Tu deinen Mund auf für die Stummen
von Barbara Schenck

Tu deinen Mund auf für die Stummen
und für die Sache aller, die verlassen sind.
Tu deinen Mund auf und richte in Gerechtigkeit
und schaffe Recht dem Elenden und Armen.
(Sprüche 31,8f., Luther-Bibel)

„Tu deinen Mund auf ...“ ermahnt eine Mutter ihr Kind und sagt dann gleich wofür: um anderen zu helfen und den Rechtlosen Anwalt zu sein. Das angesprochene „Kind“ ist der König von Massa, also ein erwachsener Sohn, auf dessen Schultern ein hohes Amt ruht.
Der mütterliche Vierzeiler ist ein Teil von dem, was Judentum bedeutet: „eine ganze Galaxie von Wissen und von Werten, eine gewaltige moralische Dimension“. Dieter Graumann beschreibt so, was Judentum ausmacht, will man es nicht „auf die Leidensgeschichte und den Kampf gegen den Judenhass reduzieren“. Von dieser „moralischen Dimension“ zehre nicht zuletzt das Christentum, so der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Christinnen und Christen haben also zuallererst Grund dafür, dankbar zu sein für diese „gehaltvolle Überlieferung“. Sie gibt uns die Werte für ein gelingendes Leben.
Für den christlichen Gottesdienst bleibt nach dem Dank die Aufgabe, diesen „Wert“, diese „große Sache“, zu predigen. Dabei wird die biblische Weisung erzähltes Leben, bekommt das Gebot ein Gesicht: das von Dietrich Bonhoeffer, Wanda Feuerherm, Fritz Bauer und, ganz aktuell: Lothar König.

I. „Tu deinen Mund auf für die Stummen!“
Leitspruch für Dietrich Bonhoeffer

„Tu deinen Mund auf für die Stummen“ – unter diesem Motto stand Dietrich Bonhoeffers Leben im Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime. Bereits im September 1934 schreibt er an Pfarrer Erwin Sutz: „Es muss auch endlich mit der theologisch begründeten Zurückhaltung gegenüber dem Tun des Staates gebrochen werden – es ist ja doch alles nur Angst. 'Tu den Mund auf für die Stummen' Spr. 31,8 – wer weiß denn das heute noch in der Kirche, dass dies die mindeste Forderung der Bibel in solchen Zeiten ist? “
In der „Nachfolge“ von 1937 betont Bonhoeffer von Neuem: „Verweigert die Welt Gerechtigkeit, so wird er [der Christ] Barmherzigkeit üben, hüllt sich die Welt in Lüge, so wird er seinen Mund für die Stummen auftun und für die Wahrheit Zeugnis geben. Um des Bruders willen, sei er Jude oder Grieche, Knecht oder Freier, stark oder schwach, edel oder unedel, wird er auf alle Gemeinschaft der Welt verzichten; denn er dient der Gemeinschaft des Leibes Christi.“
Bonhoeffer konkretisierte das biblische Wort in einer Vorlesung vor den Vikaren in Finkenwalde. Eberhard Bethge notierte in Stichworten: „Hier wird wahrscheinlich die Entscheidung fallen, ob wir noch Kirche des gegenwärtigen Christus sind. Judenfrage.“

Der 9. November 1938
Im November 1938 waren weder die evangelische noch die katholische Kirche in diesem Sinne Kirche: Als die Synagogen brannten, blieb die Kirche stumm.
Kein einziger Bischof, keine Kirchenleitung wurde zum Anwalt der verfolgten Jüdinnen und Juden. Diese Schuld benannte Bonhoeffer bereits 1941 in seiner Ethik:
„Durch ihr eigenes Verstummen ist die Kirche schuldig geworden an dem Verlust an verantwortlichem Handeln, an Tapferkeit des Einstehens und der Bereitschaft, für das als recht Erkannte zu leiden. Sie ist schuldig geworden an dem Abfall der Obrigkeit von Christus.
Ist das zuviel gesagt? War denn nicht die Kirche nach allen Seiten gehindert und gebunden? Stand nicht die ganze weltliche Gewalt gegen sie? Durfte denn die Kirche ihr Letztes, ihre Gottesdienste, ihr Gemeindeleben gefährden, indem sie den Kampf mit den antichristlichen Gewalten aufnahm? So spricht der Unglaube“.
Im Herbst 1938 hatte Bonhoeffer selbst bereits Kontakt zum politischen Widerstand gegen Hitler. Das Attentat am 20. Juli 1944 scheiterte jedoch. Bonhoeffers Name wurde in den Akten der Verschwörer gefunden, am 9. April 1945 wurde er im KZ Flossenbürg erhängt.

