Drei Jahre erst!
Erinnerungen an die Hohen Feiertage im Ghetto Theresienstadt
von Berthold Simonsohn

Mein Blick geht hinüber zum Zürichsee, wo jetzt tausende kleine Lichter aufflammen auf die Kette hoher Berge, die in der klaren Luft der September Nächte sich am Horizont so greifbar nahe abzeichnen. Wieder ist die Zeit der hohen Feiertage gekommen, Frieden strahlt diese Landschaft ringsum aus, Frieden atmet hier alles in diesem von den Kriegen unberührtem Lande, - fast scheint es als seien die letzten dreissig Jahre europäischer Geschichte überhaupt nicht gewesen. Und doch liegen Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich so nahe - und so fern, wie in einer anderen Welt. In uns aber ist nicht Frieden. Denn immer, wenn wir dieser Atmosphäre der Ruhe und Geborgenheit, der Sattheit und Zufriedenheit zu erliegen meinen, dann kommen ganz von allein, die Erinnerungen. Sie sind immer da, oft gewaltsam verdrängt, aber in diesen Tagen stärker als je.

Jahrelang haben Millionen Juden vor den hohen Feiertagen gebangt. Denn es ist bekannt, dass sich die Gestapo mit Vorliebe diese Zeit für ihre grossen Aktionen aussuchte, die erst unseren Lebensraum einengen, durch Furcht und Schrecken zur Zermürbung führen sollten, bis die Situation zur offenen Vernichtung reif schien. Die Wahl dieses Zeitpunktes war nicht nur einfach Schikane, es lag System darin.

1941. Der Einführung des Judensterns folgt der Beginn der allgemeinen Deportationen in den erbarmungslosen Winter des Ostens.

1942. Glaubte man, nach der Deportation nun wenigstens dies hinter sich zu haben, so erkannte man bald seinen Irrtum. Es beginnt das Gejagtwerden von Lager zu Lager. Fassungslos stehen wir in Theresienstadt vor der Gefahr ständiger Deportationen „nach Osten“. Achtzehntausend alte Menschen, über 65 Jahre ohne Grenze nach oben müssen in diesem September, eben erst angekommen und dabei, den ersten, fürchterlichen Schock zu überwinden, von neuem die Fahrt ins Ungewisse, den leider nur allzu gewissen Tod antreten. Von 8 dieser Transporte ist nie eine Kunde wieder zu uns gelangt. Wir wissen nicht, ob sie in Auschwitz oder Treblinka ihr Ende gefunden haben. Nur von dem letzten, neunten Transport sind neun jüngere Männer am Leben geblieben durch die Kette von glücklichen Fügungen, denen wir alle Überlebende schliesslich unser Leben zu verdanken haben.

1943. Fünftausend junge, arbeitsfähige Menschen sind gerade „zur Arbeit im Reich“ ausgewählt und in zwei Transporten verschickt worden. Es kamen einige Karten: sie sprechen von Birkenau - und noch ahnt niemand, dass sich hinter diesem freundlichen Namen das Schreckenslager Auschwitz mit seinen Gaskammern verbirgt - sie berichten vom zusammenbleiben der Familien, vom Erhalt des Gepäcks von Selbstverwaltung und der vereinbarte „Code“ zeugt von der Wahrheit. Von der schliesslichen, vorbestimmten Vernichtung auf den Tag sechs Monate nach der Ankunft aber erfahren wir erst - als wir selbst in Auschwitz sind. Einigen zwanzig Menschen nur entgingen durch Zufall diesem Schicksal.

