Die jüdisch-christlichen Beziehungen sind kein Spezialproblem
Laudatio auf Ulrich Schwemer
von Martin Stöhr

1922 schreibt Karl Barth im Vorwort zur zweiten Auflage seines Römerbriefes „Kritischer müßten mir die Historisch-Kritischen sein!“ Er antwortet auf exegetische Kritik an seinem ersten Römerbrief von 1919. Er ist überzeugt, dass es „eine letzte und tiefste Kulturangelegenheit ist…die Texte zB des Neuen Testamentes zum Reden zu bringen, koste es, was es wolle.“ Barths inspirierender Aufbruch dachte seinerzeit nicht daran, dass die lange Historie des christlichen Antijudaismus kritisch aufzuarbeiten sei, um das Evangelium in der Unkultur einer antisemitisch vergifteten Kirche und Gesellschaft ganz neu „zum Reden zu bringen“. Barths Forderung kostet, was die ganze Bibel immer verlangt und auch schenkt: Ständige Neuauslegung, neue Erkenntnisse sowie die Absage an desavouierte Theologoumena - jüdisch wie protestantisch.
I
Ulrich Schwemer gehört zu den Theologen, die sich an dieser historisch-kritischen Arbeit einer theologischen Neuorientierung beteiligen. Seine alltäglichen Aufgaben als Gemeindepfarrer liefern den Stoff: Schriftauslegung, Predigten, Liturgie, Unterricht. Transparochial steuert er theologisch gewichtige Ausarbeitungen bei. ZB in der Kirchentagsgruppe „Juden und Christen“ zur Frage gemeinsamer Gottesdienste von Juden und Christen, im „Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau“ sowie in der „Konferenz landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden KLAK“ – von ihm auf den Weg gebracht), zB kritische Analysen und kreative Vorschläge zum jüdischen oder zum christlichen Gottesdienst und Festjahr. Er arbeitet mit an einer neuen Perikopenordnung unter der Überschrift „Die ganze Bibel zu Wort kommen lassen!“ Der größte Teil der christlichen Bibel, das Alte Testament, darf nicht länger als bloßer Vorhof christlicher Theologie und Verkündigung weithin unbekannt bleiben.
1991 publiziert er ein Arbeitsbuch, das exemplarische Stimmen antijüdischer Theologie (vor und nach 1945) vorstellt, vor allem aber jene, die zur Erneuerung der christlich-jüdischen Beziehungen beitragen. Nicht zu vergessen sind seine Beiträge, die sich mit dem Staat Israel und dem Nahostkonflikt befassen. Sie nehmen Leid und Hoffnung von Menschen auf beiden Seiten wahr. Sie unterstützen publizistisch wie finanziell Initiativen, die Brücken bauen. Seine Predigten und Vorträge lassen – als Teil deutscher Erinnerungskultur – sensibel jene Dichtung zu Wort kommen, die, wie die Theologie, Antworten auf Auschwitz „nach Auschwitz“ sucht. Zu finden sind u.a. die Namen von Paul Celan, Heinrich Heine, Else Lasker-Schüler, André Schwarz-Bart und demnächst Franz Kafka. Ulrich Schwemers persönliche und Gremien- Arbeit enthält überzeugende Grundlinien einer Hermeneutik, ohne die die christlich-jüdischen Beziehungen nicht zu erneuern sind.

