Der 9. November – ein Gedenktag für die Kirche!
von Wolfgang Raupach-Rudnick

I.
Kein anderer verbrecherischer Akt des NS-Regimes gegen Juden war so „sichtbar“ und derart unmittelbar erfahrbar wie die Kristallnacht, die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. „Die ganze Nacht über und bis weit in den nächsten Tag hinein zerstörten marodierende Deutsche die meisten Synagogen des Landes und verwüsteten Tausende jüdischer Wohnungen und Geschäfte. Sie töteten Dutzende Juden und misshandelten noch viel mehr. Während der Krawalle trieb die Polizei mehrere Zehntausend jüdischer Männer zusammen und brachte sie in die Konzentrationslager von Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen, wo Hunderte von ihnen in den nächsten Tagen starben.“ Die Bilder dieses Tages sind fest im kollektiven Gedächtnis verankert: die brennenden Synagogen, die zerbrochenen Schaufensterscheiben, die auf die Straßen geworfenen Möbel, die Plünderungen – das sind einprägsame und aus der Erinnerung abrufbare Szenen.
Die Kristallnacht markiert den Übergang von der Diskriminierung und Ausgrenzung der deutschen Juden seit 1933 und der 1941 auf der Wannseekonferenz beschlossenen Vernichtung des europäischen Judentums. Einer der großen Historiker des Holocaust, Raul Hilberg, macht durch eine Unterscheidung diesen Übergang deutlich. Er schreibt: „Ein Pogrom führt lediglich zu Personen- und Sachschäden.“ Der Gegensatz zu einem Pogrom sei ein „Vernichtungsprozess“: „Jeder Schritt in einem Vernichtungsprozess enthält den Keim eines weiteren Schrittes.“ In der Rückschau können wir heute erkennen, dass die historische Bedeutung der Kristallnacht zu einem großen Teil darin liegt, dass sie sowohl ein Pogrom als auch ein Schritt in einem Vernichtungsprozess war. Die Kristallnacht war ein gewaltiger Schritt in der Entwicklung der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten. Sie war der einzige Fall einer groß angelegten öffentlichen und organisierten körperlichen Gewaltanwendung gegen Juden vor dem Zweiten Weltkrieg. Und sie spielte sich vor aller Augen in Hunderten deutschen Gemeinden ab, selbst in jenen mit sehr wenigen jüdischen Einwohnern und fand teilweise am helllichten Tage statt.

II.
Das Ereignis hat verschiedene Namen. Bis in die 1970er Jahre wurde es ohne größere Diskussion „Reichskristallnacht“ genannt. Das Wort bezieht sich auf die Schaufensterscherben auf den Bürgersteigen vor den in der Nacht verwüsteten jüdischen Geschäften. Über dieses Wort muss man stolpern. Gerade der Jargonausdruck war dem furchtbaren Geschehen – im Zusammenspiel von Machthabern und Bevölkerung – angemessen. Seine Doppelbödigkeit und Doppeldeutigkeit war typisch für die Zeit und für die Versuche eines Teils der Bevölkerung, sich ein Ventil zu schaffen, um mit dem, was sich anbahnte, doch noch leben zu können. Der Volkswitz bemächtigte sich der hochtrabenden Sprache der Herrschenden, und diese griffen mit der ihnen eigenen Selbstgefälligkeit auf, was ihnen davon zu Ohren kam. Man konnte „oben“ beruhigt sein, wenn es keine schärferen Reaktionen gab als diese bissig-ironische Formulierung. Aber vor allem in Deutschland vermeiden heute viele den Begriff „Kristallnacht“ aus Vorsicht gegenüber der Gefahr, nationalsozialistische Begriffe zu übernehmen und zu reproduzieren. Außerhalb Deutschlands hat man mit dem Ausdruck viel weniger Schwierigkeiten. „Kristallnacht“ ist und bleibt die bei weitem gebräuchlichste Bezeichnung in der englischsprachigen Welt.
Zum 40. Jahrestag 1978 kam eine neue Wortbildung auf „Reichspogromnacht“. Diese Wendung ist unglücklich, denn sie verbindet das Wort „Pogrom“ mit dem von den Nationalsozialisten inflationär gebrauchten Reichsbegriff und gibt dem Ereignis eine historische Legitimität – gewissermaßen in einem Atemzug mit Begriffen wie „Reichsgründung“ oder „Reichswehr“ – die durch das makabre Wortungetüm „Reichskristallnacht“ gerade verhindert wurde. Deshalb sprechen heute viele eher von dem „Novemberpogrom“. Auch für den Begriff „Pogrom“ gibt es eine überzeugende Begründung. „Pogrom“ bezeichnet ursprünglich die antijüdischen Unruhen im zaristischen Russland. Sie waren gekennzeichnet durch eine antisemitische Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung, die von den Behörden gebilligt, wenn nicht gar organisiert wurde. Vor diesem Hintergrund ist die Verwendung des Begriffs „Pogrom“ für die Ereignisse im November 1938 durchaus gerechtfertigt, „denn man muss die Kristallnacht als das Produkt des Zusammenwirkens von Unzufriedenheit von unten und Manipulation von oben verstehen“. Die antijüdischen Tumulte begannen bereits am 7. November, bevor sie dann in der Nacht vom 9. Auf den 10. November staatlich gelenkt wurden.

