Ein wunderbarer Pädagoge 
In Jerusalem hielt Schalom Ben-Chorin engen Kontakt zur deutschsprachigen evangelischen Gemeinde
von Johannes Friedrich

Da saß Schalom Ben-Chorin: Baskenmütze, rot gepunktete Fliege, rote Hosenträger, Samtjackett, eine Zigarre in der Hand, vor sich ein Glas Rotwein, und begrüßte uns herzlich. Wir trafen uns beim Abschiedsempfang durch die Stadt Jerusalem für Ralph Giordano im Gästehaus des Jerusalemer Oberbürgermeisters in Mishkenot Shaananim bei der Windmühle. Sofort wandte er sich freundlich an unsere beiden Töchter, unterhielt sich mit ihnen und lud dann die ganze Familie zu einem Abendessen am Erev Schabbath, dem abendlichen Beginn des Sabbats, ein.

Bei diesem Abendessen, das seine Frau Avitha hervorragend vorbereitet hatte, erwies er sich als wunderbarer Pädagoge, der unseren Töchtern die Bedeutung der einzelnen Elemente dieser Mahlzeit so erklärte, dass sie dies noch Jahre später nachdrücklich in Erinnerung hatten.

Wir waren von 1985 bis 1991 als Pfarrfamilie bei der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde tätig. Und wir hatten einen sehr guten Kontakt zu Schalom Ben-Chorin und zu seiner liebenswürdigen Frau. Seit in München das Arbeitszimmer Ben-Chorins im Staatsarchiv eingerichtet wurde, kann man auf seinem Schreibtisch sein Adressbuch liegen sehen, in dem unser Name mit unserer Jerusalemer Telefonnummer zu finden ist. Das Zimmer sieht genauso aus, wie wir es von diesem Abendessen her in Erinnerung haben, wo wir den Sherry im Arbeitszimmer genießen konnten.

Ähnlich erhellend wie an jenem Sabbatabend waren seine Vorträge bei unseren Gemeindeabenden über Bruder Jesus, in denen Jesus als Prototyp des leidenden Juden vorgestellt wurde, und über andere Themen des jüdisch-christlichen Miteinanders. Dass Jesus Jude war, jüdisch gedacht und jüdisch geglaubt hat, hat uns Schalom Ben-Chorin überdeutlich gemacht. Dabei muss man nicht allen seinen Folgerungen zustimmen. Ob Jesus wirklich verheiratet war, wie er meint, weil ein Rabbi ohne Ehefrau nicht denkbar sei, kann ruhig dahingestellt bleiben.

In der von ihm mitgegründeten Reformgemeinde Har EL waren wir öfter zu Gast, wir wurden immer willkommen geheißen und auf Deutsch begrüßt. Das war etwas Besonderes, denn die deutsche Sprache war in Israel damals noch tabu.

Das eindrücklichste Bild von ihm, das uns zeitlebens im Gedächtnis bleiben wird, war bei der Konfirmation unserer Tochter Magdalena in Jerusalem in der Erlöserkirche. Wir hatten Ben-Chorin eingeladen, an diesem Gottesdienst mitzuwirken. Der alte und gebrechliche Mann schritt zum Lesepult, um eine Perikope aus den Psalmen vorzulesen, auf Hebräisch und auf Deutsch. Dem schloss er einen persönlichen Segenswunsch an die Konfirmandinnen und Konfirmanden an. Als er danach die Stufen vom Pult wieder herabschreiten musste, was ihm schwerfiel, sprang der junge arabische lutherische Pfarrer Ibrahim Azar, den wir ebenfalls um seine Mitwirkung bei diesem Gottesdienst gebeten hatten, auf und stützte ihn - ein wunderbares Bild jüdisch-christlich-arabischer Geschwisterschaft.

Schalom Ben-Chorin konnte nicht nur packend erzählen und reden, er konnte auch zuhören - und er konnte sich ärgern. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, kam er wieder darauf zu sprechen: In Israel werden Ehen ausschließlich vor den Geistlichen der jeweiligen Religionen geschlossen, nicht auf dem staatlichen Standesamt. So konnte ich - anders als in Deutschland - Trauungen vollziehen, ohne nach dem Trauschein fragen zu müssen. Juden konnten dies aber nur vor einem orthodoxen Rabbiner tun, nicht vor einem Reformrabbiner. Und so sagte Ben-Chorin immer wieder zu mir, dass er dies für wirklich ungerecht halte, dass ich als christlicher Pfarrer in seinem Heimatland Paare verheiraten dürfe, aber er als Reformrabbiner nicht.

Ben-Chorin war ein ernsthafter Theologe, aber er war auch ein humorvoller und lebenslustiger Mensch. Er war bekannt dafür, dass er jeden Freitag, vor Beginn des Schabbats, in einem bekannten Café in der Ben-Yehuda-Straße Hof hielt. Bei einem Glas Rotwein konnte man sich zu ihm setzen und ganz ungezwungen mit ihm reden.

Wir Christen in Deutschland haben Schalom Ben-Chorin sehr viel zu verdanken. Wir beide haben ihm persönlich sehr zu danken. Er hat unser Leben bereichert, hat uns vieles gelehrt, und es war ein Geschenk, ihn kennen zu dürfen.

Der frühere bayerische Landesbischof Johannes Friedrich und seine Frau Dorothea begegneten Schalom Ben-Chorin in Jerusalem beruflich und privat.

Sonntagsblatt Bayern, Nr. 30, 21.7.2013

Schalom Ben-Chorin

  Er wurde als Fritz Rosenthal am 20. Juli 1913 in München geboren, er starb am 7. Mai 1999 in Jerusalem. Er war Journalist und Religionswissenschaftler. Ben-Chorin setzte sich vor allem für den christlich-jüdischen Dialog, die Überwindung des christlichen Antisemitismus und für die Möglichkeit einer Theologie nach Auschwitz ein. Sein Name bedeutet übersetzt »Frieden, Sohn der Freiheit«.

  Ben-Chorin stammte aus einer gebildeten assimilierten jüdischen Kaufmannsfamilie. Nach dem Abitur am Luitpold-Gymnasium München absolvierte er ab 1928 eine Buchhändlerlehre bei Schlomoh Monheit (Ewer Buchhandlung) und studierte von 1931 bis 1934 Germanistik und Vergleichende Religionswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 1935 emigrierte er nach Verhaftungen und Misshandlungen nach Palästina.

  In Jerusalem arbeitete er von 1935 bis 1970 als Journalist. Er gründete 1958 die erste jüdische Reformgemeinde Israels in Jerusalem und war 1961 Mitgründer der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag. 1970 bis 1987 war er Dozent und Gastprofessor in Jerusalem, Tübingen und München.

  Für seine theologischen und schriftstellerischen Verdienste erhielt er viele Ehrungen, u. a. den Leo-Baeck-Preis (1959), das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (1969), die Buber-Rosenzweig-Medaille (1982), das Große Bundesverdienstkreuz (1983), den Bayerischen Verdienstorden (1986), die Goldene Bürgermedaille der Landeshauptstadt München (1988), das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern (1993) sowie den Ehrendoktortitel der Universitäten München (1988) und Bonn (1993).

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