Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider – Predigt zu Joel 2,12-14
Gabriele Zander

Einige kursiv gesetzte Teile nehmen auf die Darmstädter Situation Bezug. Hier können je nach Region andere Beispiele eingefügt werden.

„Sie verbrennen alle Gotteshäuser im Land“ und „kein Prophet redet mehr.“ Diese beiden Sätze aus Psalm 74 unterstrich Dietrich Bonhoeffer in seiner Bibel. Daneben schrieb er das Datum: 9. November 1938.

Liebe Gemeinde,

das ist jetzt 75 Jahre her. Und es bleibt unbegreiflich. Für die Jüngeren wie mich, aber auch für viele, die es miterlebt haben. Vielleicht sind einige davon heute auch hier im Gottesdienst. Sie waren damals noch Kinder. So auch ein älterer Bekannter, der mir erzählte, wie er und andere Kinder damals die brennende Synagoge in Darmstadt sahen. Sie be-obachteten auch, was die Feuerwehrleute machten. Und dann fragten einige Kinder: Warum löschen die denn nur die Nachbarhäuser und nicht die brennende Synagoge?

So war das in vielen Städten. Die Feuerwehren schützten nur die Nachbarhäuser. Nur in wenigen Städten und Orten konnten die Synagogen gerettet werden. Zum Beispiel die Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin. Da war es der Vorsteher des Polizeireviers, Wilhelm Krützfeld. Mit einigen seiner Beamten verjagte er die SA-Brandstifter und be-nachrichtigte die Feuerwehr. Und die löschte tatsächlich den beginnenden Brand der Synagoge.

In Darmstadt dagegen brannten sowohl die orthodoxe Synagoge in der Bleichstraße als auch die Liberale Synagoge in der Friedrichstraße. Dort befindet sich heute die Gedenkstätte Liberale Synagoge, die über den verbliebenen Fundamenten errichtet wurde.
(Hier könnte eingefügt werden, was im jeweiligen Ort mit den Synagogen geschah.)

Nicht nur die Synagogen wurden zerstört, auch Wohnungen, Geschäfts- und Büroräume von Jüdinnen und Juden wurden demoliert, deren Bewohner misshandelt. Tote gab es zu be-klagen. 169 Juden aus Darmstadt wurden ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. (Hier könnte eingefügt werden, wie es im jeweiligen Ort den Jüdinnen und Juden erging).
Der Übergang von der Diskriminierung wie etwa durch den „Judenboykott“ oder die Nürn-berger Rassegesetze hin zur systematischen Verfolgung hatte begonnen. „Wer den Brand entfacht hat? Niemand oder alle. Entfacht hatten ihn wenige, dabei gestanden und geschwiegen haben viele, die Hände zum Löschen gehoben hat keiner.“ So der Darmstädter Schriftsteller Fritz Deppert.

„Kein Prophet redet mehr“ – das hatte sich Dietrich Bonhoeffer in seiner Bibel unterstrichen. (Keine Kirche redete.) Weder in der evangelischen noch in der katholischen Kirche gab es eine eindeutige Stellungnahme gegen das Geschehen. Einige haben dieses Pogrom begrüßt und der Meldung einer Tageszeitung vom 10. November 1938 zugestimmt, dass der „Tempel des rachsüchtigen Judengottes in Flammen aufgegangen ist“.

„Der Tempel des rachsüchtigen Judengottes“ – das ist so eine antijüdische Formulierung, die leider immer noch aktuell ist. Darum ist es für mich als Angehörige der 3. Generation wichtig, mich diesen Erinnerungen, dieser Geschichte zu stellen. Erst Ende der 60er Jahre begannen Theologinnen und Theologen, sich mit der jahrhundertealten Tradition des christlichen Antijudaismus auseinanderzusetzen. Sie erkannten: Es gibt eine uralte Judenfeindschaft im Christentum, von Anfang an. Und weil es die gibt, haben die Kirchen kaum etwas gegen die Verbrechen der Nationalsozialisten getan. Mein verehrter Lehrer Martin Stöhr sagte einmal: Der physischen Verfolgung und Ermordung des europäischen Judentums ging die theolo-gische Toterklärung des Judentums durch die Kirche voraus.

