Frieden im Judentum
von Daniel Neumann

Wenn heutzutage über Religionen diskutiert wird, so dauert es oft nicht lange, bis der Vorwurf im Raum steht, dass vor allem der Islam und das Christentum in den vergangenen Jahrhunderten unendliches Leid über die Menschen in aller Welt und vor allem in Europa gebracht haben.

Als Jude steht man solchen Vorwürfen immer etwas irritiert und hilflos gegenüber, da auf der einen Seite das Judentum selbst seit jeher im Mittelpunkt antireligiöser und antijüdischer Angriffe stand und andererseits der Vergleich mit solchen Religionen, die einen missionarischen und allumfassenden Wahrheitsanspruch behaupten und diesen auch mit allen Mitteln durchsetzen wollen, dann hinkt, wenn er auf das Judentum abzielt.

Soweit es uns Juden betrifft, so dürfte der eingangs erwähnte Vorwurf nur schwerlich aufrecht zu erhalten sein. Zwar wird man auch in der Tora Passagen über Eroberungszüge und Kampfhandlungen finden, doch erstens werden diese an keiner Stelle zu dauernden Prinzipien erhoben, die als Mittel der Verbreitung der Religion erlaubt sind und zweitens endeten die dort beschriebenen, historischen Konflikte bereits vor gut 3000 Jahren.

Stattdessen wartet das Judentum mit einer revolutionären Idee auf, die es von Anbeginn an propagierte und die ihren Niederschlag in zahllosen Beispielen durch die Jahrtausende hindurch fand: Das Konzept des Friedens.

Nur nebenbei: Falls Sie jetzt denken, dass dieser Grundgedanke ja auch in den anderen - vor allem monotheistischen - Weltreligionen zu finden sei, dann ist das nicht verwunderlich, weil diese ihn natürlich aus dem Judentum übernommen haben. Ganz so reibungslos ist diese Adaption allerdings nicht gelungen, da in den später gestifteten Religionen historisch gesehen ein massives Spannungsverhältnis, um nicht zu sagen, ein heftiger Widerspruch zwischen der Verfolgung des Friedensideals und der Durchsetzung des jeweiligen Herrschaftsanspruchs existierte.  Stattdessen mündete der unbedingte Missionseifer oft in der gewalttätigen Verbreitung der Religionen.

Und leider geschieht dies mitunter auch heute noch. Mal mehr, mal weniger.

Im Judentum jedenfalls, gilt der Frieden als die höchste Aspiration und eine stets gewünschte aber oft unerfüllte Sehnsucht. So lehren unsere Weisen in einem Midrasch, dass der Frieden der entscheidende Zweck und das höchste Ziel der ganzen Tora sei. Und in einem anderen Midrasch heißt es, dass die Verpflichtung, dem Frieden nachzujagen viel höher sei, als rituelle Pflichterfüllung, da alle anderen Segen darin enthalten seien. Und während viele Gebote in der Tora unter dem Vorbehalt des Eintretens oder Vorliegens konkreter Bedingungen formuliert seien, gelte ausschließlich für den Imperativ des Friedens, dass man ihn stets suchen und ihm nachjagen müsse.

Dabei bedeutet das biblische Konzept des Friedens viel mehr, als die allgemein üblichen Umschreibungen des Begriffs vermuten lassen, also mehr als nur die Abwesenheit von Krieg oder von gewaltsamer staatlicher Kontrolle, die bis in den eigenen, privaten Lebensraum vordringt. Es ist mehr, als das Ausbleiben direkter oder indirekter Gewalt.

Stattdessen ist damit ein ganzheitlicher, einheitlicher und positiver Zustand gemeint.

Ein Zustand der Ruhe und Sicherheit, des Wohlstands und ein allgemeines Gefühl von physischem und spirituellem Wohlergehen.

Ausgedrückt wird diese Idee immer dann, wenn eine weltbekannte hebräische Grußformel benutzt wird: „Shalom“.

Shalom, das bedeutet Frieden, Ganzheit, Einheit, Perfektion.

Es ist der höchste zu erstrebende Zustand für sich selbst und die Allgemeinheit.

Es ist die Vision, die die Propheten Micha und Jesaja uns hinterließen und die gleichzeitig zu einem einzigartigen, universellen und zeitlosen Traum avancierte. Eine Vision, die die zukünftige Welt zeichnet, die einen Blick in die messianische Zeit erlaubt, die Wunsch, Hoffnung und Sehnsucht bündelt und ihr in kraftvoller Sprache Ausdruck verleiht: „Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Lanzen zu Winzermessern machen. Kein Volk wird gegen das andere das Schwert erheben und sie werden fortan nicht mehr lernen, Krieg zu führen“.

Frieden ist also nicht nur eine Vision für die Zukunft, ein endzeitlicher Traum, sondern auch ein maßgeblicher Wert im Hier und Jetzt. Er ist nicht nur partikular und auf das Wohlergehen des Einzelnen bezogen, sondern schafft ein universelles Ideal.

