Unbekannte stehlen frischverlegte Stolpersteine in Gräfenhausen
Gedenken – Die Kriminalpolizei hat die Ermittlungen zu den Tätern übernommen 

Ein Pappschild greift derzeit den Text wieder auf, der auf den neu verlegten Stolpersteinen in der Gräfenhäuser Steinstraße an die ermordete Familie Collin-Cahn erinnerte. Sieben Steine wurden in der Nacht zum Donnerstag entwendet.

Nur kurze Zeit nach der Verlegung von Stolpersteinen am Mittwoch in Gräfenhausen haben unbekannte Täter in der Nacht zum Donnerstag die in der Steinstraße verlegten sieben Gedenksteine gestohlen.

Der Weiterstädter Bürgermeister Peter Rohrbach zeigt sich im ECHO-Gespräch am Donnerstagmittag geschockt und verärgert: „Das ist eine beschämende Aktion. Es ist mir unverständlich, dass jemand so etwas tut. Wir müssen uns vor denjenigen schämen, die damals in der Nazi-Zeit verfolgt wurden.“ Rohrbach vermutet einen politischen Hintergrund, „das ist doch kein Lausbubenstreich.“ Anscheinend von Rechtsradikalen seien die Steine wieder aus dem Straßenpflaster herausgebrochen worden.

Die Stadt Weiterstadt will nun die Steine in der Gräfenhäuser Steinstraße erneut setzen lassen. Man werde sich nicht abhalten lassen. „Wir legen sie natürlich erneut und werden versuchen, diejenigen zu kriegen, die das getan haben.“ Das versucht auch die Polizei, die Kripo in Darmstadt hat laut Polizeisprecherin Andrea Löb die Untersuchungen aufgenommen und ermittelt „in alle Richtungen“. Ob von einem rechtsradikalen Hintergrund auszugehen ist, konnte Löb weder ausschließen noch bestätigen. Die Polizei hofft derzeit auf Zeugenhinweise unter der Rufnummer 06151 9690.

Es ist nicht der erste Stolperstein-Diebstahl im Kreis. Im benachbarten Griesheim beispielsweise waren vor knapp einem Jahr ebenfalls Steine gestohlen worden (wir berichteten), zwei Stück, die schon länger zuvor verlegt worden waren. Auch damals blieb offen, ob es sich um einen politisch motivierten Vorfall gehandelt hatte. Aber auch in Griesheim wurden, wie dies nun auch die Stadt Weiterstadt plant, die Steine an gleicher Stelle wieder ersetzt.

Rund 50 Weiterstädter waren am Mittwochnachmittag zu den ersten Stolpersteinverlegungen in Weiterstadt im Stadtteil Gräfenhausen gekommen. Während der Verlegung der Stolpersteine erinnerte die hauptamtliche städtische Archivarin Maxi Jennifer Braun an die damals Verfolgten und an die Geschichte der beiden Gräfenhäuser Familien, derer nun mit den Stolpersteinen gedacht wird.

Die jüdische Familie Hirsch lebte in der heutigen Hauptstraße 22. Die Straße hieß früher Langgasse und war 1933 in „Straße der SA“ umbenannt worden. Julius Hirsch war Kaufmann und Viehhändler, er und seine Frau Sofie hatten eine Tochter, Hilde Regina, die am 26. Februar 1922 geboren wurde. Wegen NS-Repressionen musste der Betrieb schließen, erinnerte die Archivarin. „Julius, Sofie und Hilde Regina Hirsch mussten am 18. März 1942 mit als letzte jüdische Familie ihre Heimat Gräfenhausen verlassen“, sagte Braun.

Von Darmstadt aus wurden sie ins Ghetto Piaski deportiert (Ostpolen). „Ihr weiteres Schicksal ist nicht mehr im Einzelnen zu ermitteln.“ Menschen im Ghetto Piaski wurden meistens im rund 100 Kilometer entfernten Vernichtungslager Belzec bei Lublin ermordet, erklärte Braun. Auch Julius Hirschs vier Geschwister wurden umgebracht.

In der Steinstraße 4 lebte die Familie Collin-Cahn. Händler Carl Collin (1880-1929) war Mitglied im Gesangverein, Turn-Gauvorsitzender, Vorstandsmitglied in der Demokratischen Partei, des Kriegsbeschädigtenvereins, des Milchhändlerverbandes und Mitbegründer des Karnevalvereins, berichtete Braun. Die Witwe führte die Geflügel- und Milchhandlung mit Metzgerei weiter. Im Haus lebte sie mit ihren Töchtern Regina sowie Henny, die mit dem Metzger Siegmund Cahn verheiratet war. Bertha Collin wurde 1938 gezwungen, die Metzgerei sowie die Geflügel- und Milchhandlung aufzugeben.

Henny und Siegmund wanderten 1939 mit ihren kleinen Söhnen Karl (8), Günter (6) und Manfred (3) nach Rotterdam aus. Die geplante Emigration in die USA schafften sie nicht mehr. Nach der Eroberung Hollands kamen sie über Westerbork und Theresienstadt ins KZ Auschwitz. Keiner überlebte. Bertha Collin wurde 1941 ins KZ Fort IX bei Kaunas in Litauen deportiert und am 25. November 1941 ermordet.

Regina Collin allerdings blieb am Leben. „Zusammen mit der jüdischen Familie, bei der sie in Frankfurt in Stellung war, war sie im Juni 1937 nach Zürich gezogen“, sagte Archivarin Braun. „Später ging sie nach New York.“ Als Regina Parker starb sie am 19. Februar 2009 in Manhattan im Alter von 95 Jahren.

Echo Online, 8.11.2013

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