Nicht nur Toleranz
Das Verhältnis zum Judentum und die biblische Orientierung von Theologie und Kirche (1)
von Frank Crüsemann

Das Thema Toleranz, das als Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum über dem Jahr 2013 steht, zwingt, über die problematischen Seiten der Reformation nachzudenken. Und das ist gut so, denn so kommen endlich die Opfer in Sicht und der Jubel kann einem im Hals stecken bleiben. Luther hat zwar den lateinischen Begriff tolerantia eingedeutscht, aber die damit bezeichnete Haltung ausdrücklich abgelehnt (2) – und Calvin schrieb gar eine „Verteidigung der Intoleranz“ (1554). Man muss sich immer wieder klar machen, dass das noch vor einer Generation die übliche Haltung der evangelischen Theologie war. Andersgläubige konnten nicht geduldet werden, weder Juden noch Moslems noch ketzerische Christen. Es war ein langer Weg zum toleranten Rechts-Staat, der das Nebeneinander verschiedener Religionen erzwang. Und im Inneren von Theologie und Glaube blieb es noch lange so, selbst als man zum Rechtsfrieden genötigt war.

Dabei hat doch Goethe Recht, wenn er sagt:
„Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muss zur Anerkennung führen, dulden heißt beleidigen …“.(3) Wie weit sind wir mit solcher Anerkennung in der Breite unserer Kirche gekommen? Die Frage ist m. E. weitgehend identisch mit der, wie weit das neue Verhältnis zum Judentum wirklich zum Zentrum des christlichen Glaubens in unseren Gemeinden gehört.

Die Beschneidungsdebatte und die Inhumanität des Universalismus

Wie dünn das Eis ist, auf dem sich das Miteinander verschiedener Religionen und Kulturen in unserem Lande bewegt, hat die Debatte um ein mögliches Beschneidungsverbot gezeigt. Faktisch geht es dabei um ein Religionsverbot gegenüber dem Islam wie dem Judentum, wobei letzterem doch alle Schwüre eines „nie wieder“ seit 1945 galten und diese Haltung als unverbrüchlich angesehen wurde. Da war sie wieder, die braune Ursuppe des Antijudaismus und Antisemitismus, wie die Flut erregter Leserbriefe mit ihren Hinweisen auf die barbarische Religion, ihre Herkunft aus archaischen Zeiten und dem angeblich grausamen Alten Testament zeigte. Schlimmer aber und beängstigender ist die neue Gestalt, in der die alten Vorurteile heute auftreten: Als Verteidiger von Menschenrechten und Rechtsstaat, von körperlicher Unversehrtheit und Kinderrechten. So das auslösende Kölner Urteil, so seine juristischen und medizinischen Verteidiger, dem sich ganze Medizinverbände anschlossen, so eine Vielzahl öffentlich geäußerter Meinungen. Dass Menschenrechte religiöse Intoleranz begründen, zeigt ein spezifisch deutsches Denken, undenkbar etwa in der angelsächsischen Welt. Der berühmte Anschluss an den Westen, das Ende des deutschen Sonderwegs, ist offenbar in entscheidenden Punkt nicht wirklich erfolgt.

