Urteil statt Vorurteil. Heute:
Voltaire
von Klaus-Peter Lehmann

Leben und Wirken
Die Werke von Francois Marie Arouet (1694-1778), der den Schriftstellernamen Voltaire annahm, füllen 99 Bände.  (1)  Voltaire war kein origineller Denker oder Kritiker. Aber er wusste vieles so glanzvoll zu formulieren, dass es im Licht der Öffentlichkeit lebhaften Streit provozierte. Als spöttischer Schöngeist, der in vornehmen Salons viel Beifall fand, und als Polemiker, der wegen seiner beißenden Kritik an politischer Herrschaft und katholischer Kirche verfolgt wurde, machte er sich einen Namen.
Als König Ludwig XV. die Hälfte seiner Pferde verkaufte, soll Voltaire kommentiert haben, besser wäre es, die Hälfte der Esel, die am Hof wohnen, zu entlassen. Solcherlei Worte und Spottverse führten dazu, dass er in die Bastille gesperrt wurde. Einer zweiten Haft entkam er nur unter der Bedingung, nach England zu gehen. Dort lebte er fünf Jahre (1726-31). Die geistige Freiheit, die nach der bürgerlichen Revolution auf der Insel herrschte, imponierte ihm. In seinen Briefen über die Engländer stellte er sie der korrupten Gesellschaft von Adel und Klerus in Frankreich und ihrer weltanschaulichen Intoleranz gegenüber. In seinen Elementen der Philosophie Newtons machte er den Franzosen dessen Erkenntnisse bekannt. Das Erschauern vor der Größe des Universums führte ihn zum Deismus. Daraus ergab sich sein Eintreten für religiöse Toleranz und sein Kampf gegen die Herrschaft des Aberglaubens der katholischen Kirche unter dem berühmten  Schlachtruf Ecrasez l’infame.
Zwei Jahre (1750-1752) war Voltaire ständiger Gast der Tafelrunde des preußischen Königs Friedrich II. In zweifelhafte Geldgeschäfte verwickelt, musste er aus Berlin abreisen. Wegen erneuter Verbannung war ihm der Weg nach Frankreich versperrt. In der Schweiz fand er Zuflucht. Ferney wurde seine bleibende Stätte. Der Ort entwickelte sich zu einem geistigen Zentrum. Fürsten und Gelehrte machten Voltaire dort ihre persönliche Aufwartung oder schickten briefliche Huldigungen dorthin.

Kritik am Christentum
Voltaire schwebte Geistesfreiheit wie in England vor, wo es für jeden möglich war, die überlieferten Dogmen der Kirche ohne persönliches Risiko zu kritisieren.  (2)  Die Deisten lehnten eine theologische Erklärung der biblischen Geschichten ab. Ohne Rückgriff auf sogen. übernatürliche Deutungen wandten sie sich einer profangeschichtlichen Sichtweise zu. Aberglauben wollten sie durch den gesunden Menschenverstand ersetzen. Um die Herrschaft der Kirche zu stürzen, war diese neue Sicht eine wichtige Waffe. Voltaires historische Arbeiten hatten einen weiten Horizont. Erstmalig richtete sich der Blick auf ferne Länder wie China. Für seinen polemischen Kampf gegen die Kirche glaubte Voltaire, dort eine alternative, friedvolle und moralisch hochstehende Kultur entdeckt zu haben, die entsprechend dem Ideal der Deisten auf dem Glauben an eine höhere Macht gründet, aber ohne irrationale Dogmen und abergläubische Riten auskommt.

Säkularisierung des christlichen Antijudaismus
Im Rahmen des rationalistischen Denkens der Aufklärung lehnte auch Voltaire jede theologische Deutung des geschichtlichen Weges des jüdischen Volkes ab. Göttliche Erwählung und Verwerfung galten als irrationale Dogmen. Die Rationalisten verurteilten zwar diese traditionellen antijüdischen Glaubenslehren, aber nicht weil sie antijüdisch waren. Den mit ihnen verbundenen antijüdischen Einstellungen und Vorurteilen blieben sie deshalb verhaftet. Zwar galten die Juden nicht mehr als von Gott verworfene Gemeinschaft, aber sie wurden weiterhin als von Natur aus hassenswert angesehen. Ein charakterologischer Antijudaismus ersetzte den theologischen und überbot ihn an Schärfe der Verachtung. So transportierte Voltaires säkularer Antisemitismus alle christlichen Vorurteile gegen die Juden als geschichtlichem Kollektiv unter der Fahne der Aufklärung in die Neuzeit. Das zeigt sich in seiner sogen. Bibelkritik, setzt fort im Blick auf das nachbiblische Judentum und mündet in der Vision von seinem Verschwinden aus der Geschichte.