II. „Sachwalter sei des Elenden und des Bedürftigen!“
Die „stille Heldin“ Wanda Feuerherm

Öffne deinen Mund für den Stummen
um die Sache aller Kinder der Vergänglichkeit!
öffne deinen Mund, richte wahrhaft,
Sachwalter sei des Elenden und des Bedürftigen!
(Buber-Rosenzweig)

Sachwalter der Elenden zu sein, das muss nicht zu jeder Zeit heißen, laut schreiend einzugreifen. Es gibt auch Situationen, in denen das stille, keine Aufmerksamkeit erregende Handeln Not lindert. Als „stille Helden“ halfen in der Zeit vom Herbst 1941 bis zum Ende des Krieges 1945 schätzungsweise „mehrere zehntausend Personen“ zirka 5000 Jüdinnen und Juden, denen die Deportation in ein KZ drohte. Die „unbesungenen Helden“ boten sichere Quartiere, versorgten Untergetauchte mit Lebensmitteln oder gefälschten Ausweisen. Unter dem Terror des Hitlerregimes mit dem Ziel alle Juden zu „vernichten“ waren diese stillen „Sachwalter“ der Entrechteten mutige Widerständler. Die Zivilcourage dieser Helferinnen und Helfer, zwei Drittel von ihnen übrigens Frauen, zeigt, was „kleine Leute“ tun konnten. Auch einzelne, die nicht aus einer gesellschaftlich bedeutenden Position heraus einen Umsturz des Regimes in Erwägung ziehen konnten, waren in der Lage, dem Nazi-Terror entgegenzutreten. Es gab Handlungsalternativen „zwischen den Extremen des völligen Gehorsams und des todesbereiten Widerstands“ (Kosmala, 115). Stellvertretend für die „stillen Helden“ steht Wanda Feuerherm:
„Die Näherin Wanda Feuerherm lebte mit ihrem achtjährigen Sohn und ihrer zehnjährigen Tochter in sehr bescheidenen Verhältnissen in einer Laubensiedlung in Berlin-Lichtenberg. Ihr Mann war als Soldat an der Front. Schon vor dem Krieg kannte sie die jüdische Familie Segal, die ein Pelzgeschäft besaß. Als die Segals mit ihren fast erwachsenen Kindern 1942 deportiert werden sollten, baten sie die Näherin und andere Bekannte um Hilfe. Wanda Feuerherm entschloss sich daraufhin, die 18jährige Gerda in ihrer Laube aufzunehmen. Die Kinder ließen künftig keine Freunde mehr ins Haus. Auch Wanda versuchte, Bekannte fernzuhalten. Sie wurde immer einfallsreicher und kühner. Gegenüber Nachbarn gab sie Gerda als 'Verwandte auf Durchreise' aus. Den anderen Mitgliedern der Familie Segal besorgte die fast mittellose Frau immer wieder neue Quartiere und gab ihnen Lebensmittel aus ihrem Garten. Als im Oktober 1943 plötzlich die Gestapo auftauchte und (vergeblich) nach Gerda suchte, behielt Wanda die Nerven. Auf Gerdas bange Frage, ob ihre Anwesenheit nicht zu gefährlich sei, habe Wanda geantwortet: 'Was können die mir schon tun, schlimmstenfalls stecken sie mich ins Gefängnis, aber wenn sie dich kriegen, werden sie dich umbringen'“.
Gerda Segal überlebte die Nazi-Zeit (vgl. Kosmala, 114).