III.
In den Jahren nach Kriegsende spielte die Erinnerung an den 9. November 1938 in Deutschland keine Rolle – erinnert wurde an die Pogrome in jüdischen Publikationen in Palästina/Israel und in den USA. Im November 1950 führte die Zeitung der jüdischen Gemeinde in Berlin „Der Weg“ eine Presseanalyse durch und fand die Ergebnisse „beschämend“: „Während in den letzten Jahren eine Anzahl größerer Tageszeitungen noch der ‚Kristallnacht’ gedachte, während in den vergangenen Jahren noch einige deutsche Rundfunkgesellschaften dem Gedenken dieses schaurigen Tages wenigstens zehn oder fünfzehn Minuten widmeten, war es im Jahr 1950 an diesem Tag recht ruhig. Wir haben am 9. und 10. November je über 100 Tageszeitungen gelesen und kamen zu dem überraschenden … Ergebnis, dass sage und schreibe vier Zeitungen des 12. Jahrestages der Vernichtung jüdischer Gotteshäuser, jüdischer Wohnungen und des Beginns der Liquidierung des Judentums gedacht haben. Unter diesen vier Artikeln war sogar noch einer von einem Landesrabbiner….“ (Der Weg, 17. November 1950) Das Gedenken in diesen ersten Jahren wurde von jüdischen Überlebenden und anderen Verfolgten des Nazi-Regimes getragen und fand abgeschlossen gegenüber dem Rest der Gesellschaft statt. Noch am 30. Jahrestag 1968 brachte die ZEIT gar nichts, und der Spiegel nur am Rande einen Hinweis, während die Abdankung des letzten deutschen Kaisers 1918 ausführlich behandelt wurde.

Diese Situation ändert sich Ende der 1970er Jahre deutlich. Die ersten kirchlichen Arbeitshilfen erscheinen, und die Medien greifen das Thema breit auf: Die ZEIT widmet 1978 dem 9. November ein mehrseitiges Dossier und einen Aufsatz des Germanisten Hans Mayer über die „verbrannte Synagoge“. Diese neue Aufmerksamkeit trifft zusammen mit dem ersten Staatsakt in der Kölner Synagoge, bei dem Bundeskanzler Helmut Schmidt Hauptredner war.
Für die weitere Wirkung war die Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust“ von nicht zu unterschätzender Bedeutung: Die abstrakten Opferzahlen erhielten Biographie und Gesicht. In dieser Zeit entstand die Form des Gedenkens, die wir bis heute kennen.

