Heiliger Streit
von Gil Yaron

Sie gilt als wichtigste Touristenattraktion Israels: Rund zehn Millionen Menschen besuchen jährlich die Klagemauer in Jerusalem. Doch das über 2000 Jahre alte Bauwerk des biblischen König Herodes, das einst dazu diente, den Vorhof des zweiten Tempels zu erweitern, ist weitaus mehr als nur eine Sehenswürdigkeit, die von Touristen voller Ehrfurcht abgelichtet wird. Selbst für Nicht-Juden hat die Mauer, deren Steine schon von Jesus bewundert worden sein dürften, eine besondere Bedeutung, ließ schließlich auch US-Präsident Barack Obama es sich nicht entgehen, einem alten jüdischen Brauch folgend, einen Zettel mit einem frommen Wunsch zwischen die fingergroßen Ritzen der mannshohen Kalksteine zu stecken. Hier soll Gott besonders aufmerksam zuhören und die Wünsche auf den sorgfältig gefalteten Papierschnitzeln mit hoher Priorität erfüllen. Doch die besondere Bedeutung der gewaltigen Konstruktion weckt gleichzeitig den Wunsch, den Zugang zu ihr zu kontrollieren. Die Klagemauer ist neuerdings Anlass für einen Streit, der nicht nur die neue Regierung Benjamin Netanjahus, sondern auch die für Israel wichtigen Beziehungen zur jüdischen Diaspora bedroht.

Am Anfang jedes hebräischen Monats wird der riesige Vorhof vor der altehrwürdigen Stützmauer zur Arena des eskalierenden Kulturkampfs zwischen progressiven und orthodoxen Juden. Vergangene Woche empfingen hier tausende junge Tora-Schüler die Mitglieder einer Organisation religiöser Frauen mit hasserfüllten Blicken: Mit Trillerpfeifen wollten sie das Gebet der Damen verhindern. Sie warfen Windeln, volle Mülltüten und Wasserflaschen, oder bespuckten Frauen und Polizisten, die sie schützten. Acht Personen wurden verhaftet. Anlass für die Konfrontation: Nach jahrzehntelangem Kampf war es den Frauen der Klagemauer (women of the wall - WOW) endlich gestattet worden, genau wie Männer zu beten.

Der Streit, wie man an der Klagemauer beten darf, bedroht inzwischen Benjamin Netanjahus Regierung. Bislang hatten Vertreter der ultraorthodoxen Juden, die sich selbst Haredim – die Gottesfürchtigen – nennen, als unerlässliche Koalitionspartner in religiösen Fragen das Sagen. Ihre Macht nutzten sie, um jede Modernisierung zu verhindern. Deswegen sind in Israel Zivilehen unmöglich, fahren am Sabbat keine Busse, müssen Hotels sich an die Jahrtausende alten Regeln der Kaschrut halten. Die Haredim erwirkten zudem vor Jahren den Erlass des Gesetzes zum Schutz heiliger Stätten. Das untersagt nicht nur das „Hausieren, das Schlachten von Tieren, rauchen, trinken und essen” vor Ort, sondern auch, „religiöse Zeremonien in Abweichung von etablierten Bräuchen oder in unangemessener Kleidung” abzuhalten. Im Detail bedeutete das bisher, dass Frauen an der Klagemauer nicht das tun durften, was traditionell Männern vorbehalten war: keine Gebetsschals über die Schulter werfen, sondern nur bunte Tücher um den Hals tragen; nicht laut das Totengebet aufsagen, sondern nur Psalmen zitieren; und nicht aus der Thora vorlesen. Vergehen wurden mit bis zu sechs Monaten Haft oder 100 Euro Buße geahndet.