III. „Verfolge die Rechtsfälle aller schwachen Frauen und Männer!“
Fritz Bauers juristischer Kampf gegen Nazi-Verbrecher und für das Recht auf Widerstand

Tu deinen Mund für die Stummen auf,
und verfolge die Rechtsfälle aller schwachen Frauen und Männer!
Tu deinen Mund auf, richte gerecht,
und sei Anwalt der Rechtlosen und Armen.
(Bibel in gerechter Sprache)

Der biblische Rat in Sprüche 31 bleibt nicht stehen bei Empörung, Protestgeschrei, kirchlicher Verlautbarung und Unterschriftenaktion. Eine juristische Regelung wird gefordert, die Menschenrechte der Elenden und Schwachen sollen eingeklagt werden.
Ein Anwalt für die Stummen und die gänzlich mundlosen, da ermordeten Opfer war der Jurist Fritz Bauer. Als Generalstaatsanwalt in Braunschweig und Frankfurt am Main brachte er nach dem Krieg das Unrecht des NS-Staates vor Gericht.
Fritz Bauer wurde am 16. Juli 1903 in Stuttgart als Sohn jüdischer Eltern geboren. Nach einem Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften trat er 1930 seinen Dienst als Amtsrichter in Stuttgart an. Im April 1933 wurde er als politisch aktives Mitglied im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold aus dem Staatsdienst entlassen und für acht Monate zunächst im KZ Heuberg, dann in der Ulmer Strafanstalt inhaftiert. 1936 musste Bauer nach Dänemark fliehen, 1943 weiter nach Schweden. 1949 kehrte Bauer nach Deutschland zurück und wurde 1950 Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht Braunschweig, 1956 bis zu seinem Tod 1968 war er als hessischer Generalstaatsanwalt maßgeblicher Initiator der Frankfurter Auschwitzprozesse und spielte eine wichtige Rolle bei der Ergreifung Adolf Eichmanns.

Drei Beispiele für Bauers Mundauftun und Richten in Gerechtigkeit:

a) Der 9. November 1938
Nach der Reichspogromnacht ging Fritz Bauer, der schon lange dafür gekämpft hatte, eine Einreisegenehmigung nach Dänemark für seine Eltern zu erhalten, zu einem dänischen Justizminister. Er habe ihm erklärt, erzählt Bauer, „wenn er meinen Eltern, die ziemlich alt waren, die Genehmigung nicht für Dänemark geben könnte, dann würde ich bitten, ihnen die Genehmigung für Grönland zu geben.“ In diesem Augenblick habe der Minister gemerkt, worum es ging: „Er war erschrocken, denn auf diese Idee war er nie gekommen, dass jemand nach Grönland wollte. Als ich sagte, mir wäre die Eiseskälte in Grönland immer noch lieber, weil ich dann wisse, meine Eltern leben wenigstens, es wäre besser als das, was kommen würde; es war 1938. Ich sagte ihm, es gehe einfach um das Leben. Und das Wort Grönland, das weiß ich ganz genau, hat ihn erschüttert und Eindruck auf ihn gemacht. Ich bekam sofort die Genehmigung [...] denn plötzlich hatte die dänische Regierung gemerkt, dass wir nicht übertrieben.“ (Wojak, 139)

b) Das Recht und die Pflicht zum Widerstand
Sieben Jahre nach Ende des Krieges verunglimpfte der ehemaligen Generalmajor Otto Ernst Remer die Widerstandkämpfer des 20. Juli als „Landesverräter“. Gegen Remer, der selbst an der Niederschlagung des Putschversuchs gegen Hitler beteiligt gewesen war, stellte Bundesinnenminister Robert Lehr Strafantrag wegen Verleumdung. Im Prozess Anfang März 1952 erreichte Bauer sein Ziel, die Widerstandskämpfer zu rehabilitieren. Jetzt nach dem Urteil in diesem Prozess konnte die Bundesrepublik der Witwe des Attentäters Claus Graf Stauffenberg die Offizierswitwenrente nicht mehr verweigern.
Bauer stellte in seinem Plädoyer klar: „Ein Unrechtsstaat wie das Dritte Reich ist überhaupt nicht hochverratsfähig“. Den Eid auf Hitler betrachtete er als „unsittlich“. Dementsprechend konnten die Widerstandskämpfer diesen Eid gar nicht brechen (vgl. Wojak, 273f.).
Zum Prozess hatte Bauer auch ein Gutachten „zur Frage des Widerstandsrechts nach evangelischer Lehre“ von Hans Joachim Iwand und Ernst Wolf erstellen lassen. Die beiden evangelischen Theologen stellten dem „Jedermann sei untertan der Obrigkeit“ in Römer 13 Apostelgeschichte 5,29 entgegen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“. Unter der Regierung eines „gesetzlosen Menschen“ hätten alle Träger der Gewalt und der Autorität die Pflicht, „das Recht neu zu errichten“ (Wojak, 271).
Seit 1968 gewährt im Grundgesetz Artikel 20, Absatz 4 das Recht zum Widerstand als Bestandteil der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