1944. Wieder ist es September. Die Besichtigung durch das Internationale Rote Kreuz, in deren Zeichen unter dem Motto „Stadtverschönerung“ seit Monaten das Leben in Theresienstadt steht, ist vorbei. Die Lebensbedingungen haben sich zweifellos gebessert und manches bleibt wider Erwarten, auch nachdem die Kommission ihren Besuch abgestattet hat. Dazu kommen noch die guten Nachrichten von der Front. Der Zusammenbruch Hitler-Deutschlands beginnt sich unübersehbar abzuzeichnen und Gerüchte haben Mühe, wie bisher den Tatsachen weit vorauszueilen. Doch viele unter uns wissen, dass jetzt erst die Stunden der höchsten Gefahr für uns gekommen sind. Es gibt genug beunruhigende Anzeichen, denn schliesslich bleibt nichts in Theresienstadt geheim. Wenn neue Statistiken angefordert werden, wenn die Judenältesten zu ungewohnter Zeit auf die Kommandantur gerufen werden, wenn alle früheren Offiziere und militärisch Ausgebildeten registriert werden, Eichmann und sein Vertreter Moes auftauchen - dann wusste jeder, was gespielt wurde. Und während sich trotz allem ein Teil, namentlich der Alten, einem uferlosen Optimismus hingab, wenn man die am hellichten Tage über unsere Köpfe hinwegziehenden amerikanischen Bombengeschwader mit lautem Jubel offen begrüsste - dann ahnten wir doch, dass jeden Augenblick der neue Schlag herniedersausen musste, der unsere Freude und unsere Hoffnungen zunichte machen musste. Nur wann und wie es geschehen würde, wussten wir nicht. Wir wussten, dass eine grosse Anzahl waffenfähiger Männer, viele von ihnen Kriegsteilnehmer und in der tschechoslowakischen Armee ausgebildet, in dem schon unruhigen „Protektorat“ für die SS eine latente Bedrohung bedeuten mussten. Diese selbst war in Theresienstadt trotz aller Verteidigungsmaßnahmen zahlenmässig so geringfügig, dass sie auf Verstärkungen von dem nahen Lager „Kleine Festung“ und aus den Kasernen Leitmeritz im Ernstfall angewiesen gewesen wäre. Bei den zahlreichen Spitzeln, die die SS unterhielt, dürfte ihr ohne grosse Anstrengungen auf die Dauer auch kaum verborgen geblieben sein, dass sich auch in Theresienstadt die Widerstandsbewegung zu organisieren begann. Die Kunde vom Kampf und Untergang des Warschauer Ghettos war zu uns gedrungen und gerade zu jener Zeit erfuhr auch ein Teil der in der Selbstverwaltung führenden Menschen, was Auschwitz-Birkenau wirklich bedeutete. Es war klar, dass die SS nicht einfach eines Tages abziehen würde, zumal wichtige Abteilungen ihrer Zentrale nebst wichtigem Material nach dem bombensicheren Ghetto verlegt worden waren. Zu deutlich war die Absicht, das europäische Judentum noch vor dem eigenen Untergang auszurotten, als dass man nicht hätte befürchten müssen, dass die SS noch versuchen würde, ein Blutbad anzurichten. Schon der Tag der Volkszählung im Bauschowitzer Kessel erschien uns wie eine Generalprobe hierfür. Es blieb bei dieser Situation nur zweierlei übrig: sich in das Schicksal zu ergeben und besten Falls auf ein Wunder zu hoffen - oder den Widerstand zu organisieren.

Es ist wenig bekannt, dass die jüdische Jugend in Theresienstadt Willens gewesen ist, den letzteren Weg zu beschreiten und sich nicht passiv auf die Schlachtbank führen zu lassen. Grund hierfür ist, dass es eben zu einer solchen Aktion nicht gekommen ist, weil sie eben durch diese Herbsttransporte 1944 zerschlagen wurde. Trotzdem gab es auch in Theresienstadt Menschen, die zu ihrem Teil an der Befreiung der Welt vom Schrecken des Faschismus und ihrer eigenen Befreiung beitragen wollten und wie bei allen Gequälten und Unterdrückten begannen, nach dem Vorbild der tschechischen Widerstandsbewegung Vorbereitungen zu treffen.

