Der Wandel ist ewig 
Das Judentum hat viele Umbrüche erlebt. Auch in Zukunft sind Neuerungen unabdingbar
von Micha Brumlik

Das Judentum war, ist und wird auch künftig viel Verschiedenes sein: ein Volk, eine Nation, eine Ethnie, eine Kultur, eine Lebensweise, aber eben auch: eine Religion. Die Frage, ob ein Judentum ganz ohne Religion vorstellbar oder gar wünschenswert ist, sei hier dahingestellt. Tatsächlich war das Judentum immer auch eine Religion, und um diese Religion, ihre Wandlungen, Reformen und Reformationen, soll es hier gehen.

Dabei wird ein eher anspruchsloser Begriff von Religion zugrunde gelegt: Sie ist die Beziehung einer Gemeinschaft zu einem oder mehreren göttlichen, transzendenten Wesen; eine Beziehung, die in kultischen, gottesdienstlichen Ritualen, moralischen Normen sowie Bräuchen des Zusammenlebens ihren Ausdruck findet. Unter »Reform« oder gar »Revolution« aber werden hier nicht nur ohnehin notwendige Anpassungen an veränderte Zeitläufte verstanden, sondern grundlegende, bewusst herbeigeführte Brüche von Weltbildern und Institutionen – und zwar in Richtung Zuwachs an Freiheit und Autonomie der Gläubigen.

Dabei wird dieses Thema heute nicht nur im internen Rahmen einzelner Religionsgemeinschaften abgehandelt, sondern nicht zuletzt wegen der wachsenden Einwanderung von Muslimen in die Länder des Westens stellt sich die Frage, ob diese Religion einer ähnlichen Reformation wie das Christentum oder einer Reform wie das Judentum des 19. Jahrhunderts bedarf. Freilich zeigt sich, dass ein solcher Vergleich – sogar dann, wenn man wähnt, einen klaren Begriff von »Fundamentalismus« zu haben – alles andere als einfach ist. Schon die Änderungsschübe, die das Judentum in einem Zeitraum von mehr als 2500 Jahren erfuhr, sind schwierig genug zu fassen.

Die jüdische Religion, die etwa im siebten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung nach Rückkehr der judäischen Verbannten aus Babylon auf Basis der älteren israelitischen Religion entstand, war selbst revolutionär: Zeichnete sie sich doch im Unterschied zu den Religionen der sie umgebenden Kulturen durch das strikte Bekenntnis zu einem einzigen Gott aus. Freilich fand dieser Glaube seinen kultischen, rituellen Ausdruck zunächst in einem Zentralheiligtum, dem Tempel zu Jerusalem mit seinen Priesterkasten und Tieropfern.

Freilich war dieses Judentum in nur sehr wenigen Zügen mit dem identisch, was heute als Judentum in all seinen gegensätzlichen Spielarten, von ultraorthodox bis ultraliberal – von den Satmarer Chassidim bis zum Rekonstruktionismus –, gilt. Das Judentum – die Judentümer, die wir heute kennen – ist das rabbinische Judentum, das Ergebnis einer religiösen Revolution vor dem Hintergrund einer politischen Katastrophe und einer moralisch-ethischen Weiterentwicklung. Das rabbinische Judentum aber hat seine eigentümliche Gestalt in drei Umbrüchen gewonnen: erstens in der rabbinischen Revolution des ersten und zweiten Jahrhunderts, zweitens in der talmudischen Reform der späten Antike und des frühen Mittelalters sowie drittens in den Krisen der Moderne, in denen gleichzeitig und eng aufeinander bezogen erst das Reformjudentum und dann die Orthodoxie entsteht.