Es gibt antijüdische Vorstellungen, die sich leider bis heute in der Theologie fortsetzen. Da wird zum Beispiel das Judentum als dunkler Hintergrund benutzt, vor dem das Christentum umso heller erstrahlen kann. Da wird vom alttestamentlichen Gott der Rache geredet, dem der neutestamentliche Gott der Liebe entgegengesetzt wird. Eine andere jahrhundertealte Irrlehre christlicher Theologie war auch die Auffassung: Gott habe die Juden verworfen, weil sie Jesus nicht als Messias anerkannt haben. Und die Kirche sei jetzt an die Stelle der Juden getreten. Gott habe Israel sozusagen enterbt.

Dieser Auffassung hat unsere Kirche, Gott sei Dank, vor 22 Jahren ausdrücklich wider-sprochen und ihren Grundartikel erweitert. „Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen, bezeugt die Kirche neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen.“ Dieser Satz wurde dem Grundartikel hinzugefügt. Gottes Bund mit Israel besteht immer noch.

„Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider“, so die Worte des Propheten Joel aus dem 4. Jahrhundert vor Christus (Joel 2,12-14). „Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider“- Worte, die mir zu passen scheinen, wenn wir über den 9. November 1938 und unseren Umgang heute mit unserer Geschichte als Deutsche und als Christinnen und Christen nachdenken. „Kleider zerreißen“ steht bei Joel für eine rein äußerlich zur Schau getragene Trauer. Worthülsen, die zwar die Luft bewegen, aber nicht zum Herzen vordringen. Bei manchen Gedenkveranstaltungen kann man die zu hören bekommen. „Zerreißt eure Herzen“- was könnte das heißen in der heutigen Zeit?

Er-innern – das hat mit Verinnerlichen zu tun. Mit dem Gang nach innen. Der Historiker Heinz-Dieter Kittsteiner stellt fest, dass hier doch noch einiges aussteht. Er äußert sogar den Verdacht, dass vielerorts Denkmälern etwas aufgetragen wird, das eigentlich im Inneren der Menschen stattfinden sollte. Der erforderliche Prozess des menschlichen Er-innerns wird auf das äußere Denkmal verlagert. „Versteinerung der Gewissensproblematik“ nannte er dies. Es wird etwas in Stein oder Metall gegossen, was eigentlich dem Menschen aufgetragen ist. Zerreißen der Kleider anstelle der Herzen. Was würde nun aber Zerreißen der Herzen bedeuten?

Wichtig wäre es, vom Äußerlichen zum Inneren zu gelangen und damit auch vom Allge-meinen zum Konkreten. Lange hat man von der Kollektivschuld der Deutschen gesprochen. Aber die Rede von der Kollektivschuld führte zu einem viel zu diffusen Schuldgefühl, das sich von Generation zu Generation weitervererbt hat und bei Jugendlichen heute erstaun-licherweise immer noch spürbar ist. Ich habe den Verdacht, dass die Rede von der Kollektiv-schuld dazu beitragen sollte, konkrete Schuld zu verwischen, Täter zu schützen. Für die nachfolgenden Generationen wäre es heilsamer gewesen, Schuld wäre konkret benannt und damit gebannt worden. Die wenigen Schauprozesse, die es gab, konnten da wohl kaum ausreichen. Hannah Arendt schrieb in den 60er Jahren in ihrer Kritik des Begriffes Kollektivschuld: „Wo alle schuldig sind, da ist es niemand. Ich habe es immer für den Inbegriff moralischer Verwirrung gehalten, dass sich im Deutschland der Nachkriegszeit diejenigen, die völlig frei von Schuld waren, gegenseitig und aller Welt versicherten, wie schuldig sie sich fühlten, wohingegen nur wenige der Verbrecher bereit waren, auch nur die geringste Spur von Reue zeigen.“

