Martin Heidegger
von Klaus-Peter Lehmann

Allgemeines
Der Philosoph Martin Heidegger (1889-1976) gilt wegen seines Werkes Sein und Zeit (1925) weithin als ein Denker, der das 20. Jahrhundert entscheidend geprägt hat. Er habe mit seinem fundamentalontologischen Neuansatz die Bewusstseinsphilosophie überwunden. Bis heute heiß umstritten ist seine aktive Mitarbeit in der NSDAP und sein Schweigen dazu nach dem Krieg. War es eine kurzzeitige Verirrung, die sich auf die Zeit um seine Freiburger Rektoratsrede (27.5.1933) beschränkte und sein philosophisches Denken nicht berührt?
Seit Ende der 80er Jahre sind mehrere Publikationen erschienen, die einen engen Zusammenhang zwischen Philosophie und Politik bei Heidegger aufzeigen.  (1)

Schwieriger erscheint die Frage, ob Heidegger Antisemit war. Die vielen jüdischen Heidegger-Schüler wie H. Arendt, G. Anders, H. Jonas, K. Löwith, H. Marcuse lassen das wenig plausibel erscheinen. Zudem scheint ein rassischer Antisemitismus in seine dezisionistische Philosophie nicht zu passen. Heideggers philosophische Veröffentlichungen sind „judenfrei“. Allerdings wendete er sich in Briefen, Gutachten und besonders den Vorlesungen 1933/34 oft schroff gegen die Verjudung der deutschen Kultur. Auch bleibt die Frage, ob es Nationalsozialismus ohne Antisemitismus geben kann. Und ob es einen inneren Zusammenhang zwischen Heideggers Schicksalsphilosophie  (2)  und NS-Antisemitismus gibt. 

Kult um Leo Schlageter - Heroenkult
Leo Schlageter (1894-1923) gehörte zu den Freikorps, die nach dem Ersten Weltkrieg die französischen Besatzungstruppen im Rheinland attackierten. Er wurde bei einem Anschlag auf eine Bahnlinie festgenommen, verurteilt und am 26.5.1923 in Düsseldorf standrechtlich erschossen. Der Kult um Schlageter gehörte zur Propaganda der äußersten Rechten, besonders bei NS-Studenten. Die NS-Regierung erhob ihn neben Horst Wessel zum ersten nationalsozialistischen deutschen  Soldaten. Die Rede zu Ehren des NS-Heroen hielt am 16.5.1933 in Freiburg Martin Heidegger. Ihr kommt nach Farias „systematische Bedeutung zu“, weil NS-Rhetorik und Philosophie  hier ineinander übergehen. Schlageter, so Heidegger, habe in der Wehrlosigkeit seines Todes im Schwersten noch das Größte vollbracht. Dem entspreche in Sein und Zeit die entschlossene Konfrontation mit dem Tod als der eigentlichen Daseinsmöglichkeit, weil der Tod die eigenste, unbezügliche und unüberholbare Möglichkeit des Seinkönnens darstellt. Politischer Heroenkult und philosophischer Primat des Todes entsprechen einander.  (3)  

Von Hitler verzaubert - Todeskult
Heideggers Rede anlässlich der Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg liest sich wie eine Weihe für gewaltvolle Kräfte, die in einer Schicksalsstunde zur Macht drängen, aber der Klarheit bedürfen durch ihre Verwurzelung im Wesen der deutschen Universität. Dieses Wesen kommt erst zu Klarheit, Rang und Macht, wenn die Führer selbst Geführte sind. Heidegger erhebt den Anspruch diesen Wissensdienst der Universität als gleichursprünglich neben den Arbeits- und Wehrdienst zu stellen. Eine 1933 in Freiburg verkaufte Ansichtspostkarte zeigt den neuen Universitätsrektor an der Spitze der Freiburger SA, den Heideggerschen Wissensdienst als Vortrupp der NS-Bewegung.

Heidegger beruft sich auf die Befehlskraft der neuen deutschen Wirklichkeit, die in seiner Philosophie enthüllt werde, sich artikuliere. Der geschichtliche Augenblick für das eigentliche Sein, das Sein zum Tode, war für ihn 1933 gekommen. Entsprechend der Todeszentriertheit seiner Philosophie handelt es sich dabei um eine Kultur des reinen Heroismus, in der die Todgeweihtheit des menschlichen Lebens als Schicksal nicht nur standhaft übernommen wird, sondern der Todeskult den Alltag imprägniert. Hitler war für Heidegger die Verkörperung dieses deutschen Schicksals. Er war Hitler verfallen. Auf Jaspers Frage, wie ein so ungebildeter Mann Deutschland regieren könne, antwortete er: Bildung ist ganz gleichgültig… sehen Sie nur seine Hände an.  (4) 

Gegen die Verjudung der deutschen Kultur
Mit seiner Frau Elfriede traf sich Heidegger in der Überzeugung, dass am Geschick der deutschen Rasse alles gelegen und die Verjudung, die Verseuchung deutscher Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft der Ursprung der deutschen Misere sei. Karl Jaspers Bindung an die Frau, seine jüdische Frau betrachtete er als eine Abirrung des urdeutschen Instinktes ins Menschheitliche.  (5) 

Ein Brief an den Oberregierungsrat Schwoerer belegt, dass Heideggers antisemitische Einstellung älter als die Machtübergabe an Hitler ist. In ihm beklagt er sich über die wachsende Verjudung im weiteren und engeren Sinne. Deshalb gelte es unserem deutschen Geistesleben wieder echte bodenständige Kräfte und Erzieher zuzuführen, wie er für die Gewährung eines Stipendiums an Eduard Baumgarten anführt.  (6) 

