen Haltung, erscheint mir die jüdische Forderung, deutliche Grenzen zu ziehen, dennoch unentbehrlich. Auch wir Christen merken ja, dass etwas Entscheidendes verloren geht, wenn der Sonntag durch vermehrte Sonntagsarbeit und großzügige Ladenöffnungszeiten immer mehr relativiert und dem Alltag angeglichen wird. Es könnte sein, dass es manchmal sogar besser ist, rational nicht in jeder Hinsicht eindeutig gezogene Grenzen anzuerkennen, wenn dies dazu hilft, die Notwendigkeit der Grenze überhaupt im Bewusstsein zu halten. Fest steht in jedem Fall, dass dort, wo überhaupt keine erkennbare und allgemein verbindliche Grenze zwischen Alltag und heiligem Tag gezogen wird, die besondere und in unserem Sinne auch heilende Dimension des Schabbat schnell verloren geht. Darüber hinaus macht uns das Judentum bewusst, dass solche Setzungen, wenn sie ihre Wirkung nicht verfehlen sollen, immer auch die gesellschaftliche Dimension brauchen. Natürlich kann auch eine jüdische Familie, die mitten in München lebt, Wege und Möglichkeiten finden, am Schabbat zur Ruhe zu kommen. Aber leichter ist es natürlich in einer Umwelt, wo alle den Schabbat halten. Ein Moment, das auch für unsere christliche Sonntagsfeier von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. (…)

Von der Angst, zu kurz zu kommen
Wenn wir den Schabbat bzw. den Sonntag bewusst halten, dann geht in Bezug auf unsere alltäglichen Geschäfte ein Tag „verloren“. Ein Tag, an dem sich die Welt ohne uns drehen muss: ohne unser Engagement, ohne unsere Arbeit, ohne unser Sorgen und Mühen. Geht das? Schon wenn man die Frage so stellt, merkt man wie viel Hybris in uns steckt. Natürlich ist jedem klar, dass der Fortbestand der Welt und unseres Lebens nicht von unserem Rennen und Jagen abhängt. Dennoch bilden wir uns genau das oft genug ein. Es gibt Menschen, die es fast als eine Beleidigung empfinden, wenn sie nach zwei Wochen Urlaub zu ihrem Arbeitsplatz zurückkehren und feststellen, dass trotz ihrer Abwesenheit alles gut lief und die Firma eigenartigerweise weder im Chaos versunken ist noch bankrott gemacht hat. Wir sind nicht unersetzlich! Gerade das will uns der Schabbat lehren. Er will uns begreiflich machen, dass es auch einmal ohne uns geht und uns auf diese Weise zu einer neuen Gelassenheit befreien. In bestimmter Hinsicht ist der Schabbat so auch eine Einübung in den Glauben. Wir sollen Gott zutrauen, dass er am Schabbat die Welt auch einmal ohne unser kostbares Engagement am Laufen hält. Wir sollen lernen an unsere eigene Entbehrlichkeit und die Unentbehrlichkeit Gottes zu glauben.

Auf dem jüdischen Schabbattisch liegen am Freitagabend normalerweise zwei Brote, die so genannten Challot („Doppelbrot“). Diese Brote erinnern an die doppelte Portion Manna, die das Volk Israel in der Wüste am sechsten Tag der Woche einsammeln durfte (Ex 16,13-30). An jedem Wochentag sollten die Israeliten nur soviel Manna einsammeln, wie sie für den entsprechenden Tag brauchten. Vorräte anhäufen war untersagt, angesammeltes Manna wurde faul und unbrauchbar. Einzige Ausnahme bildete der Freitag. Am Freitag durften sie eine doppelte Portion auflesen. Eine für diesen Tag selbst, den Freitag, und eine für den Schabbat. Das in der Bibel erzählte Wunder bestand nun darin, dass nur an diesem Tag die doppelte Portion nicht schlecht wurde. Eine wunderbare Geschichte! Eine Geschichte, die in großartiger Weise zeigt, dass Gott für uns und unsere Welt sorgen wird, wenn wir den Schabbat oder den Sonntag gewissenhaft halten. Gott verspricht uns, dass wir nicht zu kurz kommen werden, wenn wir alles Sorgen und Mühen loslassen. Wenn Juden am Freitag ihr Pflichtgefühl überfällt und sie dazu bringen will, noch ein paar unerledigte Arbeiten mit nach Hause zu nehmen, dann dürfen sie dies als Versuchung getrost von sich weisen und die Akten dort lassen, wo sie hingehören: nämlich im Büro. Das Gleiche gilt für Christen, die ihren Sonntag ernst nehmen. Gott hat versprochen, für uns zu sorgen. Nicht mangelndes Pflichtgefühl oder gar Verantwortungslosigkeit lassen uns so handeln, sondern das Vertrauen zu dem Schöpfer und Liebhaber unseres Lebens.