Im aktuellen Streit haben die christlichen Kirchen für die Nachbarreligionen Stellung bezogen. Ich frage mich aber, ob sie rechtlich so schnell und so eindeutig entschieden hätten wie der Staat, wenn sie es denn zu entscheiden gehabt hätten. Dazu waren andere Stimmen in ihnen zu deutlich. Denn unterhalb der offiziellen Linie sieht es anders aus. Typisch für manches ist für mich eine so genannte Lehrpredigt von Rolf Wischnath (4), früher immerhin Generalsuperintendent in Berlin-Brandenburg, derzeit Lehrbeauftragter an der Uni Bielefeld. Er stellt zunächst das Problem dar. Er weist dabei auf 1. Mose 17 als Grundlage hin und damit auf die Bedeutung der Beschneidung als Zeichen für den Bund mit Gott im Judentum und er kennt auch die Verletzung der jüdischen Gemeinschaft, die diese Debatte bewirkt hat. Er kommt dann zu den menschenund kinderrechtlichen Einwänden und spricht von den Traumatisierungen der Kinder. Sein Ergebnis lautet schließlich: „Ich akzeptiere mit erheblichen Bedenken die religiöse Praxis der beiden Schwesterreligionen Judentum und Islam.“ Er ersucht aber bei ihnen um Respekt dafür, „dass das Christentum eine Forderung der Beschneidung nicht erhebt, ja sie im Anschluss an den Apostel Paulus ausdrücklich ablehnt“. Eigentlich also, und darauf kommt es mir hier an, müsste das Christliche gelten, und zwar allein gelten, es ist das Humanere und das Richtige. Nur mit großen Bedenken und letztlich aus political correctness heraus kann anderes, muss anderes zugestanden werden. Dass auch in unserer christlichen Bibel 1. Mose 17 steht, und damit die Beschneidung als Bundeszeichen für Israel, zählt theologisch nicht. Und das Neue Testament wird von einer nachbiblischen, und das heißt rein heidenchristlichen Praxis aus gelesen. Denn dass Paulus immerhin selbst Beschneidungen veranlasst hat, z. B. an Timotheus (Apostelgeschichte 16,3), und dass Paulus gerade im Galaterbrief zwar darum kämpft, dass zum Gott Israels gekommene Männer aus den Völkern nicht beschnitten werden müssen und also nicht in das Volk Israel integriert werden, aber gerade dabei und gerade in diesem Brief immer voraussetzt, dass auch messiasgläubige Juden natürlich beschnitten sind und werden. Diese Predigt, abgedruckt in einer verbreiteten wöchentlichen Kirchenzeitung, ist ein kleines Beispiel für eine in unse-ren Kirchen, wenn ich recht sehe, immer noch verbreitete, wenn nicht dominante Haltung.

Was für mich an der Beschneidungsdebatte besonders interessant ist und sich auch in solchen Voten zeigt, ist die Tatsache, dass die dabei benutzte Argumentationsstruktur, die ein Verbot begründen will, dieselbe ist, die dem christlichen Antijudaismus seit seinem Entstehen im 2. Jahrhundert zugrunde liegt. Stets sind es universale Normen und Werte, die jede Sonderstellung des Judentums aufzuheben scheinen. Wer sich dem, was für alle gilt, nicht anschließt, hat kein (Lebens-)Recht. Wenn der neue Bund allen Menschen gilt, ist der alte aufgehoben; wenn Christus für alle gestorben ist, hat das Judentum das gefälligst zu glauben oder es wird zum Gottesfeind.

Heute kommt dieser Anspruch in kirchlichen Dokumenten etwas sanfter daher. Man lebt in einem Rechtstaat und hat etwas gelernt. Sieht man aber genauer hin, bleibt es dabei: letztlich ist allein der christliche Glaube wahr und richtig. Das wird als notwendiger Teil christlicher Identität mehr vorausgesetzt als entfaltet. Deswegen hat man die drei EKD-Denkschriften zum Verhältnis von Christen und Juden praktisch zunächst in der Religionsdenkschrift (2003) zurückgenommen: „Die Erfahrung der heilsamen Zuwendung Gottes (macht) nur der an Jesus Christus Glaubende“ – als wenn es z. B. die Psalmen und ihre Gotteserfahrung nicht gäbe und wir unsere immer noch nirgends so wie in ihnen formuliert finden. Und in der Formulierung des Gegenübers zum Islam bleibt es dabei: Wir sind „durch Christus zu wahrer Menschlichkeit befreit“ (5). Unsere, die christliche Haltung also, ist wahrhaft menschlich – gibt es bei den anderen keine wahre Menschlichkeit?

