„Die Synagogen brennen“
Zeitzeugenberichte aus Frankfurt am Main

Bericht des Rechtsanwalts Julius Meyer aus dem Jahr 1940:

Zehnter November. Um neun Uhr gehe ich von Zuhause fort. Ich begegne Dr. Pomeranz. Der sonst sehr Wortkarge ist es heute ganz besonders. Kurze, präzise Sätze, für keinen Dritten bestimmt: „Es ist eine neue Verhaftungswelle im Gange.“ Nach einigen Schritten: „Die Synagogen brennen.“ Ich habe ihn nicht deutlich verstanden, bringe auch keinen Zusammenhang zustande. Er wiederholt: „Die Sy-na-go-gen bren-nen.“ Jetzt verstehe ich. Jetzt weiß ich, man hat uns den Krieg erklärt, nachdem man uns schon vorher, seit Jahren, wehrlos gemacht hat.

Zunächst telephonieren wir von einem Telephonautomaten aus an unsere Freunde. Hierbei ergibt sich, dass die Polizei nach einem Kollegen gesucht hat, der früher Mitglied des Gemeindevorstands war und längst ausgewandert ist. Die Liste, nach der sie arbeiten, war also schon lange vorbereitet.

Ein Trupp von Männern kommt die Straße herunter, erkennbar geteilt in solche, die führen, und solche, die in deren Mitte geführt werden … Gerade an der Straßenecke ist das Café Falk, eines der paar jüdischen Cafés, denen die Bewirtung jüdischer Kundschaft gestattet ist. Es muss allerhand dort los sein. Vor dem Haus stehen etwa 20 Leute, zum Teil wohl Neugierige. Sie bilden also die „erregte Volksmenge“, die in solchen Fällen nötig ist und die sich in Zeitungsberichten dann herrlich schön schildern lässt. Also weiter, um die nächste Straßenecke. Da drüben wird mein Nachbar zur Polizei geführt. Er scheint nicht zu wissen, was eigentlich los ist, er ist wohl unmittelbar aus seiner Wohnung abgeholt worden. Gepäck hat er nicht bei sich. Sein Gesicht prägt sich mir ein, wie er mich so anblickt, wie ein Verwundeter, der nicht begreifen kann, warum gerade ihm das zustoßen muss. Die Augen so staunend und fragend, mich bittend.

Ich rufe von einer Fernsprechzelle aus zu Hause an. Wie ich heraustrete, kommt mir gerade meine Schwester entgegen, zusammen mit meinem Bruder. Mein Bruder Alfred erzählt: Sein Geschäft in der Goethestraße hat er heute nicht geöffnet; ein Freund aus früheren Tagen, der jetzt in der politischen Bewegung steht, hat ihn gewarnt. Mehrere jüdische Geschäftslokale sind zerschlagen und zerstört worden. Wüst gehaust haben sie im Café Rothschild, in dem kein Stuhl ganz geblieben ist. Alfred steigt auf unsere Bitte in die Straßenbahn, um nach Hause zu fahren. Ich habe ihn nie wiedergesehen.

Im Ostend und in der Innenstadt haben die Horden getobt und alles zerstört, was sie in jüdischen Wohnungen und Geschäften erreichen konnten. Gegen Abend gehe ich mit meiner Frau in die Wohnung meines Bruders Alfred. Er war vormittags mit seinem Jungen noch im Geschäft, um zu retten und zu sichern, was gerettet werden kann. Die Horden sind ihnen aber gefolgt und sie mussten schleunigst kehrtmachen. Sie beide haben gesehen, wie der schöne Geschäftsladen kurz und klein geschlagen worden ist. Nachmittags gegen fünf Uhr ist Alfred wieder weggegangen. Wir warten. Aus Bruchstückberichten, die uns von verschiedenen Seiten zugehen, können wir uns im Laufe des Tages das Bild zusammensetzen: Alfred ist im Ostend gewesen, um zu helfen, wo Hilfe nötig war. Alfred ist festgenommen worden und wohl schon abtransportiert.

Dann kommt der Freitagabend heran. Wisst Ihr, was ein jüdischer Freitagabend ist? Das Schönste im Familienleben. Die Flucht in den Sabbat. Wir sind mit unseren Kindern bei den Schwiegereltern. Jeder von uns weiß, was die Uhr geschlagen hat. Abschiedsstimmung. Niedergeschlagenheit. Aber diesen Freitagabend, da wir noch zusammen sind, wollen wir als Gewinn buchen. Höchstens bis morgen wird die Galgenfrist laufen. Also heute noch genießen. Die Kinder bleiben, um ihnen hässliche Bilder zu ersparen, bei den Großeltern. Der Abschied ist kurz, die Burschen sehen mich an, keiner sagt ein Wort, sie sind Männer an diesem Tag.

Im Büro sind die Akten geordnet für den Fall der Abberufung. Mit dem 30. November wird die Zulassung aller jüdischen Rechtsanwälte erlöschen. Samstagmorgen, 12. November: Ich stehe früh auf, denn ich rechne damit, dass man mich schon früh holen wird. Um dreiviertel sieben kommen sie. Zwei SS-Männer, von ihnen einer ein hoher Chargierter, und ein Stapo-Beamter in Zivil. Meine Frau holt mir noch Schokolade, packt mir zur Aktenmappe noch das kleine Reiseköfferchen, und nun wird es Ernst.

Im Polizeibüro werde ich abgeliefert. Während ich warte, wird Kollege J. hereingebracht. In einem Trupp werden wir nach der Synagoge nebenan geführt. Der Raum füllt sich schnell mit Bekannten, alten und jungen. Dann werden wir in einen Omnibus verladen und fahren ab, Richtung Festhalle.