Herman Wouk beschreibt diese Haltung der Gelassenheit aus seiner Situation als Regisseur am Broadway: „Der Schabbat hat immer dann besonders einschneidend in mein Leben eingegriffen, wenn Proben meiner Stücke stattfanden. ... Während der Proben wird es immer gerade dann Freitagnachmittag, wenn die ganze Aufführung zusammenzubrechen droht. Ich kam mir manchmal wie ein Verräter vor, wenn ich in einer so kritischen Situation am Schabbat festhielt. Aber ich wußte aus Erfahrung, daß es beim Theater immer dasselbe ist. Manchmal stolpert die Aufführung wirklich dem Untergang entgegen, und manchmal stolpert sie auf einen Riesenerfolg zu, aber Stolpern ist jedenfalls die normale Gangart, und leidenschaftliche Ausbrüche sind die normale Stimmung. Also habe ich mich zögernd am Freitagnachmittag von meinen Kollegen verabschiedet, um am Samstagabend zurückzukommen. Nie ist eine Aufführung in der Zwischenzeit hoffnungslos zusammengebrochen. Wenn ich zurückkomme, klappt es genauso wenig wie vorher, und die verzweifelten Ausbrüche haben nichts an Lautstärke eingebüßt. Ich habe mit meinen Stücken Erfolge und Mißerfolge erlebt, aber keins von beidem kann ich darauf zurückführen, daß ich den Schabbat einhielt.“

Schabbat und Alltag: Heiligung der Zeit
Die klare Trennung zwischen Alltag und Schabbat führt zu der berechtigten Frage, in welcher Weise Alltag und Schabbat nun inhaltlich aufeinander bezogen sind. Eine Lösung für diese Frage hat Philo von Alexandrien vorgeschlagen. Er schreibt: „Es ist uns geboten, daß wir uns an diesem Tag von aller Arbeit enthalten, nicht weil das Gesetz Trägheit fördert ... Das Ziel ist vielmehr, den Menschen Erholung von der ewigen, endlosen Plackerei zu gewähren, damit sie sich durch ein sorgfältig geplantes System der Ausspannung erfrischen und mit neuer Kraft an ihre alte Arbeit gehen können. Denn eine Atempause befähigt nicht nur gewöhnliche Leute, sondern auch Athleten, ihre Kräfte zu sammeln, damit sie mit verstärkter Kraft pünktlich und geduldig alle Aufgaben erledigen können, die vor ihnen liegen.“

Diese Sätze, die deutlich gegen den antiken Vorwurf gerichtet sind, die Juden wären wegen ihrer Schabbatobservanz Faulenzer, versuchen in rational einsichtiger Weise, eine Verbindung zwischen Schabbat und Alltag herzustellen. Demnach wäre der Schabbat eine Art Rekreationsangebot, um unsere durch den Alltag verbrauchten Kräfte wiederherzustellen. Ein kleiner eintägiger Erholungsurlaub im wahrsten Sinn des Wortes. Nach all dem, was bisher ausgeführt wurde, ist deutlich, dass diese Interpretation dem Schabbat seine besondere Würde nimmt. Der Schabbat soll ja gerade nicht den Zweck haben, uns zu noch reibungsloser im Alltag funktionierenden Maschinen zu machen, sondern dient einem Sinn, der unsere Welt transzendiert. Er hat seine eigene Würde. Dass er daneben auch Erholungswert hat, mithin auch dazu beiträgt, dass wir wieder gestärkt und erfrischt ans Werk gehen können, muss deshalb nicht bestritten werden. Aber es wäre unzulässig, seinen Sinn von vornherein allein darin zu sehen. Paradox wird man sogar formulieren können: Je mehr der Schabbat vor Funktionalisierung und Instrumentalisierung bewahrt wird, je mehr er seinen Eigenwert behält, desto mehr wird er für das Leben tüchtig machen.