Mehrere Entwicklungen bedrohen nun das Primat der Haredim. Zuletzt wuchsen die Spannungen mit der jüdischen Diaspora. Während Teile Israels immer strenger orthodox werden, gehört die Mehrheit der Juden in den USA „progressiven” Gemeinden an. Im Gegensatz zu den Haredim herrscht hier Geschlechtergleichheit, auch Frauen werden als Rabbiner ordiniert. Die Kluft zwischen beiden Gesellschaften wächst. In den USA betrachtete man mit wachsender Befremdung, wie in den vergangenen Monaten mehr als 40 überwiegend amerikanische Aktivistinnen von der israelischen Polizei verhaftet wurden, weil sie mit Gebetsschal zur Klagemauer kamen. Für Israel ist das mehr als ein religiöses Problem: Gute Beziehungen zu den US-Juden sind lebenswichtig. Sie stellen nicht nur 18% aller Touristen, sondern üben politischen Einfluss in Washington aus und spenden jährlich rund 2 Milliarden US $ an wohltätige Organisationen in Israel.

Auch im Inland eskaliert der Konflikt zwischen Säkularen und Haredim. Dieser Streit trug im Januar zum Wahlerfolg säkularer, antireligiöser Parteien bei, die erstmals eine Koalition ohne ultra-religiöse Parteien ermöglichten. Die will die Haredim jetzt zurückdrängen. Ein erster Schritt war ein Gerichtsurteil Ende April, das das Gesetz neu interpretiert. Statt die orthodoxe Auslegung der Tradition zu akzeptieren, legte Richter Moshe Sobell fest, dass „das Tragen eines Gebetsschals nicht als Vorwand dienen” könne, um Frauen zu verhaften. Sobell berief sich auf ein Urteil des Obersten Gerichtshofes, das schon 1994 festlegte, dass „Traditionen sich verändern”. Daher solle „ein pluralistischer Ausdruck von Bräuchen gestattet und eine tolerante Haltung gegenüber verschiedenen Überzeugungen eingenommen” werden. Damit harmoniert der Richter mit der öffentlichen Meinung: Laut einer neuen Umfrage unterstützen 48% der Israelis das Recht der Frauen, so zu beten wie sie wollen. Nur 38% sind dagegen.

Der Minister für religiöse Angelegenheiten Naftali Bennett versprach seinen religiösen Wählern nun, dagegenzuhalten und neue Statuten zu erlassen. Wenn WOW sich nicht auf einen Kompromiss einlasse, werde er als verantwortlicher Minister einfach den orthodoxen Brauch zur offiziellen Messlatte erklären. Doch Bennett machte seine Rechnung ohne Justizministerin Zipi Livni. Die erklärte umgehend in einem veröffentlichten Brief, sie werde Bennetts Statuten nicht unterschreiben – eine notwendige Prozedur, um diese rechtsgültig zu machen: „Ich glaube, die Zeit ist von einem legalen und sozio-kulturellen Punkt her reif, um tolerante und pluralistische Richtlinien an der Klagemauer umzusetzen”, schrieb Livni. Je mehr der Kampf um den Gebetsritus an der Klagemauer so zum Stellvertreterkrieg um den zivilen und religiösen Charakter Israels wird, desto ferner scheint ein Kompromiss in dieser Frage möglich.

 

Die 40 Meter hohe, 4,7 Meter tiefe und 57 Meter lange Klagemauer ist mit mehr als 10 Millionen Besuchern Israels beliebteste Touristenattraktion. Sie ist der einzig frei sichtbare Teil der 488 Meter langen westlichen Stützmauer, die König Herodes errichten ließ, um den Vorhof des zweiten Tempels zu erweitern. Für Juden gilt sie seither als heiligste Stätte auf Erden, weil sie dem „Allerheiligsten” des vor 2000 Jahren zerstörten Tempels, in dem die Bundeslade aufbewahrt wurde, am nächsten ist. Sieben Reihen massiver herodianischer Steine sind heute sichtbar, 17 weitere Reihen befinden sich unter der Erde. Die Frauensektion (rechts) ist 12 Meter lang, Männern stehen 48 Meter zum Beten zur Verfügung.

Illustrierte Neue Welt, Wien, Ausgabe 2/2013

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