Im weiteren Sinne geht es Heidegger beim Kampf gegen die Verjudung des deutschen Geisteslebens  (7)  um Liberalismus, Demokratie und Bewusstseinsphilosophie, insbesondere den Neukantianismus des jüdischen Religionsphilosophen Hermann Cohen. So entnehmen wir es seinem Gutachten über den jüdischen Gelehrten Richard Hönigswald: Hönigswald kommt aus der Schule des Neukantianismus… Das Wesen des Menschen wurde da aufgelöst in ein freischwebendendes Bewusstsein… Auf diesem Wege wurde der Blick abgelenkt vom Menschen in seiner geschichtlichen Verwurzelung und in seiner volkhaften Überlieferung seiner Herkunft aus Boden und Blut... Ich muss auch heute noch die Berufung dieses Mannes an die Universität München als einen Skandal bezeichnen… Heil Hitler. Ihr ergebener Heidegger.  (8) 

Philosophischer Antisemitismus
In Sein und Zeit rangiert als Grundbestimmung des Daseins (= Mensch) das In-der-Welt-sein. Heidegger fragt suggestiv: Hat das In-der-Welt-sein eine höhere Instanz seines Seinkönnens als seinen Tod?  (9)  Der Tod als oberste Instanz und als ein Können ist wie das Tor zu grenzenloser Unmoral. Außerdem zeigt dieser Satz, dass Heidegger keine individualistische Handlungslehre entwickelt, sondern die Grundlagen für individuelles Entscheiden  demontiert. Seine Philosophie läuft deshalb auf Kategorien existentieller Geworfenheit wie Schicksal, Geschick, Volk, Boden hinaus. (10)

So wird das eigene Volk zum Ort des Geschickes, wo der Einzelne im Modus des Schicksals existieren kann, frei für seinen Tod in ihm zerschellend.  (11)  Der Sitz im Leben von Heideggers Philosophie ist das deutsche Volk. Für Heidegger ist jede Philosophie die Philosophie eines Volkes… Nietzsche die Philosophie des deutschen Volkes. (12)  Sein eigenes Denken verhandelt nicht das Schicksal im Allgemeinen, sondern das deutsche Schicksal.

Heideggers Philosophie zerstört mit der Personalität die Ansprechbarkeit auf Mitmenschlichkeit und Gebote einer sozialen Lebensführung. Damit nimmt er das zentrale Anliegen jüdischen Denkens, das der Begründer des Neukantianismus H. Cohen neu ans Licht hob, ins Visier. Philosophischer Vernichtungsantisemitismus?

Endlösung und Wiederkehr
Der Bolschewismus ist ursprünglich westlich, europäische Möglichkeit… sofern aber Vernunftherrschaft die Folge des Christentums ist und dieses im Grund jüdischen Ursprungs (vgl. Nietzches Gedanken zum Sklavenaufstand der Moral), ist der Bolschewismus in der Tat jüdisch, aber dann ist auch das Christentum im Grunde bolschewistisch! Und welche Entscheidungen werden von hier aus notwendig?  (13) 

Das ist ein nach dem Krieg überarbeiteter Beitrag zur Philosophie. Noch immer sieht Heidegger im Bolschewismus, in der moralischen Vernunft, also in Demokratie und Gleichberechtigung, und im Christentum jüdische Phänomene, die vor große Entscheidungen stellen, noch immer vor die deutschen Schicksalsfragen, wie die Nationalsozialisten sie sahen. „Heidegger will die Wiederkehr der nationalsozialistischen Bewegung vorbereiten, in anderer Gestalt“.  (14)

    1. E. Faye, Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie, 2009; V. Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus, 1989; R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland, 1994; G. Anders, Über Heidegger, 2001
    2. Bei Heidegger besteht zwischen Dezisionismus (Entscheidungsphilosophie) und Schicksalsphilosophie kein Widerspruch, weil bei ihm alles auf die Entscheidung für den Tod als höchstes Seinkönnen hinausläuft, sodass Entscheidung und Schicksal zusammenfallen. H. Arendt kritisierte die fehlenden Entscheidungskriterien, die Unbestimmtheit von Heideggers Dezisionismus. Allerdings spricht er vornehmlich von Entschlossenheit. Diese enthält das Moment eines dumpfen Auf-sich-nehmens, z.B. einer unausweichlichen Übermacht.  Entscheidung aber meint die spontane Aktion eines freien Subjektes.
    3. Farias, S. 142ff
    4. Anders, S. 274
    5.  “Mein liebes Seelchen!”, Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfriede, 1915-1970, Hrg. Gertrud Heidegger, 2005
    6. Brief vom 2.10.1929, Faye, S. 55
    7. Faye, S. 55
    8. Brief vom 25.6.1933 an Oberregierungsrat Einhauser, Faye, S. 59
    9. Heidegger, Sein und Zeit, S. 313. Mit seiner  Rede vom Dasein  entpersonalisiert Heidegger den Menschen.
    10.  K. Löwith war der Meinung, dass Heideggers „Parteinahme für den Nationalsozialismus im Wesen seiner   Philosophie“ läge (Safranski, S. 371)
    11.  a.a.O., S. 385f
    12.  Faye, S. 372
    13.  Faye, S. 372 (Passage aus Heideggers Beiträge zur Philosophie, überarbeitet nach 1945, Faye, S. 366)
    14.  Faye, S, 377

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