Bruder Jesus 
Ein bewegtes Leben zwischen Isar und Jordan
Vor 100 Jahren wurde Schalom Ben-Chorin geboren 
von Christian Feldmann

Den Frieden trug er schon im Namen: Schalom Ben-Chorin heißt »Friede, Sohn der Freiheit«. Fritz Rosenthal, wie er ursprünglich hieß, kam vor 100 Jahren, am 20. Juli 1913, in München zur Welt. Nach dem Krieg setzte er sich für das Gespräch zwischen Christen und Juden und für Versöhnung ein.

Fritz Rosenthal wuchs in einem assimilierten jüdischen Elternhaus auf: Zu Ostern suchte man bunte Eier im Garten, an Weihnachten roch es unter dem Lichterbaum nach Lebkuchen und Marzipan, und der Nikolaus kam auch ins Haus. Lediglich am jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana und am Versöhnungstag Jom Kippur kramte der Vater den Zylinder hervor und ging mit dem staunenden Fritz in die Synagoge. Er ahnte nicht, dass sein Sohn heimlich die im Küchenschrank verstaute hebräische Bibel las. Und dass er später zum Pionier des theologischen Gesprächs zwischen Juden und Christen in Deutschland werden sollte.

In der Weihnachtsnacht 1928 erklärte der 15-jährige Fritz Rosenthal der Familie, den bürgerlichen »Klimbim« mache er nicht mehr mit. Er stapfte durch den tiefen Schnee zu einer befreundeten, streng orthodoxen Familie, wohnte dort ein Jahr, schloss sich einer zionistischen Jugendgruppe an und nannte sich fortan Schalom Ben-Chorin: »Friede, Sohn der Freiheit«.

Er machte eine Buchhändlerlehre, studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München Germanistik, Kunstgeschichte, Theaterwissenschaft, Philosophie sowie Vergleichende Religionswissenschaften und schrieb Lyrik. Doch 1933 übernahmen die Nationalsozialisten die Macht. Ben-Chorin wurde mehrfach verhaftet. Während des Boykotts jüdischer Geschäfte etwa war er mit einer Kamera durch München gelaufen; SA-Männer schlugen ihn zusammen und warfen ihn ins Polizeigefängnis.

1935 gelang ihm mit seiner Frau die Ausreise nach Jerusalem, wo er als Journalist, Zeichner, Dichter und Theologe arbeitete. Seit 1939 sicherte die journalistische Arbeit für Jedioth Chadashoth (Neueste Nachrichten), die wohl wichtigste deutschsprachige Zeitung in Palästina und Israel, den Lebensunterhalt Ben-Chorins.

Weiterhin schrieb er fast nur in deutscher Sprache. Lediglich zwei seiner Bücher erschienen auf Hebräisch. »Isar und Jordan münden in mein Herz«, stellte er wehmütig fest.

Auf die Frage nach seiner Heimat hat Ben-Chorin geantwortet, diese Heimat sei die Sprache. Gemeint war die deutsche Sprache. Und aus dieser Sprache könne man nicht auswandern: »Ein Land kann man verlassen, mit dem Volk die Beziehungen abbrechen, aber die Sprache ist so sehr Teil unserer eigenen Existenz, dass es hier keine Trennung geben kann. Und das Glück der Sprache, das uns in ihren schönsten Dichtungen erblüht, kann durch kein Leid vernichtet werden. Aus der Sprache bin ich nie ausgewandert, und ich schreibe auch heute diese Erinnerungen in der Sprache, die mir nicht welkte. Sie blieb grün an des Lebens goldnem Baum, unveräußerlicher Wesenskern einer Bemühung, die sich immer und immer wieder nur in dieser Sprache verleiblichen konnte.«

Ben-Chorins schriftstellerisches Werk legt davon Zeugnis ab. Die Mehrzahl seiner Schriften und nahezu alle seiner rund 50 Bücher sind auf Deutsch verfasst. In Israel hat ihm das Festhalten an der deutschen Muttersprache nicht nur Zustimmung eingebracht.