Nun haben die Kirchen den Bund Gottes mit dem jüdischen Volk als gültig anerkannt (und damit doch wohl auch das damit verbundene Bundeszeichen der Beschneidung) und die Erwählung des jüdischen Volkes wird nicht länger als zurückgenommen betrachtet. Die schöne Formulierung der Hessischen Kirche sagt dazu (1991): „Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein.“ Damit ist der christliche Universalismus an einer, an der entscheidenden Stelle durchbrochen. Das ist, wie uns allen wohl immer klarer wird, ein Bruch, ein nach der Schoa notwendig gewordener Bruch mit der dominanten christlichen Theologie seit dem 2. Jahrhundert.

Das Judentum jedenfalls und schon das Alte Testament sind durch eine unaufhebbare Spannung zwischen einem nationalen und einem universalen Zug geprägt. Micha Brumlik hat es so ausgedrückt: „Im Judentum … existierte seit jeher und niemals endend eine dialektische Spannung zweier Pole: Einem Impetus ethnischer Selbstbehauptung angesichts extremster Gefährdung stand immer der universalistische Schrei nach allseitiger Gerechtigkeit entgegen; eine Spannung, die mit der Konstruktion des einen Gottes aller Menschen, der sich dieses eine, partikulare Volk zum Dienst erkoren hat, unauflöslich gesetzt ist“ (FR 8./9. 9. 2012). Das Christentum hat sich nachbiblisch allein universal verstanden und im Besitz der Wahrheit für alle Menschen geglaubt. In dem Augenblick aber, wo die universale Seite allein ins Zentrum trat, wurde es unausweichlich antijüdisch, denn Israel musste sich in seiner großen Mehrheit weigern, seinen spezifischen Bund und seine Beauftragung aufzugeben. Das Christentum wurde damit zugleich inhuman, denn es konnte auch andere Abweichungen und Gestalten von „Unglauben“ nicht tolerieren. Diese problematische Gestalt von Universalismus hängt mit der Abwendung vom Alten Testament und mit einer negativen Bewertung des Judentums unlöslich zusammen. Die Anerkennung des Judentums und die damit notwendig verbundene Aufwertung des Alten Testamentes seine Wiederentdeckung und Wiedereinsetzung als den Wahrheitsraum, der bleibend gilt und in dem allein dann auch das spezifisch Christliche, der Glaube an Jesus als den Messias, seinen Ausdruck finden kann, diese Anerkennung ist zugleich die Chance, ja theologisch die notwendige Voraussetzung, dass das Christentum eine wirklich tolerante Religion werden kann.

Gibt es ein solches Nebeneinander von universaler und partikularer Wahrheit auch im Neuen Testament? Ich denke ja, wir nehmen es nur oft nicht wahr. Das vielleicht wichtigste Beispiel ist der Römerbrief. Paulus geht hier in den ersten Kapiteln bekanntlich von der Universalität der Sünde aus, die die ganze Welt und alle Menschen in ihren Klauen hält. Und setzt ihr dann das befreiende Handeln Gottes im Messias Jesus gegenüber. Das ist Gottes Gerechtigkeit, und nur seine Geistkraft kann zur Gerechtigkeit befreien. Das der christlichen Dogmatik zugrundeliegende Muster von Sünde und Rettung hat hier seine biblische Grundlage. Alle Menschen sind Sünder, alle Menschen bedürfen der Rettung – und dann kommt trotzdem, muss kommen Römer 9–11. Und da findet sich zu Beginn in 9,4 die Aufzählung all dessen, was Israel bleibend ausmacht: Gottessohnschaft, Gegenwart Gottes, Bundesschlüsse, Tora, Gottesdienste (einschließlich ihrer Sühnewirkung), Verheißungen. Und am Ende heißt es: „Ganz Israel wird gerettet“ (11,26) – ohne an diesen Messias zu glauben. Erst beides zusammen, das Universale und seine Durchbrechung im partikularen Israelbezug Gottes macht das aus, was im Römerbrief als Glaube an Jesus Christus beschrieben wird. Der Glaube an Jesus Christus schließt dieses Partikulare ein.

