Brückenbauer aus der Zweibrückenstraße 
Ein Münchner Protestant erinnert an einen Münchner Juden 
von Hans Dieter Strack

Die Offenheit seines Hauses und die warme Ausstrahlung, die von ihm und seiner Frau ausgingen, hat viele Menschen angezogen, ganz unabhängig von ihrer konfessionellen oder weltanschaulichen Herkunft. Ich sehe ihn vor mir, wie er auf mich zukam mit dem Stock in der Linken und der Zigarre in der Rechten, bedeckt mit der unvermeidlichen Baskenmütze und liebevoll begleitet von seiner Frau.

Ich sehe ihn vor mir am Rednerpult, wenn er nach der richtigen Brille suchte, oder am Büchertisch, umgeben von einer großen Fangemeinde. Und ich habe den Klang seiner Stimme im Ohr, unverwechselbar besonders beim Zitieren aus seiner hebräischen Bibel. Und wenn ich vor meinem Bücherregal mit den Judaica stehe, dann stoße ich in seinen Büchern ganz oft auf eine persönliche Widmung.

Den Eintrag »In Jerusalem am 20.8.1988« hat er übrigens mit einem Zusatz versehen: »Gal. 6,2«, das heißt er, der Jude, erinnerte an das Wort des Apostels Paulus »Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen«. Ich sehe darin nicht nur sein offenes Herz für andere Glaubensweisen und seine ökumenische Weite, sondern auch seine Überzeugung, dass Juden und Christen der Welt gegenüber eine gemeinsame Aufgabe haben, einen Auftrag, der noch lange nicht erfüllt ist.

In einem dieser Bücher in meinem Regal fand ich zufällig ein paar Notizen, mit denen ich ihn bei einem seiner Vorträge begrüßt habe. Der Abend stand damals - in Anlehnung an seine eigenen Erinnerungen an den Freund und Lehrer Martin Buber - unter der Überschrift »Zwiesprache mit Schalom Ben-Chorin«. Und ich habe gesagt: »Diese Überschrift erinnert an die Kindheit in der Zweibrückenstraße. Ein Brückenbauer ist dort herangewachsen, in einem Haus, das sinnigerweise auch noch »Zur Post« heißt. In seinen Büchern und Aufsätzen, in seinen Vorträgen und in den vielen persönlichen Briefen ist Schalom Ben-Chorin gleichsam zum Postboten geworden, zum Boten einer Nachricht, nämlich der guten Nachricht von der Versöhnung. Diese Botschaft ist - ich zitiere immer noch - nicht zuletzt eine politische Herausforderung, und wir täten dem Versöhnungswerk dieses Mannes unrecht, wollten wir sie auf den geistigen Dialog zwischen Christen und Juden beschränken. »Ha schatta abdei, le shana habaa b'nei chorin - heute sind wir Sklaven, nächstes Jahr werden wir Söhne der Freiheit sein« heißt es im Brotsegen zu Beginn der Sederfeier und dieser Segen enthält eben die Botschaft, die Fritz Rosenthal zu seinem Lebenswerk gemacht hat: Damit wir nicht nur Frauen und Männer des Friedens, sondern auch Töchter und Söhne der Freiheit werden - 'B'nei Chorin'.«

Ich durfte Schalom Ben-Chorin begegnen, und weil jede wirkliche Begegnung unter Menschen das Voneinander-Lernen mit einschließt, erfuhr ich es ungeheuer beglückend, wie sehr er auch selber dazu bereit war. Noch heute spüre ich, wie mich sein Zugewandtsein berührt hat: sein Interesse an dem um so viele Jahre Jüngeren, sein Zuhörenkönnen und sein Verstehen. »Einer trage des anderen Last« - und das geschichtliche Erbe unserer Väter hat meine Generation ja nun wirklich belastet.

Was also habe ich selber in dieser Zwiesprache gelernt? Das ist einmal das untrennbare Ineinander und Miteinander von Glauben und Leben. »Man kann das Judentum nicht aus Büchern kennenlernen«, hat er einmal gesagt, »sondern muss es als gelebte Wirklichkeit erfahren, mit der Schönheit des Sabbats und der Feste und mit den Härten eines Anspruchs, der oft unsere Möglichkeiten übersteigt, und mit der Gefahr einer Erstarrung in Traditionen, die den lebendigen Glauben zu ersticken drohen.« Genauso könnte ich es auch als Christ sagen, dann freilich im Blick auf meine eigene Traditionen.

Wichtiger noch ist mir aber als Lernerfahrung die Bedeutung des Dialogs bzw. - umfassender noch - die Bedeutung des Beziehungsgeschehens überhaupt. Ein »Baumeister des Dialogs« wurde Schalom Ben-Chorin genannt. Für mich wurde er auch zum Baumeister eines ganz neuen theologischen Denkens, eines Denkens, in dem das »In-Beziehung-Sein« im Mittelpunkt steht.

Griechische Verfremdung und lateinisches Erbe haben dazu geführt, dass die christliche Theologie diese ihre jüdischen Wurzeln vergessen und verfolgt hat. Und dabei wäre es doch - zumal in einem Zeitalter der Kommunikation und der alles beherrschenden Kommunikationsmedien - so ungeheuer wichtig für die Vermittlung auch der christlichen Botschaft, an das »In-Beziehung-Sein« Gottes zu erinnern, daran, dass Gott nur aus der Beziehung erkannt werden kann.

Hier schlägt mein Herz und hier hat Schalom Ben-Chorin in seiner Poesie und in seiner Prosa zum Ausdruck gebracht, was in Worte zu fassen mir selber immer unmöglich war oder wo ich spürte, dass Worte nicht ausreichen, um eine transzendentale Berührung, um ein Im-Innersten-Angerührtsein zu beschreiben. Darum sind ja auch seine Gedichte so wichtig, um ihn ganz zu verstehen.

»Der Mensch wird am Du zum Ich«! Schalom Ben-Chorin hat diese bekannte Quintessenz Martin Bubers mit seinem Leben und Denken anderen weitergegeben, und wer ihn darauf ansprach, dem konnte er antworten, dass menschliche Existenz - wenn sie nur aus der Beziehung heraus gelebt und damit dialogisch wird - dass menschliche Existenz dann transparent wird, ja dass sie nur dann transparent werden kann für Gott. Er konnte dann weit ausholen und die Geschichten der Erzväter erzählen, die Geschichten von Abraham, Isaak und Jakob, er konnte aber auch an verborgene Texte in der christlichen Tradition erinnern wie zum Beispiel an den des Mystikers Angelus Silesius, den ich hier an das Ende stellen möchte. »Nichts ist als Ich und Du. Und wenn wir zwei nicht sein, so ist Gott nicht mehr Gott und fällt der Himmel ein«.

Dieser Text basiert auf der Ansprache, die Hans Dieter Strack - von 2000 bis 2004 evangelischer Stadtdekan von München - bei der Enthüllung einer Gedenktafel für Schalom Ben-Chorin an dessen Geburtshaus in der Zweibrückentraße in München im Juli 2011 hielt. Strack wurde 26 Jahre nach Ben-Chorin 1939 in München geboren. Der Ingenieurssohn wuchs in Freiburg im Breisgau auf und studierte ab 1958 Theologie in Heidelberg, Göttingen, Tübingen und Zürich. 1974 wurde Strack der erste theologische Leiter des Evangelischen Bildungszentrums in München (heute: Evangelische Stadtakademie). Er lebt in Ebersberg.

Sonntagsblatt Bayern, Nr. 30, 21.7.2013

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