Revolutionen ereignen sich in aller Regel nach Katastrophen oder Kriegen. Das war im Fall des rabbinischen Judentums nicht anders: Es vollendet nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer jene religiös-ethischen Haltungen, die schon im alten Israel von den Propheten vorgedacht und in der hellenistischen Antike, in Judäa, von den Pharisäern gelebt wurden. Bei den Propheten kommt das deutlich zum Ausdruck, etwa bei Hosea: »Denn an Treue habe ich Gefallen und nicht an Schlachtopfern und an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern.« Und in Jeremija 1,27 wird bereits im babylonischen Exil die Ablehnung des Opferkults mit einem Hinweis auf den Sinai begründet: »Denn ich habe euren Vätern des Tages, da ich sie aus Ägyptenland führte, weder gesagt noch geboten von Brandopfern und anderen Opfern.«

Darüber hinaus hat die Geschichte der jüdischen Liturgie zeigen können, dass sich zu der Zeit, als der Tempel noch stand, keineswegs nur in der Diaspora, sondern auch in Judäa Formen des häuslichen und synagogalen Wortgottesdienstes entwickelt haben, die zunehmend ebenbürtig neben dem vor allem um Opfer kreisenden Kult im Tempel standen.

Die pharisäische, die rabbinische Revolution entmachtete die Priesterkaste zugunsten einer Gelehrtenaristokratie und stellte neben die geschriebene Tora die nach der Zerstörung des Tempels notwendig gewordene Niederschrift der mündlichen Tora, die Mischna. Allerdings war die rabbinische Revolution auch – nicht anders als die Entstehung der Kirche und des Islam – eine in sich widersprüchliche patriarchalische Revolution: Frauen wurden in Gottesdienst und Gemeindeführung zurückgedrängt und – von unübersehbarer Tragweite bis heute – die Zugehörigkeit zum Judentum nur noch durch eine jüdische Mutter beziehungsweise eine rabbinisch korrekte Konversion beglaubigt.

Die rabbinische Revolution des frühen Judentums trägt also vier Züge: erstens das Ende von Opferkult und Priestertum sowie ihre Ersetzung durch häusliche Frömmigkeit und synagogalen Wortgottesdienst; zweitens die Anerkennung der Mischna als Tora vom Sinai; drittens strikte, matrilineare Zugehörigkeitsregeln zum Judentum sowie eine rabbinisch überwachte Konversionspraxis; und viertens die Verdrängung von Frauen aus Öffentlichkeit und gottesdienstlichen Funktionen.

Noch zu wenig bekannt ist, dass sich die Anerkennung der Mischna und ihrer Kommentierungen – des Talmud – über Jahrhunderte erstreckte und in Aschkenas sogar erst um die Wende vom ersten zum zweiten Jahrtausend, keineswegs konfliktfrei, vollzogen wurde. Im Gebiet des heutigen Irak etwa wurden im achten und neunten Jahrhundert die sogenannten Karäer – unzweifelhaft Juden – dadurch bekannt, dass sie den Talmud nicht akzeptieren wollten. Und zwar deshalb nicht, weil Mischna und Talmud Ausdrucksformen eines ungebrochenen Reformwillens waren: In vielen Fällen waren die Rabbanim nicht bereit, wörtlich zu akzeptieren, was in der Tora, den fünf Büchern Mose, geschrieben stand.

Erst die Übernahme des Talmud durch die jüdischen Gemeinden entfachte den christlichen Antijudaismus voll: Galten die Juden der Kirche bis dahin als blind gebliebene Schwestern und Brüder, so erschienen sie nun, da sie eine weitere Offenbarungsquelle jenseits der Bibel, nämlich die Mischna und den Talmud, für sich reklamierten, schlicht als verfolgungswürdige Ketzer. Gleichwohl: Bis zur französischen Revolution war das Judentum keineswegs »nur« eine Religion, sondern eine – auch öffentlich – für alle Mitglieder der Gruppe verbindliche Lebensweise.

Die Französische Revolution von 1789, die die gesamte europäische Kultur erschütterte, ließ auch das Judentum nicht unberührt. Die Proklamation von Bürger- und Menschenrechten, die Gewährung individueller Religionsfreiheit in Verbindung mit dem Ende jeder staatlichen Unterstützung für die (katholische) Religion führte zu ihrer Konfessionalisierung.

Religion wurde zur frei wählbaren Privatangelegenheit eines jeden Bürgers in seinen jeweiligen Nationalstaaten, denen er Loyalität schuldete. Darüber hinaus hatten sich spätestens seit Mendelssohn auch im Judentum die Überzeugungen der Tradition vor einer universellen Vernunft zu rechtfertigen; eine Rechtfertigung, die den überlieferten Kultus, Bräuche und Alltagsleben nicht unberührt lassen konnte.