Das diesem entgegengesetzte Missverständnis besteht darin, Schabbat und Alltag nun völlig beziehungslos nebeneinander stehen zu lassen. Hier der Raum alltäglicher Geschäftigkeit, dort der Raum eines bewusst in Gott gegründeten Lebens. Eine solche Schizophrenie, die Gott und unseren Alltag radikal voneinander ablösen würde, ist sicher nicht im Sinn des biblischen Schabbatgebots. Die biblische Botschaft hat ja gerade zum Ziel, unser Leben ganzheitlich mit Gottes Gegenwart zu durchdringen und es so zu heiligen. Ein Glaube, der Gott zur Winkelangelegenheit unseres Lebens machen würde – hier, indem er ihn auf den Schabbat eingrenzt –, kann sich sicher nicht auf die Bibel berufen.

Dies ist übrigens einer der Punkte, warum sich Luther gegen das jüdische Schabbatgebot – und auch gegen ein korrespondierendes Verständnis des Sonntags – wendet. Indem hier einem Tag eine „gesteigerte Heiligkeit“ zugestanden wird, wird seiner Ansicht nach genau diese Art von Schizophrenie gefördert . Heiligung darf nach ihm also gerade nicht heißen, bestimmte Gegenstände und Zeiten als „heilige“ Gegenstände und Zeiten so aus dem Bereich des Alltäglichen herauszunehmen, dass das restliche, also das alltägliche Leben, damit der Gefahr der Entheiligung anheim fällt. Heiligung ist eine ganzheitliche Angelegenheit und muss sich deshalb schlechterdings auf alles beziehen. Der Glaubende betrachtet die Gesamtheit des Lebens als Gabe der göttlichen Liebe. Auch die alltäglichsten und natürlichsten Dinge wie Arbeit, Essen oder Sexualität sind ihm Gabe des liebenden Gottes. Umgekehrt ist ihm alles von Gott gegebene Aufgabe und Herausforderung, der er sich aufgrund der ihm zuteil gewordenen göttlichen Liebe stellen will, und es in der Kraft dieser Liebe auch kann. Heiligung bedeutet also letztlich, dass alles von der uns zuteil gewordenen göttlichen Liebe durchdrungen werden soll. Aus diesem Grund sind Luther besonders heilige Bereiche oder Zeiten verdächtig.

Luthers Argumentation leuchtet ein. Dennoch hat er das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Denn religionspsychologisch gesehen bedarf der Mensch besonders ausgegrenzter und in diesem Sinn heiliger Zeiten, gerade weil es ihm um die Heiligung des ganzen Lebens geht. Als im Irdisch-Leiblichen verhaftete Wesen brauchen wir bestimmte Zeiten, um die Dimension der Heiligkeit einzuüben . Wer für das Gebet keine festen Zeiten in seinem Leben reserviert hat, wird kaum dahin kommen, dass sein ganzes Leben zu einem Gebet wird. Gebet als Lebenshaltung setzt die Einübung des konkreten Gebets voraus. Wenn wir deshalb wollen, dass die Menucha unser ganzes Leben bestimmt und durchdringt, dann brauchen wir einen Tag in der Woche, um diese Menucha besonders zu feiern und einzuüben. Deshalb hat die deutliche Abgrenzung des Schabbat vom Alltag gerade nicht zum Ziel, beide Bereiche völlig voneinander geschieden zu halten. Unterscheiden, ohne zu scheiden, das ist die Aufgabe, mit der alles steht und fällt. Allein so kann der Schabbat den Alltag ganz bewusst und gezielt durchdringen und heiligen. Die Tage einer Woche sind leer und bedeutungslos, wenn sie ihr Licht nicht vom Schabbat her empfangen. Nicht umsonst werden auch noch heute in Israel die Tage auf den Schabbat hin gezählt.