Hassgenährtes Bild vom Judentum
Im Alten Testament findet Voltaire nur grausame Geschichten. Abraham sei grausam, weil er seinen Sohn Ismael vertreibe und Isaak barbarisch opfern wollte. Dasselbe gelte für Mose, der wegen des goldenen Kalb Hinrichtungen anordnete. Auch die Eroberung Kanaans sei grausam gewesen. Ein gravierender Mangel des Alten Testaments sei, dass es keinen Glauben an die Unsterblichkeit kennt. Der Glaube an ein jenseitiges Gericht sei aber notwendig für die Stabilität einer politischen Ordnung, der Abschreckungseffekt sorge für die Einhaltung moralischer Grundsätze. Alle Religionen und Völker würden den Glauben an ein göttliches Gericht teilen, nur bei den Juden fehle er. Das erkläre, Voltaire zufolge, die jüdische Unfähigkeit ein dauerhaftes Staatswesen zu errichten sowie ihre vollkommene Charakterlosigkeit. Sie seien ein in jeder Hinsicht minderwertiges Volk. Sie fühlten sich nur zum Geld hingezogen, betrieben überall Finanzgeschäfte und betrachten den Wucher als eine heilige Pflicht.  (3)
Die Juden sind nichts als ein unwissendes und barbarisches Volk, das seit langer Zeit die schmutzigste Habsucht mit dem verabscheuungswürdigsten Aberglauben und dem unauslöschlichsten Hasse gegen alle Völker verbindet, bei denen sie geduldet werden und an denen sie sich bereichern. Man soll sie jedoch nicht verbrennen.  (4) 
Auch nach der Weltherrschaft würden sie streben. Aber die geschichtliche Entwicklung laufe dahin, dass die Juden, umso mehr die Welt im Fortgang der Aufklärung vernünftig werde, sich schließlich wie die Zigeuner in den verachteten Abschaum der Menschheit assimilieren und von der Erde verschwinden werden:
Diese Rasse ist dabei, vom Antlitz der Erde zu verschwinden, denn seit neuestem haben Zauberei, Talismänner, Weissagungen und Teufelsbesessenheit für die Menschen ihren Zauber verloren… Die Reichen unter ihnen haben schon begonnen, ihren Aberglauben zu verachten; es wird nichts anderes als das Los eines Volkes ohne Künste und Gesetze geben, das nicht mehr in der Lage ist, sich durch unsere Nachlässigkeit zu bereichern und deshalb keine separate Gesellschaft mehr aufrechterhalten kann, das seinen alten verderbten Jargon, eine Mischung aus Hebräisch und Syrisch nicht mehr versteht, sogar die eigenen Bücher nicht mehr lesen kann, und das deshalb im Abschaum der andren Völker aufgehen wird.

Denunzierungen
Voltaire scheute sich nicht, Juden persönlich anzuprangern. 1722 gab er Informationen über Solomon Levy, einen jüdischen Bürger aus Metz, an Kardinal Dubois weiter. Sie sollten dessen Spionagetätigkeit für Österreich beweisen. Voltaires Bericht war von Bemerkungen durchzogen, die die Juden allgemein schlecht machten, mit der Sache aber nichts zu tun hatten: Der Jude gehört zu keinem Ort außer zu dem, an dem er Geld macht. Also würde er den König ebenso leicht an den Kaiser, wie den Kaiser an den König verraten.
Isaac Pinto, portugiesischer Jude und Schriftsteller, griff Voltaires Artikel über die Juden in der Encyclopédie an, der den herrschenden Vorurteilen entsprechend ein Schmähartikel gegen die Juden war. Allerdings ging es Pinto nur darum, die gebildeten, Schifffahrt und Großhandel treibenden Sephardim aus Bordeaux nicht mit den zugewanderten, von Geldgeschäften und Kleinhandel lebenden Aschkenasim aus Deutschland und Avignon auf eine Stufe zu stellen. Voltaire konzedierte Pinto einzelne Ausnahmen. Generell aber verhalte es sich so, dass die Juden seit der Antike nichts anderes als unwissende Massen gewesen seien.