Führend dabei war die zwar kleine, aber sehr aktive und konspirativ gut arbeitende Gruppe der - meist tschechisch-national eingestellten - Kommunisten, die entsprechend den allgemeinen politischen Verhältnissen in der CSR einen starken Einfluss auf einen Teil der jüngeren Generation ausübte. (während die Juden aus Deutschland und Oesterreich zumeist der älteren Generation angehörten, überwogen unter den jüngeren die aus Böhmen und Mähren Gekommenen bei weitem.) Diese Gruppe hatte ihre Verbindungen nach Prag und zur tschechischen Gendarmerie, auf die man im Ernstfall glaubte zählen zu können - und sie wusste auch, wo die SS ihre Waffen versteckt hatte und wo sie im entscheidenden Augenblick weitere zu bekommen hatte. Eng mit ihr zusammen arbeitete eine Gruppe der aktivsten Menschen des Hechaluz, der in Theresienstadt eine halb legale, sehr starke, einflussreiche und gut ausgebaute Organisation besass. Um diesen Kern herum schlossen sich dann auch die tschechisch-national eingestellten bürgerlichen Kreise an und der Aufbau einer kleinen Gruppe der altersmässig in Betracht kommenden Juden aus Deutschland und Oesterreich war gerade im Gange, die Bildung eines gemeinsamen Ausschusses aller ins Gewicht fallenden Gruppierungen stand unmittelbar bevor - als der Gegenschlag - geschickt getarnt - kam.

Wir wissen nicht, ob die Nazis Näheres in Erfahrung gebracht hatten oder ob sie nur ahnungsvoll allen Eventualitäten vorbeugen wollten. Am Rosch-Haschana stieg die Spannung aufs Höchste, als der „Judenälteste“ Dr. Eppstein in seiner Ansprache, der viele hunderte lauschten, düstere, geheimnisvoll symbolhafte Andeutungen über die drohende Gefahr machte. Er fürchtete, dass ein provozierter Zwischenfall den Vorwand für die Aktion liefern sollte. Er wusste - und die Last dieses Wissens musste er allein tragen und in den Tod hinübernehmen - was geplant war. Ein politisch klar denkender Mensch wie er, der durch seinen ständigen Kontakt mit den höheren Gestapostellen einen gewissen Einblick hatte, konnte sich keine Illusionen über deren Absichten machen. Er durchschaute die neue Methode, die sich die Herren Verbrecher aus Berlin diesmal ausgedacht hatten. Sie bestand in der freigiebigsten Abgabe von Versprechungen, wonach es sich nur um eine Massnahme im Zuge des verschärften Einsatzes im Reich und keine Ostendeportationen handeln solle, weshalb auch die sonst geltenden Schutzbestimmungen für Mischlinge usw. nicht zur Anwendung kämen. Das neue Lager solle nach dem Muster Theresienstadts mit Selbstverwaltung aufgebaut werden, Verpflegung von Post von Th. aus geregelt werden, wohin auch Erkrankte zurückgebracht würden. Überdies sollten die zurückbleibenden Angehörigen vor weiteren Deportationen geschützt sein.

Zweifellos werden sich viele fragen, wie es im Jahre 1944 noch Juden geben konnte, die auf diese Lügen hereinfielen. Dazu muss man nicht nur die Abschließung von der Umwelt sondern vor allem auch den Umstand in Betracht ziehen, dass ähnliche Versprechungen bei einer Gruppe, die zum Arbeitseinsatz nach Zossen bei Berlin vor einem Jahr geschickt worden war, tatsächlich eingehalten worden waren. (Diese ca. 200 Menschen kamen nach Abgang der letzten Transporte nach Theresienstadt zurück, wodurch sie ebenso wie ihre Angehörigen gerettet wurden.)