c) Das Zeugnis der Opfer und die Verantwortung der Täter
Zum Richten in Gerechtigkeit gehört, dass die Opfer zu Wort kommen. Das gelang in dem großen Frankfurter Ausschwitzprozess 1963–1965. Dank Fritz Bauer wurden 211 Überlebende des KZ Auschwitz als Zeugen aufgerufen. Als der Vorsitzende Richter im August 1965 das Urteil verkündete, sagte er: „Das Gerichte musste [...] noch einmal im Geiste all die Leiden und Qualen erleben, die die Menschen dort erlitten haben und die mit dem Namen Auschwitz auf immer verbunden sein werden. Es wird wohl mancher unter uns sein, der auf lange Zeit nicht mehr in die frohen und gläubigen Augen eines Kindes sehen kann, ohne dass im Hintergrund und im Geist ihm die hohlen, fragenden und verständnislosen, angsterfüllten Augen der Kinder auftauchen, die dort in Auschwitz ihren letzten Weg gegangen sind.“ (Wojak, 333)
Wer die „Rechtsfälle der schwachen Frauen und Männer“ verfolgt, darf seinen Blick nicht vernebeln lassen von denen, die Unrecht taten und sich selbst entlasten oder gar rechtfertigen wollen, etwa mit dem Hinweis, sie hätten in einem „Befehlsnotstand“ gehandelt. Zu Beginn der Frankfurter Auschwitz Prozesse lag eine Materialsammlung vor, die belegt, „dass die Masse der Täter nicht aus einer wirklichen oder vermeintlichen Notlage gehandelt hatte, sondern vielmehr aus Überzeugung, aus Ehrgeiz, Sadismus, Bequemlichkeit oder ähnlichen Motiven, oder aber auch, weil 'es eben so befohlen war'“ (Wojak, 330).
Fritz Bauer war überzeugt, in einem Unrechtsstaat wie dem „Dritten Reich“ müsse im Hinblick auf den Verbrechenskomplex Auschwitz die juristische Unterscheidung zwischen Täter- und Gehilfenschaft verworfen werden, denn die in Auschwitz dabei waren, seien in der Regel selbst Nazis gewesen: „Es gab ja in Deutschland nicht nur den Nazi Hitler und nicht nur den Nazi Himmler. Es gab Hunderttausende, Millionen anderer, die das, was geschehen ist, nicht nur durchgeführt haben, weil es befohlen war, sondern weil es ihre eigene Weltanschauung war, zu der sie sich aus freien Stücken bekannt haben.“ (Wojak, 347)