Besteht die Wahrheit also nicht nur im Universalen, sondern biblisch gesehen im Nebeneinander von Universalem und dem bleibend Partikularem, dann hat das Folgen, um die es jetzt gehen soll. Dass die Anerkennung des Judentums für christlichen Glauben und christliche Theologie weitreichende Folgen im Blick auf die Wahrnehmung und Bewertung von anderen Religionen und Kulturen hat und damit für die wahre Toleranz im Sinne einer grundsätzlichen Anerkennung, sollte endlich stärker in den Blick genommen werden. Das ergibt sich nicht zuletzt aus der veränderten Rolle des Alten Testaments und an der damit verbundenen veränderten Wahrnehmung des Neuen Testaments. Es geht um die Entdeckung eben dieses Nebeneinanders von der besonderen partikularen Geschichte Israels mit Gott und einem schöpfungsoffenen universalen Blick auf die anderen Völker und Religionen.

Es geht mir mit dem Folgenden darum, Mut zu machen, die weitreichenden, die weit über das Verhältnis zum Judentum hinausgehenden bedeutenden Folgen eben dieses Verhältnisses stark zu machen. Erst und nur so wird der christlich-jüdische Dialog nicht ein Sondergebiet bleiben, bei dem es für viele Menschen in der Kirche um die Beziehung zu einer von vielen Minderheiten geht und damit angesichts drängender aktueller Probleme eher um eine Randfrage, sondern dass er wieder der Motor für notwendige und vor allem für biblisch orientierte Veränderungen von Kirche und Theologie wird.

Gott und die nachparadiesische Menschheit – Beispiele

Es gibt eine erstaunlich große Zahl von Texten mit gewichtigen Aussagen über Gottes Beziehung zu allen Menschen auch und gerade außerhalb Israels und unabhängig von jedem „Glauben“. Natürlich hat Israel ein solches Menschenbild aus den eigenen Erfahrungen mit dem Gott Israels gewonnen. Umso wichtiger ist es aber, dass aus diesem Glauben eben solche Aussagen notwendig folgen.

Die Menschen als bleibendes Bild Gottes
Im Christlichen findet sich bis in jüngste Äußerungen der EKD immer noch der Gedanke, dass erst der (natürlich richtig, weil christlich) Glaubende den Menschen zu einer von Gott anerkannten Person macht. Das würde bedeuten, dass allen anderen Religionen, den Juden voran, damit im Grunde das Menschsein abgesprochen wird. Dahinter steht das augustinische und von der Reformation verschärfte negative Menschenbild, wonach die Menschen durch den „Fall“ vor jedem eigenen Tun SünderInnen sind. Sie sind „von Mutterleib an voll böser Lust und Neigung“ (CA II) und von sich aus zu Gutem nicht mehr fähig, deshalb „zu ewiger Verdammnis verurteilet“ (Gr. Katechismus, 2. Art.). Das gilt gerade auch für das Höchste, das ihnen in der Schöpfung gegeben wurde, die Gottebenbildlichkeit. Diesem Negativen wird dann die göttliche Gnade entgegengesetzt, die im Glauben ergriffen wird. Erst und nur so wird der Mensch wieder von Gott anerkannt. Dieses Menschenbild ist nicht biblisch. Denn es ist eindeutig, dass beide in Gen 1,26.28 verwendeten Begriffe (zäläm; demut) auch noch nach dem Fall in Gen 5,1.3 bzw. nach der Flut in Gen 9,6 verwendet werden. Die Menschen bleiben uneingeschränkt Bild Gottes und sind das auch als Sünderinnen und als Verbrecher, und als Ungläubige allemal.