Wir waren uns klar, dass ein Widerstand als Massenaktion in Theresienstadt nur unter zwei Bedingungen denkbar war: als Akt der Verzweiflung, wenn nichts mehr zu verlieren war - oder in unmittelbarem Zusammenhang mit einer allgemeinen Erhebung der Tschechoslowakei beim Herannahen der alliierten Armeen. Beide Voraussetzungen schienen damals nicht gegeben. Die Absicht der SS wurde in ihrer ganzen Tragweite nicht erkannt und das mit vollendeter Virtuosität gespielte Täuschungsmanöver nicht durchschaut. Zwar rechnete man mit einer wesentlichen Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, aber man glaubte, Zeit gewinnen zu können, denn schon standen die alliierten Armeen ja bei Aachen und Krakau. Die in Theresienstadt zurückbleibenden Familien, die erst nachkommen sollten, wenn der Aufbau des neuen Lagers genügend weit fortgeschritten sein würde, wähnte man in relativer Sicherheit. Nach der Besichtigung durch das Internationale Rote Kreuz glaubte man, dass Theresienstadt so stark unter den Augen der Weltöffentlichkeit liege, dass man offensichtliche Vernichtungsaktionen dort nicht zu treffen wagen würde.

Wieder einmal verhinderte jüdischer Optimismus die klare Sicht und damit die Möglichkeit eines Widerstandes gegen die Transporte. Allerdings ist kaum ein Zweifel zulässig, dass dieser Widerstand sinnlos gewesen wäre, weil wohl nur wenige der damals 30.000 Bewohner mit dem Leben davon gekommen wären und dass die Nazis ganze Arbeit gemacht hätten. Die Hoffnung siegte: Vielleicht kommen wir doch durch, vielleicht hilft uns der Zufall. Nur 3000 von 19.000 Deportierten, aber fast alle der 11.000 Zurückgebliebenen erlebten - entgegen den Absichten der Nazis - tatsächlich die Verwirklichung dieser Hoffnung durch ein gütiges Geschick.

Anfangs war nur vom Abtransport von 5000 arbeitsfähigen Männern zwischen 18 und 55 Jahren die Rede und selbst Angehörigen, die es wünschten, wurde die Mitfahrt verweigert. Diese Zahl bedeutete, dass nur einige hundert Männer für die schwersten und lebenswichtigsten Arbeiten, für die Leitung der Verwaltung und als Ärzte zurückbleiben konnten. Am 24. September wurden die ersten 2500 Männer in die stets als Sammellokal dienende Hamburger Kaserne einberufen. Zufällig verzögerte sich die Ankunft des für den Transport bestimmten Zuges - und sofort entstanden die optimistischsten Gerüchte. Bald hatten sich alle suggeriert, die Transporte seien durch ein uns unbekanntes Ereignis verhindert worden. Es war gerade Jom Kippur, ein Jom Kippur, den keiner der Ueberlebenden je vergessen wird, ein herrlicher Spätsommertag. Neue Hoffnung erfüllte alle, tausende drängten sich in den Beträumen, tausende wandelten auf den Grünanlagen der Wälle, die Arbeit ruhte praktisch und die Absperrungsmassnahmen für die Einberufenen wurden nahezu aufgehoben. Doch das Wunder geschah nicht.