Zumal gebildete, wohlhabende jüdische Familien in den deutschen Ländern sahen im Judentum nun eine ethische Vernunftreligion, die ihren Ausdruck in verständlichen, erhabenen und nachvollziehbaren Ritualen finden sollte. Aus diesen Überzeugungen entstand das sogenannte »Reformjudentum«, das sich an kulturprotestantischen Vorbildern ebenso orientierte wie an der Organisation der Juden in Frankreich als reiner Glaubensgemeinschaft. Als Israel Jacobson (1768–1828) im Jahr 1810 in diesem Geist in Seesen im Königreich Hannover einen ersten synagogalen Gottesdienst mit drastisch verkürzter Gebetszeit, deutschen Gebeten und Orgelbegleitung vollzog, war dies der Beginn einer weiteren religiösen Revolution.

Indem in der Folge – sowohl in Deutschland als auch in den USA – Rabbinerversammlungen im Geist talmudischer Auslegungen sowie durch die historisch-kritische Methode eine Mizwa nach der anderen, von der Kaschrut bis hin zur Beschneidung, in Zweifel zogen und für unverbindlich erklärten, veränderten sie die traditionelle jüdische Einheit von religiöser Überzeugung und alltäglicher Lebensführung. Damals erst entstand die »Orthodoxie« als bewusste Reaktion auf die Reform. Es war Rabbiner Moses Schreiber (1762–1839), genannt »Chatam Sofer«, der in Reaktion auf das Reformjudentum das Prinzip postulierte: »Assur chadasch min ha Tora« – die Tora verbietet jede Neuerung. Diese Überzeugung verbreitete Schreiber mit allen ihm zur Verfügung stehenden publizistischen Mitteln des entstehenden Pressewesens.

So war auch die sogenannte Orthodoxie von Anfang an so modern wie die von ihr bekämpfte Reformbewegung. Inwieweit die im heutigen Polen und Russland seit Mitte des 17. Jahrhunderts entstehende chassidische Bewegung, die Herzensfrömmigkeit mit Gelehrsamkeit verbinden wollte, als reformistisch oder revolutionär bezeichnet werden kann, hängt von der Bedeutung ab, die man diesen Begriffen gibt. Dass diese Bewegung einen tiefschneidenden Umbruch markiert, dürfte nicht zu bezweifeln sein, dass sie damals – mit dem Personenkult ihrer »Zaddikim« – einen Zuwachs an Autonomie und Freiheit des Glaubens für die Einzelnen erbracht hat, sehr wohl.

Stehen gegenwärtig weitere Umbrüche und Anpassungen, Reformen und Revolutionen an? Liberales und sogenanntes konservatives Judentum ordinieren seit den 1970er-Jahren Rabbinerinnen und räumen Männern und Frauen in der Synagoge gleiche liturgische Beteiligung ein: etwa den Aufruf zur Tora. Mehr noch, sogar Gruppen der modernen Orthodoxie haben bereits Frauen ordiniert und experimentieren mit reinen Frauengottesdiensten, in denen Frauen aus der Tora lesen.

Sind also Judentum, Christentum und Islam gleichermaßen bei Wahrung ihrer Substanz reformierbar? Das gilt für Judentum und Christentum mit Blick auf Würde, Freiheit und Gerechtigkeit aufgrund der in der gemeinsamen Bibel, der im »Alten Testament« beglaubigten Gottesebenbildlichkeit und der damit verbundenen prophetischen Gerechtigkeitsappelle auf jeden Fall.

Aufgrund eines noch strikter gefassten Bilderverbots im Islam dürften die entsprechenden Potenziale der koranischen Schriften schwieriger herauszuarbeiten sein. Ein Begriff von der Würde des Menschen, der Gleichheit und Freiheit aller Menschen, den auch das Christentum im 20. Jahrhundert in Reaktion auf die Aufklärung entwickeln musste, wird in den verschiedenen Richtungen des Islam noch länger auf sich warten lassen. Gewiss ebenso lange wie bei bestimmten Strömungen der Ultraorthodoxie, die neuerdings darauf bestehen, dass Männer und Frauen auch in städtischen Bussen, etwa in New York oder in Israel, getrennt sitzen.

auch in Jüdische Allgemeine, 24.10.2013

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