Dieses Ideal ist nach jüdischem Verständnis allerdings nicht durch Tatenlosigkeit und Passivität, den Rückzug aus dem öffentlich Raum und anderen konfliktgeladenen Bereichen oder lediglich durch die Vermeidung von Konfrontationen zu erreichen.
Frieden ist kein sich selbst verwirklichender Zustand.
Ganz im Gegenteil. Nach jüdischem Verständnis muss dem Frieden durch geeignete Handlungen und Taten der Weg geebnet werden. Wie auch in anderen Bereichen des Judentums reicht die bloße romantische Vorstellung einer sich in ferner Zukunft zu erfüllenden Prophezeiung bei weitem nicht aus. Vielmehr liegt es in der Hand eines jedes Einzelnen, an der Verwirklichung dieser Idee, dieser Vision mitzuarbeiten. Frieden muss deshalb gesucht, erarbeitet und manchmal auch erkämpft werden. Gerade deswegen wird auch der Pazifismus, der möglicherweise für manch andere Religion und gesellschaftliche Gruppe ein erstrebenswertes Modell sein mag, überwiegend kritisch betrachtet.

Denn einerseits hat das Judentum zwar die Prinzipien der Heiligkeit des Lebens und das Verbot des Mordens etabliert. Andererseits bedeutet das aber nicht, dass es nicht auch Zeiten und Situationen gibt, in denen Frieden und Freiheit erkämpft werden müssen.

Ein Widerspruch ist dies keineswegs, da das 6. der 10 Gebote, also das Mordverbot, eben den Mord, also das vorsätzliche und ungerechtfertigte Töten eines Unschuldigen meint, aber keineswegs ein generelles Tötungsverbot ausspricht, wie dies von Pazifisten gerne behauptet wird.
Das hebräische Original beinhaltet also die gleiche wesentliche Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen des Tötens, wie sie auch das Deutsche oder das Englische kennt.

Und auch das Prinzip der Heiligkeit des Lebens kann nicht in allen denkbaren Situationen als absoluter und unantastbarer Wert ins Feld geführt werden. Stattdessen wissen gerade wir Juden, dass es Konstellationen gibt, in denen die Moral dem Absolutheitsanspruch des Lebens nicht untergeordnet werden darf;  wissen wir, dass es manchmal notwendig ist, das Richtige zu tun, auch wenn das bedeutet, das Böse bis zur letzten Konsequenz zu bekämpfen. Keiner der sich die unbegreiflichen Schrecken der Naziherrschaft ins Bewusstsein ruft, könnte die leider allesamt gescheiterten Bemühungen der verschiedenen Attentäter, die versucht haben, Hitler zu töten, als unmoralisch abtun oder sie mit dem Verweis auf die Heiligkeit des Lebens verurteilen.
Bei der Frage, ob der SS-Mann, der gerade jüdische Kinder abschlachtet, den gleichen Schutz verdient, wie eines der jüdischen Kinder und deshalb nicht mit Gewalt an seinen Schandtaten gehindert werden darf, wissen wir ohne Zweifel, dass es richtig ist, das Böse zu bekämpfen, um Menschenleben zu retten und den Frieden zu sichern.
Gerade Juden werden niemals vergessen, dass es nicht den Pazifisten dieser Welt zu verdanken war, dass das Jüdische Volk wenn auch massiv geschwächt und um sechs Millionen Leben beraubt, schlussendlich doch der existenziellen Bedrohung durch die Nazis entkommen ist.
Gerade wir Juden wissen, dass Auschwitz nicht durch friedliche Demonstrationen, Lichterketten oder bloße Appelle befreit worden ist.
Deshalb war die Rettung des europäischen Judentums mit militärischer Macht in der langen und leidvollen jüdischen Geschichte nur einmal mehr der Beweis, dass der Pazifismus als Ideal zwar einen gewissen Reiz ausübt, wir seine Anwendung in der Praxis aber doch lieber bis zum messianischen Zeitalter aufschieben.
Das heißt nun wiederum nicht, dass die Entscheidung, wann und wie welche Maßnahme zur Bekämpfung des Bösen und zur Sicherung des Friedens ergriffen werden müssen, leicht zu fällen  ist. Sie ist nur selten offensichtlich und für jeden ohne weiteres nachvollziehbar. Stattdessen ist die Realität oft komplex und der zugrundeliegende Sachverhalt meist unklar. Und doch müssen solche Entscheidungen manchmal getroffen werden, was auch der große Religionsphilosoph Martin Buber erkannte, der gesagt hat: „Es gilt, in der Wirklichkeit, in der wir leben, die Demarkationslinie, die Grenzlinie zu finden, zwischen dem notwendigen Bösen, das wir tun müssen, um am Leben zu bleiben, und dem möglichst Guten, damit unser Leben lebenswert ist.“.

Während es also gilt, das Gute zu schaffen und den Frieden zu sichern, ist das Mittel des Kampfes als ultima ratio erlaubt, wenn auch durch zahlreiche Vorschriften und Gesetze eingeschränkt. Gleichzeitig ist es Konsens, dass die Anwendung dieser Mittel zum Schutz von Leib und Leben, zur Verteidigung Schutzbedürftiger und zur Verwirklichung des uralten jüdischen Traums notwendig sein können.  
Und so hoffen und beten wir jeden Tag, dass die Vision des Jesaja einst Wirklichkeit werden möge.  Sei es am Ende des drei mal täglich gesprochenen zentralen Amida-Gebets, sei es am Schluss des Priestersegens, mit wir unsere Kinder segnen oder sei es in den letzten Worten des Birkat Hamazon, des Tischdankgebets: Sie alle enden mit der Aussicht auf Verwirklichung unseres innigsten Wunsches, unseres intensivsten Traumes, unserer stärksten Sehnsucht:
Der Aussicht auf Frieden.

Der Autor ist Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen K.d.ö.R.

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