Ewiger Antisemitismus und Beginn der rassistischen Moderne
Gerade wie die Banianten und Armenier ganz Asien durchstreifen, und wie die Isispriester unter dem Namen Zigeuner auftauchen, um in den Höfen Hühner zu stehlen und wahrzusagen, sie sind die Juden, dieses Lumpengesindel, überall, wo es Geld zu verdienen gibt. Aber ob diese Beschnittenen Israels, die den Wilden alte Hosen verkaufen, sich für Abkömmlinge des Stammes Naphtali oder Isaschar ausgeben, ist sehr unwichtig, sie sind nichtsdestoweniger die größten Schurken, die jemals die Erdoberfläche besudelt haben.
Diese widerwärtige Beschimpfung enthält mehrere säkulare Antijudaismen, die unzweideutig christlichen Ursprungs sind und nur ihr religiöses Gewand abgestreift haben: die Unstetigkeit des zigeunerhaften Wanderlebens der Juden entspricht der Zerstreuung Israels durch Gottes Zorn; die abstoßende Niedrigkeit ihres Standes (Lumpengesindel) dem Untertan-Sein unter das neue Gottesvolk, die Christen; die Wertlosigkeit ihrer besonderen Herkunft ihrer Verwerfung durch Gott; die Schurkenhaftigkeit ihres Charakters ihrem teuflischen Wesen.
Angesichts dieser glatten Transformation der christlichen Judenfeindschaft ins Säkulare besteht wenig Anlass zwischen religiösem Antijudaismus und säkularem Antisemitismus einen wesenhaften Unterschied zu suchen. Das Bild von den Juden als einem charakterlosen Kollektiv, das wegen seiner teuflischen Moral aus der Gesellschaft zu verschwinden habe, macht den ewigen Antisemitismus des Abendlandes aus. Verschwinden kann Angleichung bis zur Unkenntlichkeit an die Gesellschaft oder Ausschluss aus ihr bedeuten. Das Mittelalter schwankte zwischen Taufe und Pogrom, die Neuzeit zwischen Assimilation und Vernichtung. Voltaires antijüdische Hasstiraden legen den Vernichtungswunsch nahe.
Bei Voltaire finden sich darüber hinaus gedankliche Grundlagen für den modernen Rassismus. Er behauptete dass die bärtigen Weißen, die wolligen Neger, die haarigen Gelben und die Bartlosen nicht von ein und demselben Menschen abstammen. Die Weißen seien diesen Negern überlegen, wie die Neger den Affen und die Affen den Austern. Die Neger bezeichnete Voltaire auch als Tiere.  (5) 
Der französische Geschichtslehrer Henri Labroue sammelte die antisemitischen Auslassungen Voltaires in seiner Schrift Voltaire Antijuif. Diese kommentierte Zitatensammlung erschien1942 unter der deutschen Besatzung Frankreichs, genehmigt von der NS-Propaganda-Abteilung. Später entstand ein Streit über die Legitimität einer solchen „Vereinnahmung“ Voltaires. Anhänger der Resistance und Humanisten verwiesen auf Voltaires religiöse Toleranzvorstellungen. Galten diese auch für Juden? Leon Poliakov meinte, die antisemitische Hetze entspräche nachweisbar der Neigung Voltaires. Es stellt sich die Frage, wieso ein unflätiger, von unreflektierten Leidenschaften und Hassgefühlen getriebener antisemitischer Literat zu einer Ikone der europäischen Aufklärung aufsteigen konnte.

 

  1. H. J. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Frankfurt a. M. 1996, S. 367
  2. Die folgende Darstellung bezieht sich auf Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung, Der Antisemitismus 1700-1933, Berlin 1992, S. 41-54
  3. Essai sur les moeurs
  4. Dictionnaire philosophique
  5. Leon Poliakov, Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Hamburg 1993, S. 201

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