Anarchie in Sinai
Von Inge Günther

Die Stadt Rafah war fünf Tage von der Außenwelt abgesperrt. Wegen der wachsenden Spannungen auf der Halbinsel Sinai beschloß Kairo die Stadt bis auf streng regulierte Passagen zu verschließen.
Fünf Tage lang war Rafah zu. Dutzende Palästinenser saßen im Transitraum des Grenzübergangs vom Sinai in den Gazastreifen fest. Hunderte Pilger, die nach Mekka gereist waren, konnten nicht heimkehren. Die Militärs in Kairo hatten nach der zweiten ägyptischen Revolution kurzerhand verfügt, dass Rafah wegen der prekären Sicherheitslage im Sinai geschlossen bleibe.

Gaza war bis auf die streng regulierten Passagen nach Israel von der Außenwelt abgeschlossen. Jetzt hat Ägypten zugesagt, Gazas einzigen regulären Übergang für den Personenverkehr mit Beginn des Fastenmonats Ramadan wieder zu öffnen – zunächst nur für zwei Tage. Das neue Regime in Ägypten demonstriert guten Willen und testet zugleich, ob die Hamas mitspielt.

Den palästinensischen Islamisten bleibt kaum eine andere Wahl. Von ihrem Schock über den Sturz von Mohammed Mursi hat sich die Hamas zwar noch nicht erholt. Ideologisch ist sie quasi über Nacht auf der Verliererseite gelandet. Aber realpolitisch kann es sich die Hamas gar nicht leisten, aus Solidarität mit der ägyptischen Muslimbruderschaft, der sie einst entsprungen ist, Kairo Paroli zu bieten.

Engpässe die Folge
Hamas-Sprecher Salah Bardawil betont denn auch, man halte sich aus ägyptischen Angelegenheiten heraus. Für Gaza, wo die Hamas als Alleinherrscherin regiert, ist die Verbindung nach Ägypten so unverzichtbar wie eine Lebensader. „Wer immer in Kairo an der Macht ist, die Hamas wird mit ihm eine Arbeitsbeziehung anstreben“, vermuten Kenner der Lage in Gaza.

Viele Ägypter glauben, dass palästinensische Dschihadisten aus Gaza bei dem Bandenunwesen im Sinai mitmischen und an den jüngsten tödlichen Überfällen auf Militärposten im Sinai beteiligt waren. Auch am Mittwoch wieder starben dort zwei ägyptische Polizisten bei einem Mörserangriff. Bereits im Mai, als sieben ägyptische Soldaten im Norden der Halbinsel entführt worden waren, kam der Vorwurf auf, die Hamas wisse davon. Ihr Premier in Gaza, Ismael Hanija, distanzierte sich deutlich und verurteilte die Kidnapping-Aktion.

Eingebüßt hat auch das Geschäft mit den Schmuggeltunneln, seitdem die ägyptische Armee verstärkt darauf achtet, was da an Waffen und Militanten hin- und hergeschleust wird. Vierzig solcher Tunnel soll sie am Wochenende in die Luft gejagt haben.

Folgend gab es in Gaza Engpässe mit Treibstoff und Kochgas. Palästinenser klagten, sie müssten den Ägyptern als Sündenböcke für deren Sicherheitsprobleme herhalten, so wie sonst den Israelis. In den oberen Ebenen der Hamas hält man sich mit solcher Kritik zurück. Zumal vorige Woche eine ägyptische Patrouille drei Hamas-Vertreter erwischt haben soll, die sich über die unterirdischen Gänge in den Sinai schleusen ließen.

Die anhaltende Gewalt auf der ägyptischen Halbinsel besorgt auch Israel. Experten gehen davon aus, dass Islamisten es darauf anlegen, ägyptische Truppen in Scharmützel in der Peripherie zu verwickeln, um so das neue Militärregime in Kairo zu schwächen. Jedenfalls hat Israel in stillem Einverständnis den Sicherheitsbehörden in Ägypten gestattet, Panzer und Kampfhubschrauber gegen Militante im Sinai einzusetzen, obwohl der laut einem Anhang zum Friedensvertrag von Camp David demilitarisiertes Gebiet ist.

Israel stützt die neuen Machthaber
Auch politisch leistet Israel den neuen Machthabern in Kairo Schützenhilfe. So haben sich Premier Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Mosche Jaalon telefonisch in Washington dafür eingesetzt, auf keinen Fall die jährliche Militärhilfe für Ägypten in Höhe von 1,3 Milliarden Dollar plus 250 Millionen Dollar für zivile Zwecke zu kappen. Laut US-Gesetz müssten diese Mittel nach einem Putsch automatisch eingefroren werden.

Israel jedenfalls sieht in dem Machtwechsel in Kairo eine neue Chance. „Für uns ist das eine positive Entwicklung, wenn die Moslembrüder nicht mehr das Sagen haben“, heißt es in diplomatischen Kreisen. Mit Mohammed El-Baradei, dem neuen Vizepräsidenten in Ägypten für ausländische Beziehungen, haben sich die Israelis früher, als der noch Chef der internationalen Atomaufsichtsbehörde war, zwar öfter angelegt. Aber von ihm verspricht man sich, zumindest wieder einen direkten Ansprechpartner in der politischen Führung in Kairo zu haben. Allerdings ist auch Israel in den Bewertungen vorsichtiger geworden. „Wir sind erst dabei zu begreifen“, meint Elie Podeh, ein Nahost-Experte der Hebräischen Universität, „dass der arabische Frühling ein Prozess ist und kein Ereignis.“

Frankfurter Rundschau, 11.7.2013

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email