Der Zug kam - und fuhr. Und er kam regelmäßig jeden dritten Tag noch zehn mal und brachte 19000 Menschen in genau einem Monat nach Auschwitz. Denn nachdem die meisten Männer, die Widerstand hätten leisten können, abtransportiert waren, hielt man weitere Täuschungen für überflüssig, und deportierte nach und nach Frauen und Kinder, Kranke und Gebrechliche. Nur die Alten über 65 Jahre und gewisse privilegierte Gruppen (Dänen, evang. Holländer, ein Teil der Mischlinge, für die Wehrmacht arbeitende Frauen) blieben zurück. Von jedem Transport hatte man gehofft, dass er der letzte sein würde. Aber das Zeichen, die versprochene Freilassung des zu Beginn der Transporte unter nichtigem Vorwand verhafteten Judenältesten Dr. Eppstein, blieb aus. (Er kam nie frei und wurde ermordet. Wahrscheinlich ist sein Versuch, das Äusserste zu verhindern, der wahre Grund. Kurz zuvor hatte er dem Schreiber dieser Zeilen gesagt: Ich weiss, dass die Zeit kommt, wo auch ich einmal werde Nein sagen müssen, um vor mir selbst bestehen zu können.) Statt seiner führte dann Dr. Murmelstein mit einem kleinen Stab von ihm geschützter Mitarbeiter die traurige Arbeit zu Ende. (Das nach der Befreiung vor dem Volksgerichtshof gegen ihn eingeleitete Verfahren ist eingestellt worden.)

Transport auf Transport verliess Theresienstadt, jeder riss neue Lücken, niemand wusste, was der nächste Tag ihm bringen würde. Das Erstaunlichste ist, dass trotzdem zu keiner Stunde die lebenswichtige Arbeit im Ghetto unterbrochen wurde, nicht einmal verspäteten sich auch nur die Mahlzeiten, Kranke und Alte wurden weiter betreut. Der Apparat lief weiter, immer wieder sprangen neue Menschen ein - als Zeichen der Fähigkeit jüdischer Menschen zum Organisieren sei dies hier erwähnt, so furchtbar der Anlaß auch war. Immer einsamer und trauriger, kälter und hoffnungsloser wurde es in Theresienstadt. Am 28. Oktober Abend verliess der letzte Transport das Ghetto, mit ihm fast alle Menschen, die in der jüdischen Arbeit in Deutschland, Österreich, Böhmen und Mähren an leitender Stelle gestanden haben mit „Weisung“. (Geheimer Befehl zur sofortigen Vergasung.)

Das weitere Schicksal ist bekannt. Mehr als die Hälfte aller Deportierten, alle nicht voll Arbeitsfähigen, d. h. alle über 60 Jahre alten, Kranke und Kriegsbeschädigte, alle Mütter mit Kindern unter 15 Jahren gingen „auf die andere Seite“ - sofort vom Zug in die als Baderäume getarnten Gaskammern. Wohl niemand von den Unglücklichen hat bis zum letzten Augenblick etwas von dem bevorstehenden Geschick geahnt. Wenn es einen Trost für die Angehörigen gibt, ist es wohl dies. Die anderen Arbeitsfähigen - die Trennung erfolgt auf dem Bahnsteig nach äusserem Eindruck und Gutdünken durch den berüchtigten, stets lächelnd-freundlichen Lagerarzt Dr. Mengele - erlebten einige fürchterliche Tage - mit ständigen neuen „Selektionen“ im Lager Auschwitz; dann kamen sie „auf Transport“ in die Arbeitslager Schlesiens und Bayerns - ein erheblicher Teil der Männer in die Kauferinger Läger bei Landsberg /Lech, wo sich heute ein grosses DP-Lager befindet, dort gingen die meisten an Hunger (zugrunde). (fehlendes Verb ergänzt.)
(1948)