Wiederum zehn Jahre später, 1988, erreichte das Gedenken an die Kristallnacht „einen nachgerade fieberhaften, epidemischen Höhepunkt in Westdeutschland und, verhaltener, auch in der DDR.“ Zahllose Ausstellungen, Radio- und Fernsehsendungen, Vorträge und Lesungen, Konzerte in Kirchen, Schulen, Stadthallen und Universitäten wurden veranstaltet, sowie Mahnwachen und Gedenkwege in vielen Städten organisiert. Den Höhepunkt bildete die Feierstunde im Deutschen Bundestag mit der Rede von Philipp Jenninger, die heftigen Protest auslöste. „Seine unkonventionelle, aber im Wesentlichen nicht anfechtbare Rede passte nicht in den politisch-korrekten Holocaust-Kanon und insbesondere nicht in das neu etablierte Holocaust-Gedenken.“ Er musste von seinem Amt zurücktreten.

Nach dem Fall der Mauer 1989 hat die Erinnerung an den 9. November 1938 einiges von ihrer Dynamik eingebüsst – obwohl fraglos das Gedenken an die Vernichtung der Juden insgesamt gewachsen ist.
Anfang der 1990er Jahre trug der 9. November nach den Pogromen gegen Asylsuchende und Einwanderer ein doppeltes Gesicht. Das Gedenken an das Jahr 1938 wurde auf die nationale und demokratische Einheit ausgeweitet. Deutlich wird das an der Großdemonstration am Vorabend des 9. November 1993 in Berlin. Mehr als 300.000 Menschen nahmen unter dem Motto des Artikels 1 der Verfassung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ teil. Die „Kristallnacht“ wurde nun zum sekundären Anlass für ein wichtiges Thema des vereinten Deutschland.
In den Folgejahren ist eine Abkehr der Politik von diesem Datum zu beobachten. Das Gedenken fand im Wesentlichen auf regionaler Ebene statt.

Zum 60. Jahrestag der „Kristallnacht“, 1998, gab es – trotz der kontroversen Rede Martin Walsers nur einen Monat zuvor – nur wenige Veranstaltungen auf nationaler Ebene. Das Zeremoniell fand nun auch nicht mehr im Bonner Bundestag, sondern in der Synagoge Rykestr. in Berlin statt. Weder Bundespräsident Roman Herzog noch Ignatz Bubis sprachen in ihren Reden die Ereignisse des 9. November 1938 direkt an: Im Hinblick auf die Erzählung des Geschehenen schien ein gewisser Sättigungsgrad erreicht.
Nun ist die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in diesen Jahren nicht schwächer geworden: der Streit um den Besuch des Friedhofs in Bitburg, der Historikerstreit, die Goldhagen-Debatte, die Diskussion um das Berliner Mahnmal, die Walser-Bubis-Debatte. Man kann natürlich fragen, ob solche Debatten nicht wichtiger seien als ein an einem Kalenderdatum haftendes Gedenken, das sich immer wieder gegen Erstarrung und Routine durchsetzen muss. Die Gegenfrage aber lautet: Ging es bei diesen Debatten wirklich um die Erinnerung an die Opfer? Michal Bodemann kommt zu der These: „dass in Deutschland das Interesse an der Schoa als einer Sequenz von Ereignissen, die das deutsche Volk betreffen, von vergleichsweise untergeordnetem Interesse ist. Die eigentliche Debatte dreht sich nicht um jüdische Erinnerung. Die Frage, die den Diskurs in Deutschland bestimmt, ist, wie Schuld und erhoffte Tilgung von Schuld – auch symbolisch durch finanzielle Entschädigung – mit den deutschen Kategorien nationaler Identität in Einklang zu bringen sind.“ (S. 96)