Es ist notwendig, die Schuld und die Täter konkret zu benennen. Und mit dem Aussterben der Täter ist das auch leichter geworden. So hat die Frage nach den Tätern, ihren konkreten Taten und ihrem Denken inzwischen eine wichtige Rolle in der Gedächtnisarbeit und auch in der Theologie eingenommen. „Von Gott reden im Land der Täter“ – So heißt ein vor einigen Jahren erschienener theologischer Sammelband von Autorinnen und Autoren der 3. und 4. Generation. Ja, die Identifikation mit den Opfern, die jahrelang in der Theologie herrschte, ist nur eine Seite der Medaille. Wir kommen nicht daran vorbei, nach den Tätern zu fragen. Dies geschah etwa in der Wehrmachtsausstellung und ist inzwischen auch in vielen Gedenkstätten präsent. Und diese Wende von der Rede über eine Kollektivschuld hin zur Benennung der konkreten Schuld ist immens wichtig für die jüngere Generation. Nur so kann das diffuse Schuldgefühl, das sonst von Generation zu Generation weitergegeben wird, überwunden werden.

Die Rede von der Kollektivschuld ist und bleibt ein Lippenbekenntnis: ein Zerreißen der Kleider. Benennen von konkreter Schuld dagegen kann Herzen zerreißen. Denn es tut weh, in der eigenen Familie Täter zu entdecken, stumme Mitläufer oder auch nur Nutznießer des damaligen Systems. Und es gibt jede Menge weiterer herzzerreißender Fragen: Warum gab es so wenig Widerstand, als die Synagogen brannten? Wie waren die Verbrechen der Nazis möglich im Volk der Dichter und Denker?

„Zerreißt eure Herzen!“ Da gäbe es wohl noch jede Menge, was uns die Herzen zerreißen könnte, wenn wir denn dazu bereit wären. Aber die Worte des Propheten Joel enden hier nicht: „Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider“, sagt er und dann weiter: „und kehrt um zum HERRN, eurem Gott, kehrt um zu mir mit eurem ganzen Herzen und mit Fasten und unter Tränen und in Trauer.“ Die Herzen können wieder ganz, wieder heil werden. Aber dies erfordert einen Prozess der Auseinandersetzung mit dem Geschehenen, des Fragens und Redens, der Trauer und der Umkehr.

Gott sei Dank, gibt es heute in den meisten Städten Deutschlands wieder Synagogen! Mit der Einwanderung von Jüdinnen und Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion sind wieder jüdische Gemeinden entstanden, wo wir es nicht für möglich gehalten haben. Und es ist wichtig, dass diese Gemeinden unsere Unterstützung, unsere Solidarität erfahren. Wir können das Geschehene nicht ungeschehen machen. Die Tatsache, dass vor 75 Jahren die Synagogen in Deutschland gebrannt haben, wird in unserem Verhältnis zu den jüdischen Gemeinden immer eine Rolle spielen. Die Narben auf den Herzen werden bleiben. Aber wir können doch mit ganzem Herzen umkehren. Das wurde eben auch in unserer Grundartikel-erweiterung festgehalten: „Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen ...“. Und auch das darf kein Lippenbekenntnis bleiben, sondern will verinnerlicht werden. Jüdinnen und Juden sollen sich hier sicher und willkommen fühlen. Wir sollen das Gespräch mit ihnen suchen, mit unserer Zwillingsreligion – wie der jüdische Gelehrte Daniel Boyarin das ausdrückt. Gerade als ungleiche Zwillinge können wir viel voneinander lernen, einander in Neugier und Respekt begegnen, frei von den Diffamierungen, die wir vielleicht in unserer Kindheit und Jugend gehört haben. Einander begegnen, voneinander lernen, miteinander handeln, um so manches zu verwirklichen, was in unserer Gesellschaft noch aussteht: damit niemand wegen seiner Herkunft oder Religion bei uns benachteiligt oder diskriminiert wird, damit Gottes Reich der Gerechtigkeit und des Friedens unter uns spürbar werde. Die Wunde der brennenden Synagogen und noch schlimmer: der vielen Ermordeten wird bleiben, aber Neuanfänge, in denen neues Vertrauen wachsen kann, sind möglich.

aus: Gedenke. 9. / 10. November 1938, Pogromnacht. Gedenk-Gottesdienst 2013. Entwürfe und Empfehlungen. Das gesamte Heft finden Sie als Download unter www.imdialog.org/pogrom1938/gedenken2013.html

 

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