Die geistige Heimat Ben-Chorins war die Sprache, die verlorene Heimat war München, die konkrete Heimat Jerusalem. Das eigentliche Zuhause Ben-Chorins aber lag stets irgendwo in einer weitläufigen geistig-intellektuellen Welt zwischen Isar und Jordan, jenen beiden Flüssen, die geografisch die wechselvolle und spannende Biografie dieses Münchner Kindls, das Schalom Ben-Chorin immer geblieben ist, einrahmen. Oder mit seinen eigenen Worten: »Isar und Jordan sind weit voneinander entfernt, doch sie münden in ein Herz.«

Sein früher Gedichtzyklus »Der Rabbi von Nazareth« aus dem Jahr 1935 sorgte in jüdischen Kreisen für einen Skandal. Denn Schalom Ben-Chorin wies dem »Rabbi Jesus« einen Platz zu »an der Seite jener, welche die Revolution des Herzens in Israel vollzogen«.1958 gründete Ben-Chorin mit seiner Frau und anderen die Har-El-Synagoge, die erste Reformgemeinde Israels in Jerusalem. Die Grundwerte dieser Synagogengemeinde - Gleichberechtigung und Toleranz - wurden als bewusste Antwort auf religiösen Fundamentalismus und theologische Kleingeistigkeit formuliert. Sein Sohn Tovia Ben-Chorin ist heute Rabbiner in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Schon 1956, zu einer Zeit, da die Mehrheit der Deutschen von einer Kultur des Erinnerns nichts wissen wollte, da Gefühle wie Scham über eigenes und kollektives Versagen als unzulässige Befindlichkeiten galten, reiste Schalom Ben-Chorin nach München. Diese erste Reise verlief freilich, wie er später festhielt, ernüchternd: »Es schreibt sich so leicht hin - 'besuchte ich München zum ersten Male wieder.' Es ist furchtbar schwer. Es hat Jahre gedauert, bis ich die Kraft zu diesem Wiedersehen erlangte, ermuntert durch viele Einladungen. Ohne diese hätte ich die Reise in die Vergangenheit nie gewagt. Man stellt sich vielleicht ein erstes Wiedersehen schön und rührend vor. So lange hast Du von München geträumt, jetzt bist du da. Das Verlorene steht Dir wieder offen ... Nichts von alledem. Dieses erste Wiedersehen glich einer Schockbehandlung, und tatsächlich hatte es therapeutische Wirkungen. Die Träume hörten auf ... wenigstens für einige Zeit. Die Stadt war entzaubert. München leuchtete nicht.«

Gleichwohl erneuerte und intensivierte Ben-Chorin in den folgenden Jahren die Kontakte in die alte Heimat. Sein Name »Sohn der Freiheit« war dabei Programm, er war frei im Denken.

»Jesus ist für mich der ewige Bruder «

Zusammen mit anderen hob Schalom Ben-Chorin 1961 die Arbeitsgemeinschaft »Juden und Christen« beim Deutschen Evangelischen Kirchentag aus der Taufe. Er war Dozent und Gastprofessor in Jerusalem, Tübingen und München.

1999 starb Ben-Chorin im Alter von 85 Jahren in Jerusalem. Dort, in der »Hauptstadt der Religionen«, hatte er sich ein Zentrum des christlich-jüdischen Dialogs gewünscht; der Islam sei noch nicht so weit. Aber Christentum und Judentum stünden sich näher, als den meisten bewusst sei, sie müssten nur ihre gemeinsamen Wurzeln erkennen. Auf jüdischer Seite war die Resonanz verhalten. Die Christen reagierten umso respektvoller, als er in Büchern wie »Bruder Jesus«, »Mutter Mirjam« oder »Weil wir Brüder sind« für eine Wiederentdeckung der jüdischen Wurzeln des Christentums und der zutiefst jüdisch geprägten Religiosität seines Gründers plädierte.

»Jesus ist für mich der ewige Bruder, nicht nur der Menschenbruder, sondern mein jüdischer Bruder«, schrieb Schalom Ben-Chorin. Als Gott und Erlöser konnte er ihn nicht anerkennen: »Es ist nicht die Hand des Messias, diese mit den Wundmalen gezeichnete Hand.« Den Glauben der Christen an den Gottessohn Jesus nahm er aber sehr ernst und versuchte ihn »um seinet- und um meinetwillen« zu begreifen.

Auch Ben-Chorin stellte die klassische Frage »Können wir nach Auschwitz noch glauben? Können wir Gott vergeben, dass er dem entmenschten Menschen nicht gewehrt hat?« Die einzig mögliche Antwort fand er im Neuen Testament, bei Paulus im Hohelied der Liebe: Die Liebe »hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf.« Denn der Hass dürfe nicht weitergegeben werden von Generation zu Generation.

»Muss man nicht ein bisschen verrückt sein, um die Hoffnung nicht aufzugeben in dieser Welt?«, fragte er zweifelnd - und textete ein Lied, das als erstes jüdisches Poem Aufnahme in das Gesangbuch fand: »Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt? Dass das Leben nicht verging, so viel Blut auch schreit, achtet dieses nicht gering, in der trübsten Zeit.«

Sonntagsblatt Bayern, Nr. 30, 21.7.2013

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