Im Jahr 2007 beschließt die Evangelische Landessynode in Württemberg mit überwältigender Mehrheit bei einer Gegenstimme und 4 Enthaltungen eine Bitte an den Oberkirchenrat:
- „den 9. November als Tag der Erinnerung und Umkehr einzuführen,
- den Gemeinden zu empfehlen, jährlich am 9. November der Ereignisse am 9. November 1938 zu gedenken, wo möglich in ökumenischer Verbundenheit und in Verbindung mit den Kommunen…,
- die Möglichkeit zur Aufnahme in den liturgischen Kalender des Evangelischen Gesangbuches zu prüfen;
- das Anliegen dieses Antrags der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen und über den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland den übrigen Mitgliedskirchen der EKD bekannt zu machen.“
Diese Initiative hat in der EKD keine Mehrheit gefunden. Vermutlich, weil vor allem die Kirchen in der früheren DDR Sorge hatten, dass dadurch der Tag des Mauerfalls, der 9. November 1989, in den Hintergrund treten könnte.
Im Jahr 2008 fiel der 9. November auf einen Sonntag. Damit bestand die Chance, der Kristallnacht nicht nur in besonderen Andachten, sondern im sonntäglichen Hauptgottesdienst zu gedenken. Die EKD hat dieses Anliegen mit einer eigenen Arbeitshilfe „Kristallnacht“ aufgegriffen.

IV.
Ein Problem gegenwärtiger Gedenkveranstaltungen hat eine Veranstaltung während des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Köln 2007 deutlich gezeigt. Es tritt vor allem dann auf, wenn Juden und Christen gemeinsam der Schoa gedenken. Die Kölner Veranstaltung fand unter dem Motto der Gedichtzeile von Hilde Domin „Nimm Steine und bau mir ein Haus“ statt. Es gab bewegende Musik; Textbeiträge des jüdischen Journalisten G. B. Ginzel – er erzählte von Interviews mit ehemaligen Kölnern und Kölnerinnen, ihren Erinnerungen an die Schulzeit, an den jüdischen Karneval; erzählte von solchen Feiern nach 1945, bei denen auch die eintätowierten KZ-Nummer von Überlebenden au den fröhlich bewegten Armen zu sehen gewesen seien – am Ende der Veranstaltung gingen die meisten Menschen sichtlich bewegt und erschüttert nach Hause.
Diese Veranstaltung ist typisch für viele andere: Juden tragen vor einem christlichen Publikum die Hauptlast des Erinnerns. Allzu oft lassen wir Juden vor uns und für uns gedenken. Das ist bewegend – aber, was bewegen solche Veranstaltungen wirklich? Sind Kirche und Öffentlichkeit wirklich getroffen? Indem wir unsere Gedenkfeiern immer wieder mit der Einladung an die „Opfer und ihre Nachkommen“ verbinden – bereiten wir eine Situation vor, in der wir mit unseren Traditionen nicht wirklich „ins Gericht“ gehen können. Das gemeinsame Ritual überspielt die Differenzen zwischen Tätern und Opfern – auch in den Erinnerungen, auch in den Ursachen, die die einen zu Tätern und die anderen zu Opfern gemacht haben – und führt zum Stillstand.

V.
Für die Kirchen ist der 9. November durch keinen anderen Gedenktag zu ersetzen. Auch nicht durch den Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar. Auch wenn die Befreiung von Auschwitz für die Verfolgten von eminenter Bedeutung war: Die Befreiung konnte innerhalb des Deutschen Reiches nicht beobachtet und erfahren werden. Zudem birgt dieses Datum die Gefahr, die Täter- und Opferperspektiven zu vermischen und sich unbewusst mit den Befreiern zu identifizieren. Der 27. Januar ist ein Tag ohne Erinnerung in Deutschland.
Auch der israelische Gedenktag Jom ha Schoa ist für ein Gedenken in Deutschland ungeeignet. Er ist auf den Warschauer Ghettoaufstand bezogen (27. Nisan) und hat als Datum keinen Bezug zu den Erfahrungen in Deutschland.
Der Israelsonntag, der 10. Sonntag nach Trinitatis, der frühere Gedenktag an die Zerstörung Israels, hat mehr und mehr seinen Schwerpunkt verschoben. Er ist jetzt vorwiegend ein Tag, an dem die Kirche ihrer jüdischen Wurzeln und der bleibenden Verbindung mit Israel gedenkt. Zudem ist dieser Sonntag traditionell nur in den lutherischen Kirchen verankert.