Psalm 8,5
Allen Menschen gilt die Frage des 8. Psalms: „Was sind die Menschen, dass du an sie denkst, ein Menschen­ kind, dass du nach ihm siehst?“ Gott kümmert sich um alle, nicht nur um die, die an ihn „glauben“ oder mit ihm religiös verbunden sind.

Die Gottesfurcht der Philister
Fragt man nach der Bewertung anderer Religionen, lässt vor allem 1. Mose 20,11 etwas von den Hintergründen einer besonders in der Genesis breit belegten Sichtweise erkennen. Als Abraham Sara wieder einmal als seine Schwester ausgibt und so Sara wie den Philisterkönig wegen drohendem Ehebruch in größte Gefahr bringt, erscheint Gott dem heidnischen König im Traum und es kommt zu so etwas wie einem ausführlichen theologischethischen Disput. Als sich der König mit Vorwürfen an Abraham wendet, muss dieser zugeben: „Ich dachte, es gäbe keine Gottesfurcht an diesem Ort“ (20,11). Es gibt sie aber durchaus, jir’at elohim, „Respekt vor Gott“. Die Götzen der Philister waren in Israel gut bekannt, man denke an Dagon und seine Rolle bei der Geschichte der Lade (1Sam 5), sie sind aber hier nicht im Spiel, offenbar geht es um etwas anderes. In den Völkern, denen die Väter und Mütter und danach das entstehende Israel begegnen, mag Gottesfurcht oder umgekehrt Gewalt herrschen, sie und ihre Könige sind ethisch ansprechbar und ethisch verantwortlich – und sie sind es, ohne dass dabei deren Gottheiten oder so etwas wie Religion eine Rolle spielen. Der für Israel einzige Gott ist nicht der Gott dieser Völker, trotzdem sind sie in seiner liebevollen Hand und es gibt keine religiöse Abwertung.

Gottes Geschichte mit den Völkern (Amos 9,7) Eine der erstaunlichsten Aussagen findet sich beim Propheten Amos. Kein Zweifel, die Hauptaussagen des Amos zielen auf Israel und Juda und setzen ein besonderes Verhältnis Gottes zu seinem Volk voraus (Am 3,1f). Aber dann steht da eben auch: „Seid ihr nicht wie die Söhne und Töchter von Kusch für mich, ihr Söhne und Töchter Israels? … Habe ich nicht Israel heraufgeführt aus dem Land Ägypten, und die Philisterinnen und Philister aus Kaftor und Aram aus Kir?“ (9,7). Danach hat Gott eine eigene Geschichte mit den Äthiopiern und den Philistern genau wie mit Israel. Alle Völker sind in der Hand von Israels Gott, mit allen hat er eine Beziehung, und es ist jeweils eine Befreiungsgeschichte.

Offenbar hängt diese erstaunliche „Toleranz“ anderen Religionen gegenüber direkt am Verständnis Gottes. Der Gott, der sich Israel gezeigt und von Israel als einzige göttliche Größe erkannt worden ist, ist auf geheimnisvolle Weise auch anderen erschienen und von ihnen anders benannt worden, wie zuerst von der Ägypterin Hagar als Mutter der – eindeutig andersreligiösen – Ismaeliten erzählt wird (Gen 16). Es reizt, weitere Beispiele dieser Art anzuführen, es gibt viele zu entdecken.

Die Seligpreisungen
Und das geht weiter bis ins Neue Testament. Da sind etwa die Seligpreisungen der Bergpredigt. Das Erstaunlichste dieser Sätze liegt ja offen zu Tage, es steht quer zu so Vielem, was in Kirche und Theologie selbstverständlich geworden ist. Man denke nur an die Rolle des richtigen „Glaubens“. Nur wer gewisse Wahrheiten „glaubt“, für sich annimmt, etwa dass Jesus für uns gestorben sei, nur der habe Anteil am Heil und werde in diesem Sinne „selig“. Wie anders dagegen diese Lehre Jesu! Hier muss gar nichts geglaubt werden. Ein derartiger Begriff findet sich nicht. Glückselig werden Menschen genannt, denen es auf die eine oder andere Weise saudreckig geht, vielleicht so sehr, dass sie gar nichts mehr glauben können oder wollen. Und dann ist da von Menschen die Rede, die sich um andere kümmern, sich ihnen zuwenden. Auch hier: keine Lehre, die irgendwie für wahr gehalten werden muss.