  • Die gemeinsamen Grundlagen von Kirche und jüdischem Volk sind deutlich zu machen – nicht nur im Sinne einer genetischen Verwurzelung, sondern als gegenwärtig präsente Gemeinsamkeiten von zwei Bibelabkömmlingen. Deswegen leben sie in einer singulären Beziehung, die sie mit keiner anderen Religion teilen. Erst diese Aufklärung ermöglicht die klare Benennung der bleibenden Unterschiede.
  • Bei allen polemischen Auseinandersetzungen, die die neutestamentlichen Autoren überliefern, handelt es sich um innerjüdische Debatten und nicht um Auseinandersetzungen, in denen Christen gegen Pharisäer, christliche Gnade gegen jüdische Gesetzlichkeit, der Christ Jesus gegen die Juden steht.
  • Eine einfache Übernahme zB jüdischer Gebete oder Pessach-Liturgien in den christlichen Gottesdienst könnte eine schlechte Tradition fortsetzen, dass die Kirche sich als das wahre, das neue Israel versteht, wo jetzt endgültig zu Hause ist, was einst den Juden gehörte. Die lange Geschichte christlicher Aneignungen darf den ersten und bleibenden Adressaten göttlicher Offenbarungen weder übersehen, überbieten noch enteignen.
  • Obwohl es angesichts der jüngsten Geschichte nicht zu erwarten ist, dass ein Jude einen christlichen Gottesdienst besucht, ist dieser so zu gestalten, dass nicht sein Judentum „verzeichnet, herabgesetzt oder gar beleidigt wird“. Alle biblischen Predigttexte stammen von jüdischen Autoren und stiften so immer eine Gegenwart des Judentums im christlichen Gottesdienst.
  • Es geht nicht, das Doppelgebot der Liebe und die Feindesliebe als christliche Alleinstellungsmerkmale anzusehen. Sie stammen aus der Bibel Jesu und der Apostel. Jesus bekräftigt auf Befragen sein Credo mit dem Sch`ma Jisrael und der in dieser Frohen Botschaft verankerten Ethik universaler Liebe und Gerechtigkeit: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein!“ (Mk 12,28-34, Par).
  • Analog zu manchem unreflektiertem Versuch, den Reichtum halachischer, haggadischer oder chassidischer Texte für den christlichen Lehr- und Predigthaushalt nur additiv zu vereinnahmen, soll in der politischen Debatte neuerdings eine jüdisch-christliche Humanität des Abendlandes zB gegen Atheismus oder Islam in Stellung gebracht werden. Dagegen gilt: Umkehr ist notwendig, neue Feindbilder sind überflüssig, denn dieses „christliche“ Europa ließ das Judentum genauso jämmerlich im Stich wie die ChristInnen jüdischer Herkunft.
  • In Abwandlung eines Martin-Buber-Wortes sage ich: Weil Ulrich Schwemer weiß: Das Christentum wird am Du des Judentums zum Ich einer eigenen Identität, deswegen wird er zum Gründungsmitglied von „Studium in Israel“, jener Initiative, die Studierenden ein Studienjahr an der Hebräischen Universität in Jerusalem ermöglicht. Das Ziel ist, vor allem die rabbinische Schriftauslegung mit ihrer Diskussionskultur in lebendigen Begegnungen kennen zu lernen.
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II
Solche Überlegungen widerlegen eine christliche Selbstsicherheit, die mit dem Bekenntnis zu Jesus, dem Christus, meint, allein - sozusagen im Selbstgespräch - über das „richtige“ Verständnis von „Messias“, „Erlösung“, Erwählung“, „Alter und Neuer Bund“ oder „Verheißung und Erfüllung“ zu verfügen. Die lebendigen jüdischen Verständnisse derselben Begriffe und ihrer Geschichten erscheinen dann als überholt oder defizitär.

Damit wird die Frage unabweisbar: Meinen biblisch identische Worte und Texte eigentlich christlich wie jüdisch wirklich dasselbe? Nein! Alle diese Worte und Geschichten sind besetzt durch eine christliche Auslegungs- und Wirkungsgeschichte. Diese steuern oft mit dogmatisch verfestigten Prämissen die Wahrnehmung des Lebens und Glaubens im vielgestaltigen Judentum. Christliche Auslegungstraditionen – zB von Isaaks Bindung bzw Nicht-Opferung (Gen 22), von Psalm 22, Jes 9 oder Jes 53 – sind nicht mit jüdischen identisch. Weder hat die Reformation noch die historisch-kritische Bibelwissenschaft eine uralte Voraussetzung ernsthaft ins Wanken gebracht, die Hebräische Bibel sei dominant vom Neuen Testament her zu interpretieren.