Fünf Jahre Befreiung

In diesen Wochen gedenken zehntausende Juden zum fünften Male des Tages, der sie dem Leben wiedergab und von furchtbarstem Geschick und unmittelbarer Todesdrohung erlöste. Die Reihe der Gedenktage beginnt mit dem 11. April, an dem amerikanische Truppen die Insassen des Lagers Buchenwald aus drohender Todesgefahr befreiten. Bis zum 5. Mai, dem Tage, da die in der Grenzzone des amerikanischen und russischen Vormarsches liegenden „Mauthausener“ aufatmen durften, wurden täglich tausende Juden, der überlebende Rest der einst nach Millionen zählenden europäischen Judenheit, oft noch im letzten Augenblick gerettet. Unvergesslich haben sich diese über Leben und Tod entscheidenden Stunden im Gedächtnis aller derer eingeprägt, die jene Schicksalstage – zwischen Schrecken, Furcht und überschwänglicher Hoffnung hin und her gerissen – in den Konzentrationslagern und auf den Todesmärschen erlebten. Besonders tragisch ist das Schicksal jener, die damals, das Ziel ihrer Hoffnungen vor Augen, ihr Leben lassen mussten. Ihre Zahl geht in die Zehntausende und Massengräber an allen Strassen Deutschlands und Oesterreichs zeugen davon. Wer könnte diese Märsche vergessen, wo wir unsere letzten Kräfte zusammenreissen mussten, um nicht am Wege niederzusinken, den Fangschuss der selbst schon von panischer Furcht vor der Rache ergriffenen Wächter erwartend? Wem steht nicht die Verzweiflung dieser Menschen noch heute vor Augen, das Chaos der allgemeinen Flucht und Auflösung um uns herum, die Verfolger wie Verfolgte bedrohenden Tiefangriffe der alliierten Luftwaffen, die brennenden Gehöfte beidseits der Strasse, die bei unserem Anblick in Erwartung des eigenen Geschicks weinende Bevölkerung. Todmüde, ausgehungert und erschöpft bis zum letzten, apathisch und keines Gedankens mehr fähig, zogen wir dahin, nur noch von dem Willen zum Ueberleben weitergetrieben.

Das alles liegt nun weit, weit hinter uns. Fünf Jahre sind eine lange Zeit. Viele sind freilich noch auf der grossen Wanderung, im grossen Strom derer, die Jahre ausgeharrt haben, bis sich ihnen die Tore des wiedererstandenen jüdischen Staates öffneten, bis sie zu ihren Angehörigen nach Übersee fahren durften oder bis sie in ihre Heimat zurückkehren konnten. Viele freilich haben in diesen Jahren ihr Leben wieder „normalisieren“ können und suchen die Erinnerung zu bannen und zu verdrängen. Nur wenn man dann nach langer Zeit mit Schicksalsgefährten zusammentrifft, steigt die Erinnerung wieder herauf, beginnt das Fragen und Erzählen, das „Weisst Du noch?“ und „Was ist aus ihm geworden?“, „Wie konntest Du es überleben?“ 

Wenn wir unsere damaligen Hoffnungen und Erwartungen vergleichen mit dem, was heute ist, mischt sich freilich in die dankbare Freude des Erlebendürfens nur allzu oft eine tiefe Enttäuschung – auch dann, wenn wir uns bewusst sind, dass vieles von dem, was uns damals unsere Phantasie umso grossartiger vorspiegelte, desto elender unsere Lage gewesen war, nie Wirklichkeit werden konnte. Freilich, die Wiedergeburt des jüdischen Staates ist etwas, was auch den jüdischem Leben Fernstehendsten ein Gefühl stolzer Genugtuung einflössen musste. Aber hatten wir uns das nicht ganz anders gedacht, – dass die ganze Welt uns angesichts unseres furchtbaren Leidens und ungezählter Opfer wie des heldenhaften Kampfes hunderttausender Juden ihn uns als eine Geste selbstverständlicher Wiedergutmachung gewähren würde.