Fazit
David Flusser hat einmal gesagt, das Christentum könne durch eine veränderte Beziehung zum Judentum endlich eine humane Religion werden. Einer der Wege, der dabei zu gehen ist, ist die Neuentdeckung der Bibel, der jüdischen zuerst und dann des Neuen Testaments. Die Neuentdeckung Israels in der christlichen Theologie kommt aus der Bibel und führt wieder zur Bibel. Wir wissen inzwischen natürlich immer besser, dass das Verständnis der jüdischen Bibel und das des gegenwärtigen, lebendigen Judentums nicht identisch sind. Beide Religionen haben eine lange und nicht rückgängig zu machende nachbiblische Geschichte miteinander, in der sie wurden, was sie sind. Aber für uns als Christ/innen nach dem Holocaust gehört die Neuentdeckung der Bibel unumgänglich dazu. Wir nehmen dabei immer deutlicher wahr, wie sehr wir Neues und Altes Testament antijüdisch gelesen haben. Doch die Neuentdeckung der Bibel im Gespräch mit dem Judentum eröffnet auch ganz neue Perspektiven auf die anderen Völker und Religionen, ein heute entschieden notwendiges Kapitel der Humanisierung des Christentums.

In der berühmten Ringparabel aus Lessings Nathan dem Weisen steht ein Wunder wirkender Ring für die einzige wahre Religion, doch ein König lässt zwei weitere ununterscheidbare Ringe herstellen und vererbt sie seinen drei Söhnen. Welches ist der echte und gibt es ihn überhaupt? Entscheiden kann das nun niemand mehr. Der Text setzt voraus, dass alle jeweils ihre eigene Religion für die einzig wahre halten. Doch Nathan bzw. der Dichter will zu einer toleranten Haltung anleiten, die jenseits des Streites steht, die Wahrheitsfrage offen hält und sich letztlich mit keiner der Religionen mehr identifiziert.

Kann der Glaube von der eigenen Wahrheit überzeugt sein und doch nicht nur äußerliches Dulden, sondern Anerkennung der anderen als zu sich gehörig wissen? Wenn der christliche Glaube, um von der eigenen Wahrheit überzeugt zu sein, die des Judentums voraussetzen und immer neu bestätigen muss, wenn also der Glaube an Jesus Christus das Bekenntnis zum ungekündigten Bund Gottes mit Israel wirklich einschließt, ist die Lage verändert. Was ist dann mit dem dritten Ring? Kann er dann ohne Wahrheit, ohne Gott sein? Das mindeste, was sich ergibt, ist eine große Gelassenheit, Offenheit und Freundlichkeit – denn Gott ist auch dort.

1 Vortrag auf der Jahrestagung der Synodalbeauftragten der Rheinischen Kirche für den christlich-jüdischen Dialog, Bonn 2. 2. 2013.
2 Brief vom 12. 6. 1541. Vgl. T. M. Schröder, Brücken, um sich aufeinanderzu zu bewegen. Toleranz – Stationen eines schwierigen Begriffs, ZGP 31, 2013, 2–4.
3 Maximen und Reflexionen Nr. 151.
4 Evangelische Zeitung für Westfalen und Lippe Nr. 43, 21. Okt. 2012, 21.
5 Klarheit und gute Nachbarschaft, EKD-Texte 86, (2006), 15.
6 Thesen zur Entstehung des Christentums aus dem Judentum, KuI 1, 1986, 69.

aus: Junge.Kirche 2/2013

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