Antisemitismus: Neue Studie untersucht Erfahrungen europäischer Juden 

"Ich finde es nahezu unerträglich, dass Gottesdienste nur unter Polizeischutz stattfinden."
"Antisemitismus ist ein Grund für mich, Deutschland zu verlassen. Ich möchte meine Familie vor der Gefahr bewahren."
"Die antisemitischen Anfeindungen, die ich erlebt habe, kamen weder von Neonazis noch von Linken. Sie kamen von ganz normalen Menschen aus der politischen Mitte."

Wie leben Juden in Europa? Können sie ihren Glauben ungehindert ausüben? Wie viel Feindseligkeit wird ihnen 75 Jahre nach der Reichspogromnacht entgegengebracht?

Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte hat nun die Erfahrungen von Juden in acht europäischen Ländern vergleichend untersucht. Die Befragten stammen aus Belgien, Frankreich, Ungarn, Italien, Lettland, Schweden, Großbritannien und Deutschland. Es sind die Länder, in denen Schätzungen zufolge 90 Prozent der europäischen Juden leben. 5847 Menschen nahmen an der Online-Befragung teil, nach eigener Auskunft gehören sie dem jüdischen Glauben an.

Antisemitismus und seine Folgen für den Alltag

Das Ergebnis gibt einen Einblick in die Wahrnehmung, die Erfahrungen und das Selbstverständnis europäischer Juden. Die Studie liefert keine absoluten Zahlen zu antisemitischen Übergriffen , sie verdeutlicht vielmehr, wie groß die Menschen die Gefahr solcher Übergriffe einschätzen - und wie sehr diese Angst ihr Leben prägt.

  • Zwei Drittel der Befragten gaben an, Antisemitismus sei ein Problem in Europa, drei Viertel verzeichneten gar einen Anstieg der Anfeindungen in ihrem Heimatland in den vergangenen fünf Jahren.
  • Jeder zweite Befragte fürchtete, verbal angegriffen zu werden.
  • Ein Drittel der Befragten fürchtete gar, im Heimatland auch körperlich angegriffen zu werden.
  • Von den befragten Großvätern und Großmüttern sagten rund 50 Prozent, sie fürchteten, ein Enkelkind werde angegriffen, sofern es jüdische Symbole öffentlich sichtbar tragen würde.
  • Mehr als jeder zweite Befragte gab an, in den vergangenen zwölf Monaten mit der Äußerung konfrontiert worden zu sein, dass der Holocaust nicht stattgefunden habe oder aber übertrieben dargestellt werde.
  • Ein Viertel der Befragten gab an, in den vergangenen Monaten angegriffen worden zu sein, vier Prozent erlebten körperliche Gewalt.
  • Ein Viertel der Befragten gab an, in den vergangenen zwölf Monaten diskriminiert worden zu sein wegen des jüdischen Glaubens.
  • Von den berufstätigen Befragten gab jeder Zehnte an, an seinem Arbeitsplatz wegen seines jüdischen Glaubens schon einmal diskriminiert worden zu sein. Ebenso wie jeder Zehnte, der auf Jobsuche war.

Die Studie hat auch untersucht, welche dieser Vorfälle Eingang finden in offizielle Statistiken. Die überwiegende Zahl der Befragten gab an, den gravierendsten antisemitischen Angriff nicht bei einer Behörde oder einer Organisation gemeldet zu haben - weil sie ohnehin nicht mit einer angemessenen Verfolgung rechneten.

Der Kriminalpolizeiliche Meldedienst (KPMD) hat für Deutschland seit 2009 einen Rückgang antisemitischer Straftaten verzeichnet. Das allein sagt aber nichts aus über das Empfinden der Menschen in Deutschland. So gaben 63 Prozent der befragten Juden in Deutschland an, jüdische Symbole wie die Kippa in der Öffentlichkeit aus Angst vor Angriffen zu vermeiden. 25 Prozent haben nach eigener Angabe in den vergangenen fünf Jahren darüber nachgedacht, Deutschland zu verlassen, weil sie sich in der Bundesrepublik nicht sicher fühlen. Die meisten der aus Deutschland stammenden Befragten gaben an, der Antisemitismus sei das größte Problem, das sich ihrem Heimatland derzeit stelle. In allen anderen sieben europäischen Staaten galt den Befragten Arbeitslosigkeit als größte Herausforderung.

Bedeutung des Nahost-Konfliktes

In Deutschland sind antisemitische Anfeindungen deutlich vom Nahost-Konflikt geprägt. 49 Prozent der befragten Juden in Deutschland gaben an, kürzlich mit der Aussage "Israelis behandeln die Palästinenser, wie die Nazis die Juden behandelt haben", konfrontiert worden zu sein. Die deutschen Juden, so muten die Ergebnisse der Studie an, werden als Stellvertreter des jüdischen Staates und seiner Politik gesehen. Oftmals besteht ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Nahost-Konflikt und den Anfeindungen gegenüber Juden in ihrer Heimat.

"Ein Grund (wenn auch nicht der einzige!), für den latenten Antisemitismus ist der Konflikt zwischen Israel, Palästina und anderen angrenzenden arabischen Ländern. Eine friedliche Lösung dieses Konfliktes würde die Grundlage des Antisemitismus in anderen Ländern reduzieren."

Die Anfeindungen finden der Studie zufolge zunehmend im Internet statt, in Blogs, Foren, sozialen Netzwerken. Drei Viertel aller Befragten sehen das Internet als virtuellen Ort der Judenfeindlichkeit - in dem einzelnen Äußerungen keine Konsequenzen folgen. Diffamierenden Äußerungen direkt ausgesetzt sehen sich vor allem die die 16- bis 29-Jährigen.

Fast jeder zweite Befragte hat Sorge, im kommenden Jahr Opfer eines verbalen antisemitischen Angriffs zu werden, ein Drittel fürchtet gar einen körperlichen Angriff. Die Sorge vor einem solchen Angriff ist demnach größer als die tatsächliche Wahrscheinlichkeit, angegriffen zu werden. Trotzdem prägt die Angst den Alltag: Ein Viertel der Befragten meidet nach eigenen Angaben jüdische Veranstaltungen, besondere Orte oder auch Plätze in der Nachbarschaft.

Für die in Deutschland lebenden Juden sind laut der Umfrage vor allem die Debatten der vergangenen Jahre von Bedeutung: Zwei Drittel der Befragten in Deutschland sagen, ein Beschneidungsverbot stelle ein großes Problem für sie dar. Für die Hälfte der Befragten gilt das auch für das Schächten, also das rituelle Schlachten von Tieren, bei dem der Tod durch Ausbluten eintreten soll.

"Ich werde abwarten, ob es in Deutschland ein Gesetz zu Beschneidungen geben wird und wie dieses aussieht. Das wird für mich entscheidend dafür sein, ob ich Deutschland verlassen werde oder nicht."

Die kursiv gesetzten Zitate sind Äußerungen deutscher deutscher Juden, die an der Befragung teilgenommen haben.

Spiegel Online, 8.11.2013

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