Fazit:
1. Der 9. November hat wegen seiner bildhaften Verankerung in der Erinnerung der Deutschen als Gedenktag bessere Voraussetzungen als andere Daten des Kalenders.
2. Wenn (unausgesprochenes) Thema des bisherigen Gedenkens in der Bundesrepublik die Frage ist, wie Schuld mit den Kategorien nationaler Identität in Einklang zu bringen sei, dann ist diese Schuldfrage auch eine Herausforderung für die Kirchen; hier ist ihr Beitrag gefragt, immerhin haben sie im Umgang mit individueller Schuld eine reiche Tradition.
3. Und schließlich: Die zerstörten Synagogen und verbrannten Torarollen als Auftakt zur Ermordung jüdischer Bürger mahnt die Kirchen an die Geschichte christlicher Judenfeindschaft. Ist doch jede der ausgrenzenden Maßnahmen des NS-Regimes bereits von den Kirchen in den Jahrhunderten zuvor vorweggenommen worden.

VI.
Gedenken heute muss der Situation Rechnung tragen, dass Zeitzeugen kaum mehr anwesend sind; es muss beachten, dass heute die dritte und vierte Generation nach dem Geschehenen angesprochen ist.
In dieser Situation hilft die Frage, welche biblischen Traditionen für die Bearbeitung von politischer Schuld und für eine Erinnerungskultur insgesamt fruchtbar gemacht werden können.
„Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nichts vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt, dein ganzes Leben lang. Und du sollst deinen Kindern und Kindeskindern kundtun, den Tag, da du vor dem HErrn, deinem Gott, standest am Berg Horeb, als der HErr zu mir sagte: Versammle mir das Volk, dass sie meine Worte hören und so mich fürchten lernen alle Tage ihres Lebens auf Erden und ihre Kinder lehren. (Dtn 4,9.10)

Die jüdische Erinnerungskultur ist auch in ihren pädagogischen Dimensionen, etwa am Beispiel des Sederabends an Pessach oft beschrieben worden und hat diese Einsichten gebracht:
1. Diese Erinnerung ist emotional.
2. Es wird erzählt, es werden keine Dokumente oder Berichte vorgetragen.
2. Solche Erinnerung schafft die Möglichkeit einer positiven Identifizierung. Eine solche Identifizierungsmöglichkeit ist auch bei der Erinnerung an Katastrophen notwendig.
4. Die Erinnerung wird mit der eigenen Lebensgeschichte verknüpft.
Alle Erfahrungen in der Schul-, vor allem aber in der Gedenkstättenpädagogik bestätigen diese Kriterien.

Der 9. November kann nicht nur für Zeitzeugen die Verknüpfung mit der eigenen Lebensgeschichte leisten. Nachgeborene Generationen haben heute vielfältige Erfahrungen mit nicht-ethnisch Deutschen und können der Frage nachgehen: Warum kamen bestimmte Gruppen in das Visier der Nazis?