Die Gedanken sind wehmütig und doch ist die Aufmerksamkeit aufs Äußerste angespannt. Wir fahren durch die wohlbekannten alten Straßen. Hier bin ich mit meinen Jungen spazieren gegangen und habe ihre lieben Fragen zu beantworten gesucht. Hier in der Festhalle hat sich so vieles ereignet, was für den modernen Großstädter unvergesslich geblieben ist: Luftschiff-Ausstellung, Sängerwettstreit, Turnfeste, Konzerte, festliche Aufführungen.

Nun werden wir in die Halle geführt und ein rascher Blick sagt uns, was die Uhr hier geschlagen hat. Denn da saust ein keuchender Mensch durch die Halle und hinter ihm her ein SS-Mann und kommandiert: marsch, marsch – und immer so weiter. Und dort wiederholt sich dasselbe Schauspiel mit einem anderen Mann.

Es beginnen Stunden, wie ich sie noch nie erlebt habe. Das Kommando lautet: „Hände auf den Rücken.“ Und während die Hände auf dem Rücken sind, kriechen wie ein Wurm. Unser Peiniger hilft mit den Füßen nach. Das ist so zu denken, dass man sich von einer Seite auf die andere wälzt und mit Knien und Schultern vorwärts stemmt.

Als die Uhr neun zeigt, bricht die Zeit unserer Abreise an. Wieviele Menschen doch vor der Halle stehen und unserer Abfahrt zusehen, alle still. Südbahnhof – raus! Da stehen dichtgedrängt Scharen von Menschen. Kopf und Nerven zusammen genommen! Ein wüstes Gejohle geht los und empfängt uns. Durch!

 

„Mache Se, dass Se wegkomme !“

Erinnerungen des Kaufmanns Herbert Kruskal, aufgezeichnet 1961:

Am Morgen des 10. November fuhren mein Vater und ich mit der Linie 6 nach der Synagoge Friedberger Anlage. Am Uhrtürmchen kam Hugo Bondi, Mitglied des Synagogencomitees, auf uns zu: „Meine Herren, gehen Sie nach Hause, die Synagoge brennt!“ Die Türen waren weit auf, und innen brannte es.

Es drang nicht in mich, dass der große Tag der „Kristallnacht“ und des Pogroms gekommen war. Ich glaubte, es sei der verbrecherische Anschlag Einzelner. Wir fuhren zur Unterlindau-Synagoge. Diese stand zwischen anderen Häusern, nicht wie auf dem Börneplatz und Friedberger Anlage, die auf freiem Platz oder in einem Hof gebaut waren.

Wir kamen noch zum Anfang. Uniformierte Nazis kamen herein und wollten alle Anwesenden mitnehmen. Mein Vater zeigte seinen englischen Pass und ich meinen holländischen Pass, und die Nazis forderten alle auf, schleunigst nach Hause zu gehen. Damals respektierte man noch westeuropäische Auslandspässe und wollte Verwicklungen vermeiden. Als wir nach Hause kamen, in den Reuterweg 82, bekam ich, dem jede äußerliche Gefühlsregung fremd war, einen Weinanfall. Das Telefon läutete. Henny Goldschmidt, die Frau unseres Freundes Dr. Salomon Goldschmidt, rief an. Was solle sie tun, ihr Mann wolle abends zurückkommen. Man verhafte überall Juden. Andere riefen an, ob sie zu uns kommen könnten, sie würden sich in unserer Wohnung sicherer fühlen.

Rabbiner Josef Horovitz war, bevor er zu uns kam, bereits verhaftet gewesen und dann provisorisch freigelassen. Ich fragte den Rabbi um Rat. Er riet, unter allen Umständen wegzugehen, den Onkel meiner Frau, Rabbiner Dr. Gnadenwitz und Familie, schriftlich mit der Hut der Wohnung zu beauftragen und ihn, Rabbi Horovitz, ins Rothschild-Spital am Röderbergweg zu bringen, wo man ihn vielleicht aufnehmen würde und er womöglich vor Verfolgung sicher sei.

Wir bereiteten in den frühen Morgenstunden des Freitags unsere Abreise vor. Gegen acht Uhr in der Frühe hörten wir das Geklirr von Fensterscheiben. Eine Horde schlug nebenan und vis-à-vis die Fenster bei Juden ein. So um neun Uhr herum kam der Hausmeister Merz vom Geschäftshaus Liebfrauenberg 29: „Herr Kruskal, mache Se, dass Se alle wegkomme, so schnell wie meglich. Sie hawwe ja ka Ahnung, was sich dut.“ Ich brachte in meinem Auto Rabbi Horovitz ins Rothschild-Spital. Dr. Godchaux Schnerb sagte, alles liege voll, auf den kleinen Plätzen habe man die Juden blutig geschlagen, er dürfe nicht mehr sagen, wir sollten sehen wegzukommen.

Ich fuhr nach Hause. Nochmals an der rauchenden Synagoge Friedberger Anlage vorbei, um in der Fichtestraße der Frau des Rabbiners Horovitz zu sagen, wo ihr Mann sei. Schnell noch zu Dr. Siegfried Oppenheimer. Aber Dr. Oppenheimer war schon von der Gestapo abgeholt. Ich konnte nur die Frau sprechen.

Meine Eltern und meine Frau hatten das Nötigste gepackt. Wir wollten nicht zu früh an der Bahn herumstehen, weil Hausmeister Merz uns erzählt hatte, die Bahnhöfe seien für Juden gesperrt, man fange sie ab und schleppe sie mit. Der Zug war fast leer. Mein 76-jähriger Vater hatte durch die Aufregung sein Sprechvermögen verloren. Erst abends, als wir durch Holland fuhren, gewann er es wieder.

Frankfurter Rundschau, fr-online

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