Die christliche Wirkungsgeschichte bestimmter biblischer Texten ist doppelt fatal, weil sie (a) auf Kosten des Judentums das Christentum zum Leuchten bringen will und weil sie (b) die christliche Hilfsbereitschaft in Zeiten der Bedrohung jüdischen Lebens absenkt. Ist die jüdische Leidensgeschichte nicht Gottes zornige Strafe für die Ablehnung des Messias? So fragt die altbekannte Schlange, jene „kleine der Privatdozentin der Hegel’schen Philosophie“ (Heinrich Heine): Sollte Gott nicht selbst gesagt haben, Israel leide wegen eines Gottesmordes? Solche Ablenkungsmanöver wollen Gott anhängen, was Menschen zu verantworten haben.

Aber: laden nicht einige neutestamentliche Texte ausdrücklich zu einer Distanzierung vom jüdischen Volk ein? Wenn das Johannes-Evangelium die Juden „Teufelskinder“ nennt (Joh 8,44); wenn Jesus über Jerusalem weint (Lk 19,41-44); wenn im Gleichnis die „bösen Weingärtner“ den Sohn und Erben umbringen (Mt 21,33) – verwandelt dann eine christliche Auslegung den prophetisch-kritischen Umkehrruf des Juden Jesus nicht in eine definitive Verurteilung des jüdischen Volkes? Nach Saloniki schreibt der pharisäisch sozialisierte Jude Paulus vom Zorn Gottes über die Juden. Sie „haben den Herrn Jesus getötet…und gefallen Gott nicht und sind allen Menschen feind“ (1 Thess, 2,15). Mit dem zusammenhanglos zitierten Satz „Christus ist des Gesetzes Ende“ (Rö 10,4) verbindet sich bei vielen Christenmenschen der Gedanke, als beende Christus eine jüdische Gesetzesreligion zugunsten einer christlich überlegnnen Religion der Liebe.

Derselbe Paulus nennt aber die Tora, Gesetz und Gebote „heilig, gerecht und gut“ (Rö 7,12). Das hat Menschen seiner Gemeinde nicht gehindert, das gesamtbiblische Evangelium der Liebe, Gerechtigkeit und Freiheit Gottes „zum Deckel der Bosheit“(1Petr 2,16) zu machen und zur „billigen Gnade“, die die Kosten der Nachfolge vermeidet . Paulus kritisiert, dass in Korinth das Evangelium des Abendmahls zur Praxis einer Zwei-Klassen-Gemeinde führte. (1Kor, 11,17-22). Die verhängnisvolle Rede vom „Spätjudentum“ für das Frühjudentum erklärt in vielen Lehrbüchern jüdische Bräuche in der Vergangenheitsform: Die Juden feierten das Passafest oder das Laubhüttenfest, sie beschnitten die Jungen am 8. Tag usw – als ob sie das nicht überall bis heute täten – solange man sie leben lässt.

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  • III

Ulrich Schwemer gehört zu den Theologen, die an den damit verbundenen Fragen praktisch und intellektuell lebenslänglich arbeiten. Er unterbricht früh sein Theologiestudium, um nach Israel zu gehen, ein keineswegs gesichertes Zuhause von Überlebenden und Verfolgten. Er arbeitet dort mit Behinderten, sowie in einem Kloster und einem Kibbuz. Später leitet er Studienreisen. 1971 bis 1972 lebt er in Jerusalem, studiert das vielgestaltige, überhaupt nicht auf einen Begriff zu bringende Judentum, macht sich mit ihm vertraut und erwirbt Vertrauen. Er lernt in Israel auch jene orientalische christlich-bunte Ökumene kennen, die manchen von uns nur aus der ganz frühen Dogmengeschichte bekannt ist. Heute vielleicht durch Flüchtlinge aus den mittelöslichen Kernregionen der frühen Christenheit? In Jerusalem wird er auch ordiniert.

Diese Gehversuche in eine bessere Zukunft folgen dem Programm des Propheten Amos (3,3), der das große Wort „Versöhnung“ vermeidetund einfach sagt: „Gehen auch zwei miteinander, wenn sie sich nichtgetroffen haben?“ Bei diesem miteinander Unterwegssein trifft man den „anderen“ und lernt ihn und sich selbst besser kennen. Das ist mehr als „betroffen“ zu sein.