IV. Der Mangel an Zivilcourage als Ursache für die nationalsozialistische Diktatur

Untertanengeist und den Mangel an Zivilcourage sah Bauer als Ursache dafür, dass das Ende des Kaiserreiches so schnell in eine Diktatur mündete: „Leider ist es eine typisch deutsche Eigenschaft, den Gehorsam schlechthin für eine Tugend zu halten. Wir brauchen die Zivilcourage, Nein zu sagen.“
Ähnlich urteilte Bonhoeffer in einem privaten Brief an seine Freunde zum Jahreswechsel 1942/43:
„Es wäre eine zu naive Psychologie, diesen Mangel [an Civilcourage] einfach auf persönliche Feigheit zurückzuführen. Die Hintergründe sind ganz andere. Wir Deutschen haben in einer langen Geschichte die Notwendigkeit und die Kraft des Gehorsams lernen müssen. In der Unterordnung aller persönlichen Wünsche und Gedanken unter den uns gewordenen Auftrag sahen wir Sinn und Größe unseres Lebens. Unsere Blicke waren nach oben gerichtet, nicht in sklavischer Furcht, sondern im freien Vertrauen, das im Auftrag einen Beruf und im Beruf eine Berufung sah. Es ist ein Stück berechtigten Misstrauens gegen das eigene Herz, aus dem die Bereitwilligkeit entsteht, lieber dem Befehl von 'oben' als dem eigenen Gutdünken zu folgen. Wer wollte dem Deutschen bestreiten, dass er im Gehorsam, im Auftrag, im Beruf immer wieder das Äußerste an Tapferkeit und Lebenseinsatz vollbracht hat? [...] Aber er hatte damit die Welt verkannt; er hatte nicht damit gerechnet, dass seine Bereitschaft zur Unterordnung, zum Lebenseinsatz für den Auftrag missbraucht werden könnte zum Bösen. Geschah dies, wurde die Ausübung des Berufes selbst fragwürdig, dann mussten alle sittlichen Grundbegriffe des Deutschen ins Wanken geraten. Es musste sich herausstellen, dass eine entscheidende Grunderkenntnis dem Deutschen noch fehlte: die von der Notwendigkeit der freien, verantwortlichen Tat auch gegen Beruf und Auftrag.“ (Widerstand und Ergebung, 12f.)

V. Bürgermut im 21. Jahrhundert

Erziehung zur Zivilcourage

Vor 70 Jahren standen die Deutschen erst am Anfang damit, zu entdecken, was Zivilcourage sei, so das Urteil Bonhoeffers. Wie steht's heute um diesen Bürgermut? Die ethisch-theologischen Erkenntnisse Bonhoeffers sind längst kirchliches Lehrgut, das Widerstandsrecht im Grundgesetz verankert, Zivilcourage fordern auch Politiker im Amt, unterlassene Hilfeleistung steht unter Strafe.
Soweit Theorie und Recht. In der Praxis sieht es nicht ganz so rosig aus. Nicht immer greifen Passanten mutig und bedacht ein, wenn in ihrer Nähe Menschen belästigt oder gar gewalttätig angegriffen werden. Und die Statistik ist erschütternd: Die Zahl rechter Straftaten ist 2012 verglichen mit dem Vorjahr erneut deutlich gestiegen. Bei den von Neonazis und anderen rechten Tätern verübten Gewaltdelikten zeichne sich ein Anstieg um rund zwei Prozent ab, so Bundesinnenminister Friedrich (CSU) im März 2013.
Im April 2013 soll der Prozess gegen Beate Zschäpe beginnen. Das Morden der NSU zeigt ein von vielen ungeahntes Ausmaß des rechtsextremen Terrors aus dem Untergrund; die Fehler und Nachlässigkeiten bei den Ermittlungen von Polizei und Verfassungsschutz sind erschreckend.
Gegen einen Pfarrer, der sich mutig rechtsextremer Gewalt und Propaganda entgegensetzt, den Jenaer Stadtjugendpfarrer Lothar König, ermittelt die Staatsanwaltschaft Dresden. König wird vorgeworfen, anlässlich von Aufmärschen von Rechtsextremisten in Dresden am 19. Februar 2011 „aufwieglerischen Landfriedensbruch“ begangen zu haben, während Kameraaufnahmen zeigen, dass „König während der Dresdener Demonstration wohl eher deeskalierend wirkte“, so ein Artikel von Patrick Bauer in Neon 1/2013. In einem Interview vor Prozessbeginn sagte König, bei einer Verurteilung habe er nicht „viel Entscheidungsmöglichkeit“, dann müsse er halt ins Gefängnis gehen: „Auch der Dietrich Bonhoeffer war in einem Gefängnis.“

Der mütterliche Rat aus Sprüche 31 bleibt eine pädagogische Herausforderung. Motivieren müssen wir uns selbst und die unter uns heranwachsenden Kinder, den Mund zu öffnen. Drei „prototypische Situationen“ gibt es, in denen Zivilcourage gefragt ist: Parole, Pöbelei und Prügelei. Bürgermut tut not, wenn:
- abfällig gesprochen wird über eine nicht anwesende Person;
- eine anwesende Person verbal angegriffen wird;
- eine Person tätlich angegriffen wird.
Die Motivationspsychologie lehrt: Eine Pädagogik, die zur Zivilcourage motivieren möchte, tue gut daran, drei „Charaktereigenschaften“ zu fördern: Empörung, wenn soziale Regeln nicht eingehalten werden, Empathie sowie Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein (vgl. Zivilcourage, 92f.).