Beim Kirchentag 2013 in Hamburg hat eine Schülergruppe in der Veranstaltung „Unbehagen mit der Erinnerung?“ von Projekten zum Hannoverschen Bahnhof in Hamburg, dem Bahnhof der Deportationen, berichtet und ihr eigenes Projekt vorgestellt: einen Hiphop Song, deren Text sie aufgrund von Zeitzeugenberichten geschrieben haben. Der Song macht die Gefühle der Deportierten in den Güterwaggons hörbar: Enge und Gestank in den Waggons, die Ungewissheit der Deportieren über das Ziel der Fahrt, benennt auch die Perspektiven der Täter und Mitläufer. Das Ganze vorgetragen von einer Gruppe, zu der auch Schüler mit Migrationshintergrund gehörten. Für manche, die traditionelle Gedenkformen gewohnt sind, war der Song „Tuk, tuk, tuk die Eisenbahn“ sicher befremdend – dennoch ist er ein überzeugendes Beispiel des Erinnerns und Gedenkens in der Generation der Enkel oder Urenkel.

VII.
Ich plädiere also dafür, der Kristallnacht in einem eigenen Gottesdienst zu gedenken, und zwar unabhängig davon, ob eine jüdische Gemeinde vor Ort oder die politische Gemeinde zu eigenen oder gemeinsamen Gedenkveranstaltungen einladen. Das Gedenken an die eigene christliche Schuldgeschichte und die darauf in den Kirchen erfolgte Umkehr kann nicht delegiert werden.

Der 9. November ist das exemplarische Datum, an dem einerseits die Geschichte christlicher Judenfeindschaft und andererseits die Umkehr der Kirchen nach der Schoa angesprochen werden können. Zu den Wegbereiter dieser Umkehr nach 1945 gehören auch die Wenigen in den Kirchen, die bereits 1938 nach dem 9. November in ihren Predigten die Stimme erhoben haben. Ihre Stimmen gehören in das Gedenken hinein und der Gottesdienst kann zur Identifikation mit dieser Umkehr einladen. Der 9. November 1938 ist auch ein Tag der „Kirchengeschichte“, nicht nur der jüdischen Geschichte. Am 9. November kann sichtbar werden, dass die Kirchen die Stimmen jüdischer Erinnerung nicht als Alibi brauchen, sondern sie wahrgenommen haben, indem sie auf diese Stimmen mit der Erinnerung an ihre eigene Geschichte antworten. Der 75. Jahrestag der Kristallnacht 2013 ist dafür eine gute Gelegenheit.

Pastor Wolfgang Raupach-Rudnick war bis zu seinem Ruhestand 2010 Beauftragter für Kirche und Judentum der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers; er ist Herausgeber von „Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum“.

Der vorliegende Beitrag ist entnommen aus: „Tu deinen Mund auf für die Stummen…!“ Arbeitshilfe zum 75-jährigen Gedenken an die Pogromnacht 1938. Biblische Impulse und liturgische Bausteine für einen Gottesdienst. Hrsg. im Auftrag von Begegnung von Christen und Juden in Bayern (BCJ.Bayern) u.a. Im Download erhältlich bei www.ekir.de/christen-juden


Alan E. Steinweis, Kristallnacht 1938. Ein deutscher Pogrom. Reclam 2011, S. 9. In den Abschnitten I und II folge ich weitgehend der Darstellung Steinweis‘.

Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Taschenbuchausgabe in 3 Bänden, Frankfurt/M 1990, Band 1, S. 57.

Steinweis, S. 10.

Ich orientiere mich bei dem Überblick in diesem Abschnitt III wesentlich an den Arbeiten des kanadischen Soziologen Y. Michal Bodemann, Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung ,Hamburg 1996, und In den Wogen der Erinnerung. Jüdische Existenz in Deutschland, dtv 2002. Dem zweiten Titel, S. 89 bis 97, sind die Zitate entnommen.

z. B. Astrid Greve: „Erinnern lernen – Impulse aus biblisch-jüdischen Wurzeln für eine notwendige Zukunftsaufgabe“, in: epd-Dokumentation 3/2005, Erinnern und Verstehen – Schwerpunkte eine nachhaltigen Pädagogik nach Auschwitz, S. 23-31.

Dieses und weitere Projekte von Jugendlichen unter: www.hannoverscher-bahnhof.hamburg.de/projektideen/

 

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