Mussten stattdessen abermals tausende junger jüdischer Menschen – unter ihnen so mancher, der eben erst den Qualen der Schreckenszeit entronnen war – mit ihrer Gesundheit und ihrem Leben dafür zahlen, und sogar im Kampfe gegen jene, die unsere Verbündeten im Ringen gegen die Nazi-Tyrannei gewesen waren? Und mussten erst zehntausende in der verhassten und demoralisierenden Atmosphäre der DP-Läger jahrelang warten, bis sie mit ihren Angehörigen wieder vereint sein konnten, bis sie daran gehen konnten, ein neues Leben zu beginnen und sich eine neue Existenz zu gründen? Nicht das Rechts- und Schuldgefühl der Welt, die Kraft und der Wille derer, die Israel aufgebaut hatten, gegen alle Hindernisse, errangen jetzt auch gegen eine feindliche Welt diesen Sieg, die erste Etappe eines neuen Lebens. Denn der neue Staat erfüllte nicht und konnte nicht all die Wünsche der jetzt aus aller Welt hereinströmenden jüdischen Massen erfüllen. Das Lagerleben, der Schrecken der vergangenen Zeit, war noch nicht für alle zu Ende – und jede Umstellung ist ein schmerzlicher Prozess, wo es auch sei. Vieles könnte anders sein, wenn nicht auch die Hilfs- und Opferbereitschaft derer, die selbst von schrecklichem Erleben verschont blieben, mit dem Schwinden der unmittelbarsten Gefahren nur allzu schnell erlahmt wäre. Und vieles hätte nicht sein können und müsste auch heute nicht sein, wenn nicht – auch das sei einmal offen ausgesprochen – die Menschen, die aus innerster Berufung die soziale Arbeit bei Kriegsende übernommen hatten, sich in dieser hätten aufreiben und schliesslich resignieren müssen, nicht selten, um abgelöst zu werden von Menschen, denen diese Tätigkeit mehr als ein „Job“ als eine Verpflichtung war. Auf der langen Liste der Enttäuschungen steht auch das langsame Tempo und das oft von einer widerstrebenden Bürokratie immer wieder neu hinausgezögerte Ernstmachen mit der materiellen Wiedergutmachung, das die Neugründung der Existenz verzögert und erschwert.

Und schliesslich teilen wir die eine grosse Enttäuschung mit vielen Millionen, die geglaubt hatten, für eine neue Welt des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit zu kämpfen und darin den Sinn und das schliessliche Ergebnis des grossen Ringens sehen zu können gehofft hatten. War jeder bisherige Krieg eine Katastrophe für ungezählte jüdische Menschen, so würde ein neuer Weltkrieg nicht nur die Reste des europäischen Judentums mit völliger Vernichtung bedrohen, sondern auch den jungen jüdischen Staat aufs Höchste gefährden. Eine Vernichtung des mit unsagbaren Opfern und Mühen erarbeiteten und erkämpften jüdischen Aufbauwerks würde aber eine Katastrophe für das jüdische Volk bedeuten, die noch die der hinter uns liegenden Jahre weit übertreffen würde. Aber schon die Atmosphäre des „kalten“ Krieges bedeutet eine Gefahr, denn sie fördert überall die Geister des Rassen- und Völkerhasses, des Chauvinismus und Antisemitismus. Angesichts unserer Erfahrungen in der jüngsten Vergangenheit und der unserem Volke drohenden Gefahren in einem neuen, technisch noch „vervollkommneten“ Vernichtungskrieges, müssen sich deshalb zum 5. Jahrestage unserer Befreiung aus schlimmster Not unsere Wünsche vereinigen mit denen aller Menschen, die aus dieser Katastrophe etwas gelernt haben: Dass die Welt vor einem neuen Krieg, vor dem Rückfall in die Barbarei bewahrt werden muss, dass es gelingen muss, durch internationale Verständigung die Kräfte der Natur nicht zur gegenseitigen Vernichtung zu bändigen, sondern zur Steigerung der Lebenswohlfahrt aller. Nur in einer solchen Welt kann auch das jüdische Volk leben und gedeihen. Nur dann, wenn in der Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit und der Zusammenarbeit der Nationen wir vorwärtskommen, hätte unser Leiden einen Sinn gehabt.
(1950)

aus Wilma Aden-Grossmann (Hrsg.), Berthold Simonsohn. Ausgewählte Schriften 1934-1977, Kassel 2012

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