Glaubenswagnis oder Vertrauen auf das Gute im Menschen

„Tu deinen Mund auf für die Stummen ... und sei Anwalt der Rechtlosen und Armen.“
Diesem Ruf zur Zivilcourage zu folgen und Verantwortung zu übernehmen ruhte, nach Bonhoeffer „auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht“.
Der „gläubige Atheist“ Fritz Bauer hingegen glaubte – in den Worten einer Juristen-Kollegin formuliert: „dass der Mensch dem Menschen helfen könne“. Und Bauer hielt sich, wie er selbst sagte, an das „Prinzip Hoffnung", auch in dem Gefühl, „es könnte eine Lebenslüge sein“ (vgl. Wojak, 460).
Für beide Deutungen des Rufs nach Zivilcourage sind die Verse in Sprüche 31,8f. offen. Der Glaube hinter dem guten Spruch braucht das Wort Gott nicht. Der weltliche „Glaube“ vertraut auf Menschen, die die Menschenrechte aufrichten. Die Betenden ihrerseits flehen mit Psalm 83: „Gott, sei nicht stumm ...“ und mit dem Propheten Jesaja rufen sie: Gott, bewahre uns davor, zu stummen Hunden zu werden, „die nicht bellen können“ (Jes 56,10).

Literatur
Bauer, Patrick, So links wie Jesus, Artikel über Lothar König aus Neon 1/2013, online unter: http://www.neon.de/artikel/sehen/politik/so-links-wie-jesus/1006909 (Abrufdatum: 8.4.2013).
Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW):  
Bd. 6: Ethik, bes. S. 126–132.
Bd. 4. Nachfolge, bes. S. 252f.
Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung, München 1951.
Graumann, Dieter, Nachgeboren – vorbelastet? Die Zukunft des Judentums in Deutschland, München 2012, bes. S. 11.
Interview mit Lothar König am 9.2.2013 im Deutschlandradio Kultur: Wir brauchen Leute, „die sich engagieren und einsetzen“, online: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/religionen/2004927/ (Abrufdatum: 8.4.2013).
Kosmala, Beate, Zivilcourage in extremer Situation: Retterinnen und Retter von Juden im „Dritten Reich“ (1941–1945), in: Gerd Meyer, Ulrich Dovermann, Siegfried Frech, Günther Gugel (Hrsg.), Zivilcourage lernen. Analysen – Modelle – Arbeitshilfen, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2004; URL: http://www.bpb.de/system/files/pdf/VU4I4T.pdf (Abrufdatum: 27.3.2013).
Löffler, Constanze / Wagner, Beate, Zivilcourage – keine Frage!, München 2011.
Tu deinen Mund auf für die Stummen! Dietrich Bonhoeffer 4. Februar 1906–9. April 1945, Anregungen und Materialien für die Arbeit in Gemeinde & Erwachsenenbildung, hrsg. von der eeb Nordrhein 2005.
Wojak, Irmtraud, Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie, München 2009.

Barbara Schenck ist als Theologin Redakteurin bei reformiert-info.de, dem Internetportal des Reformierten Bundes e.V. Ehrenamtlich arbeitet sie für die Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext.

Der vorliegende Beitrag ist entnommen aus: „Tu deinen Mund auf für die Stummen…!“ Arbeitshilfe zum 75-jährigen Gedenken an die Pogromnacht 1938. Biblische Impulse und liturgische Bausteine für einen Gottesdienst. Hrsg. im Auftrag von Begegnung von Christen und Juden in Bayern (BCJ.Bayern) u.a. Im Download erhältlich bei www.ekir.de/christen-juden

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