Urteil statt Vorurteil. Heute:
Immanuel Kant
von Klaus-Peter Lehmann

Widersprüchliche Ansichten
Das Echo auf den großen Philosophen der Aufklärung Immanuel Kant (1724-1804), den Begründer der Autonomie des Gewissens und der Erhabenheit des Pflichtgefühls, ist vielfältig und widersprüchlich. Viele sahen ihn als Apologeten des preußischen Obrigkeitsgehorsams. Schließlich hatte sich Adolf Eichmann auf Kant berufen.  (1)  Der Historiker des Antisemitismus Léon Poliakov sah Kant als Judenhasser. Die Kämpfer für die Menschenrechte erblickten in Kants Kategorischem Imperativ die gedankliche Grundlegung für deren unbedingte Geltung. Der jüdische Religionsphilosoph Hermann Cohen, Begründer des Neukantianismus, sah im Judentum die zur Religion gewordene Kantische Ethik.  (2) 
Antijüdische Vorurteile finden sich in Äußerungen und systematischen Ausführungen von Kant. Wichtig sind auch seine persönlichen Beziehungen zu jüdischen Zeitgenossen.

Moses Mendelssohn
Kants Verhältnis zu dem von Lessing bewunderten jüdischen Aufklärer Moses Mendelssohn (1729-1786)  war geprägt von persönlicher Hochachtung und geistigem Austausch  (9).
Im Sommer 1777 auf einer Reise machte Mendelssohn Station in Königsberg. Er besuchte zwei Vorlesungen Kants. Bei diesem Ereignis von öffentlicher Aufmerksamkeit umarmten sich die beiden Aufklärer. Kant schrieb an seinen Schüler Marcus Herz: Einen solchen Mann von so sanfter Gemütsart, guter Laune und hellem Kopfe in Königsberg zum beständigen und inniglichen Umgang zu haben, würde diejenige Nahrung der Seele sein, deren ich hier so gänzlich entbehren muß und die ich mit der Zunahme der Jahre vornehmlich vermisse.  (4) 
In der Kritik der reinen Vernunft, die 1781 erschien, hatte Kant die rationale Theologie von Mendelssohn systematisch widerlegt.  (5)  Die Hochschätzung seiner Person blieb gleichwohl erhalten. 1783 übersandte Mendelssohn ihm sein Jerusalem. Kant antwortete in höchsten Tönen: Sie haben Ihre Nation mit einem solchen Grade von Gewissensfreiheit zu vereinigen gewußt, die man ihr garnicht zugetraut hätte und dergleichen sich keine andere rühmen kann. Sie haben die Notwendigkeit einer unbeschränkten Gewissensfreiheit zu jeder Religion so gründlich und hell vorgetragen, daß endlich die Kirche unsrerseits wird denken müssen, wie sie alles, was das gewissen belästigen und drücken kann, von der ihrigen absondere, welcher endlich die Menschen in Ansehung der wesentlichen Religionspunkte vereinigen muß. Obwohl Kant mit einer antijüdischen Invektive seinen Ärger über Maimons Kritik an seiner Philosophie zum Ausdruck brachte,  (6)  blieb er ihm persönlich verbunden. Am 4.1.1786 starb Mendelssohn. Kant nahm an seinem Begräbnis teil.

Bilderverbot, moralisches Gesetz und politische Freiheit
In einer bemerkenswerten Formulierung würdigte Kant das alttestamentliche Bilderverbot als korrespondierend mit der Unerforschlichkeit der Idee der Freiheit (resp. der Idee eines ewigen moralischen Gesetzes), die aller positiven Darstellung gänzlich den Weg abschneidet. Der durch keinerlei Bildwerk getrübte Gottesdienst sei eine ständige Erinnerung an die erhabene, unauslöschliche Idee der Sittlichkeit und würde einen moralischen Enthusiasmus fördern, der den Herrschenden unangenehm werden könnte. Daher haben auch Regierungen gerne erlaubt, die Religion mit dem letztern Zubehör reichlich versorgen zu lassen, und so den Untertan die Mühe, zugleich aber auch das Vermögen zu benehmen versucht, seine Seelenkräfte über die Schranken auszudehnen, die man ihm willkürlich setzen, und wodurch man ihn, als bloß passiv, leichter behandeln kann.  (7)

Das Judentum als Religion ohne moralische Gesinnung
In seiner systematischen Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft erscheint das Judentum als rein juridisches Gemeinwesen gegenüber der Kirche als ethischem. Die Revolutiondes Christentums habe sich gegen das jüdische, rein äußerliche Gesetzesverständnis gerichtet. Der jüdische Glaube sei ein Inbegriff bloß statutarischer Gesetze,  (8)  eigentlich keine Religion, sondern die Staatsverfassung eines Stammes. In völliger Unkenntnis der rabbinischen Schriftauslegung behauptete Kant, das Judentum wisse von keinem Glauben an ein künftiges Leben und habe seiner wesenhaft äußerlichen, rein legalistischen Gesetzgebung Moral nur im Nachhinein beigemengt. Die Kirche habe das Judentum völlig verlassen und so eine gänzliche Revolution in Glaubenslehren bewirkt.  (9) 
Trotzdem verklärte Kant das Christentum nicht. Dessen Mystizismus und Aberglauben kritisierte er scharf. Repressive Kirchenhierarchie und autoritäre Rechtgläubigkeit griff er an wie sonst nur die Pharisäer. Kirchlicher Aberglaube und jüdische Religion galten ihm gleichermaßen als Pharisäertum und gesetzlicher Judaismus. Positives Leitbild seiner Religionskritik war der rein moralische Vernunftglaube. Im Negativbild aber sammelten sich Pharisäertum, Judaism, Gesetzlichkeit und Äußerlichkeit, die üblichen antijüdischen Vorurteile.