Heiligkeit und Heiligung hat in der Bibel immer mit Absonderung und Ausgrenzung zu tun. Aber gerade die Ausgrenzung dient paradoxerweise der Integration. Dies ist deshalb so, weil wir als Menschen noch mitten in einer unerlösten Welt stehen und selbst zum großen Teil noch unerlöst sind. Wollen wir die Welt und uns selbst heiligen lassen, d.h. alles wieder mit Gott einen, dann brauchen wir feste Orte, von denen aus dieser mühselige Prozess in Angriff genommen werden kann. Wer einen Sumpf trocken legen will, der darf nicht selbst im Sumpf stecken und ums Überleben kämpfen. Er braucht festen Grund unter den Füßen, so dass er sein Werk von einem bestimmten Standpunkt aus sinnvoll betreiben kann. Natürlich können sich heilige Zeiten verselbstständigen und so religiöser Schizophrenie Vorschub leisten. Um im Bild zu bleiben: natürlich kann es sich der Mensch auf dem festen und sicheren Boden, auf dem er steht, gemütlich machen und den Sumpf um sich herum vergessen. Doch dies ist ein Zeichen seiner eigenen Unerlöstheit und spricht nicht prinzipiell gegen heilige Zeiten.

(aus: Peter Hirschberg, Mut zur Unterbrechung, Schabbat und Sonntag als Hilfe zur Entschleunigung, S. 39 ff, Mabase Verlag, Nürnberg 2012).


          1  Heschel, J.A., Der Schabbat 18.
            2 Wouk, H., Das ist mein Gott 59.
            3 Philo, De specialibus Legibus II, 60 (Loeb Klassiker, Philo, VII).
            4 Gr. Kat., LD a.a.O. 35f.
            5 Im Zusammenhang mit der Betonung der Wichtigkeit, am Sonntag Gottes Wort zu hören, versteht Luther den Sonntag übrigens durchaus als Einübung, auch wenn das Wort selbst nicht fällt. So wird im Gr. Kat. LD 37 die Notwendigkeit, am Sonntag die Predigt zu hören, unter anderem folgendermaßen begründet: "Denn das lasse dir gesagt sein: ob du es gleich aufs beste könntest und aller Dinge Meister wärest, so bist du doch täglich unter des Teufels Reich, der weder Tag noch Nacht Dich zu beschleichen ruhet, daß er in deinem Herzen Unglauben und böse Gedanken wider die vorhergehenden und alle Gebote anzünde. Darum mußt du immerdar Gottes Wort im Herzen, Mund und vor den Ohren haben." Dies zeigt, dass er den hier geäußerten Gedanken nicht fern steht. Das Problem ist nur, dass in seinen Ausführungen manches durcheinander geht, und man nicht immer den Eindruck hat, dass die ganze Problematik gründlich genug reflektiert ist.

           6  "Gedenke und halte": Gedenke seiner (des Schabbats) vorher und halte ihn (bis) hinterher. Von daher hat man gesagt: Man fügt vom Profanen zum Heiligen hinzu. Ein Gleichnis: Gleich einem Wolf, der von vorn und hinten herandrängt. Elasar ben Chananja ben Chiskija ben Chananja ben Garon sagt: "Gedenke des Sabattages, ihn zu heiligen" - gedenke seiner vom ersten Tag der Woche an, so daß du, wenn dir etwas Schönes zufällt, es auf den Schabbat hin zubereitest. Rabbi Jizchak sagt: Zähle nicht, wie die andern zählen, sondern zähle auf den Schabbat hin." Mechilta Par. Jithro 8 zu Ex. 20,16/Horovitz-Rabin, S.233, zitiert nach: Osten-Sacken, P.v., Katechismus und Siddur, S. 62.

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