Antijüdische Äußerungen
Der Theologe Abegg berichtet, Kant habe folgendes gesagt: Es wird nichts daraus kommen; so lange die Juden Juden sind, sich beschneiden lassen, werden sie nie in der bürgerlichen Gesellschaft mehr nützlich als schädlich werden. Jetzo sind sie Vampire der Gesellschaft.  (10)
Ausgerechnet der Abschnitt seiner Schrift Vom ewigen Frieden, der die Idee eines Friedensbundes von Staaten, die sich den Kriegen widersetzen, entwickelt, schließt er mit einer Anmerkung zu Israel im Alten Testament, das wegen des barbarischen Mittel des Krieges, und der Hymnen, die dem Herren der Heerscharen gesungen werden… mit der moralischen Idee des Vaters der Menschen in starkem Kontraste stehe.  (11)
Die Euthanasie des Judentums ist die reine moralische Religion mit Verlassung aller Satzungslehren.  (12)
Diese Zusammenstellung fügt sich zu einem Bild: Vom Ungeist barbarischer Stammesbräuche aus dem Alten Testament (Beschneidung, Krieg) sei das Judentum bis heute bestimmt. Das erklärt ihre Schädlichkeit für die zivilisierte Gesellschaft. Erst wenn sie ihrem Wesen abgestorben sind (Euthanasie), können sie Bürger einer moralisch geleiteten Gesellschaft werden. Als einen solchen achtete Kant wohl Moses Mendelssohn.

Der Kategorische Imperativ und die Stimme am Sinai
Aus der jüdischen Aufklärung (Haskala) ging die Neo-Orthodoxie hervor. Die west-aschkenasische Rabbinerausbildung wie das 1854 gegründete Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau verband talmudische Auslegung mit abendländischer Geisteswissenschaft.  (13)  Hier war die Erkenntnis lebendig, dass das Prinzip des Kategorischen Imperativs, einer unbedingt geltenden sittlichen Forderung, eines allgemeinen Gesetzes, schon für die Stimme am Sinai gilt. Hermann Cohen bemerkte dazu: Es ist als ob Kant diesen Ausdruck… im Talmud selbst vernommen hätte.  (14)  Jüdische Denker wie Isaac Breuer, Samson Raphael Hirsch, Hermann Cohen und Leo Baeck  erblickten im Kantischen Sittengesetz eine andere Gestalt des gebieterischen Rufes vom Sinai.  (15)
Diese Sicht der Kantischen Ethik ist eine spezifisch jüdische Wahrnehmung und unabhängig von seinem Selbstverständnis. Vom biblischen Gotteswort her fällt so auf Kants Hauptanliegen, die unbedingte Allgemeinheit der moralischen Forderung des Gewissens, ein neues Licht. Denn mit dem Kategorischen Imperativ setzt Kant wie jüdische Bibel die Beziehung zum anderen Menschen (= Nächstenliebe) ganz an den Anfang.  (16)

 

  1. H. Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 232
  2. Sein Hauptwerk  Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums bezieht sich immer wieder auf  Kant.
  3. Mendelssohn war Lessings Vorbild für Nathan den Weisen.
  4. Shmuel Feiner, Moses Mendelssohn, 2009, S. 117
  5. Der Substanzbegriff sei auf die Seele (bzw. das Ich), die nur die qualitative Einheit des Selbstbewußtseins im Denken sei, nicht anwendbar (Kritik der reinen Vernunft, B 414; Werke, Hrg. W. Weischedel, Bd. IV, S. 350).
  6. …dergleichen die Juden gerne tun, um sich auf fremde Kosten ein Ansehen von Wichtigkeit zu geben (M. Brumlik, Deutscher Geist und Judenhass, 2000, S. 35)
  7. Kritik der Urteilskraft, A 124; Werke X, S. 366
  8. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, B 186; Werke VIII S. 789
  9. a.a.O., B 190; Werke VIII, S. 792
  10. M. Brumlik, S. 35; R. M. Malter, Kant in Rede und Gespräch, 1991, Nr. 518
  11. Zum ewigen Frieden, Werke XI, S. 213
  12. Brumlik, S. 70
  13. C. Wilke, Den Talmud und den Kant. Rabbinerausbildung an der Schwelle zur Moderne, 2003
  14. D. Bollag, Warum Immanuel Kants Ethik mit dem jüdischen Religionsgesetz so eng verwandt ist, Jüdische Allgemeine 4.9.2008
  15. The men of the bible were struck by the majesty of the Law. They had, and expressed, the deep sense of that reality which Kant in his famous phrase ‘the s tarry heaven above me and the moral law within.’ In Judaism this is the Law in its general meaning (L. Baeck, Werke 5, S. 522).
  16. E. Levinas, Anspruchsvolles Judentum, S. 92

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