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Den Praktikern erspart Ulrich Schwemer nicht die Fragen der wissenschaftlichen Analytiker und jenen nicht die Fragen der Praktiker. Er ist in beiden theologischen Werkräumen zu Hause. Das zeigt sich in der Mitarbeit an der tatsächlich wirksam gewordenen Kritik am Gottesdienstbuch der Ev. Kirche der Union und der Vereinigten Ev. Luth. Kirche, der sog. erneuerten Agende; in der Mitarbeit zur „Ergänzung des Grundartikels in der EKHN oder an den Denkschriften der EKD „Christen und Juden“. Seine Beiträge zu der Studie II von 1991 und zur Studie III aus dem Jahr 2000 konzentrieren sich besonders auf die Stichworte „Land Israel“ und „Predigen in Israels Gegenwart“.

Ulrich Schwemer betrachtet die jüdisch-christlichen Beziehungen nicht als Spezialproblem, das eine durch die Schoah vielleicht erschrockene Theologie ihrem reichen Schatz als Unterkapitel hinzuzufügen hätte. Jeder Bibeltext sowie jede ekklesiologische oder christologische Aussage fordert, die Jüdischkeit ihrer Herkunft sowie ihrer Gegenwart zu studieren und neu zur Rede zu bringen. Was bedeutet es, wenn ich zB Titel für das jüdische Volk auf die Kirche übertrage, wie „Volk Gottes“ oder „königliches Priestertum“ (Ex 19,,6; 1Petr 2,5) ? Verliert Israel durch diese Übertragung seine Würden und Aufträge als Gottesvolk?

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  • IV

Kirchen und jüdisches Volk teilen die messianische Hoffnung, dass die von Gott gut geschaffene, von Menschen korrumpierbare Schöpfung nicht so bleibt. Vollendung und Erlösung sind ihr von Gott als Sinn und Ziel gesetzt.

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ChristInnen erkennen und bekennen in dem Juden Jesus von Nazaret nicht nur – gut biblisch – den Rabbi, den Propheten, den Therapeuten, den Lehrer, den geopferten Sündenbock, den versöhnenden Hohenpriester, Gottes gelungenes Ebenbild oder das Vorbild seiner Gemeinde. Sie sehen in ihm den, der das von Juden wie von Christen erhoffte messianische Reich Gottes in seiner Menschwerdung, in seinem Tun und Verkündigen schon eröffnet. Er lebt Gott getreu „bis in den Tod, ja bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8). Gott befreit ihn als „Erstgeborenen der neuen Schöpfung“ (Koll 1,15+18) vom Tod. Er beruft Menschen in seine Mitarbeitergruppe gegen Tod und Schuld, gegen Armut und Angst, gegen Krankheit und Unrecht.
Wenn Christen wie Juden „auf einen neuen Himmel und eine neue Erde“ (Jes 66, 17; 2 Petr 3,13; Off 21,1) hoffen, dann folgen die ChristInnen dem von Gott Gesalbten, dem Maschiach, dem Messias, dem Christus nach, der sich ihnen als Menschenskind und Gotteskind Jesus von Nazaret vorstellt. Dann hören sie aber sehr aufmerksam die Anfragen derer, die auch auf der messianischen Hoffnungsspur neben ihnen unterwegs sind, aber respektvoll Jesus nicht messianisch verstehen:
Gershom Scholem sieht im Christentum eine „Auffassung, welche die Erlösung als einen Vorgang im geistigen Bereich und im Unsichtbaren ergreift, der sich in der Seele, in der Welt jedes einzelnen, abspielt, und der eine geheime Verwandlung bewirkt, der nichts Äußeres in der Welt entsprechen muß.“
Emil Fackenheim fragt, ob nicht der Messiasglaube der ChristInnen ein „verfrühter Messianismus“ sei, denn sie warteten doch wie die Juden auf das (Wieder)-Kommen des Messias: Ist es nicht „ein Messianismus ohne den Menschen oder besser ein Messianismus mit nur einem Menschen“? „Sind Schwerter zu Pflugscharen geworden? Ist der Krieg von der Erde verschwunden?“

  • V

Ulrich Schwemer gehört zu den Theologen, die klar sehen, dass die Theologie in ihrem akademischen und gemeindlichen Leben nicht nach dem reformatorischen Programm „sola scriptura“ gezwungen wurde, eine neue Beziehung zum jüdischen Volk zu suchen, sondern durch „Auschwitz“. Nicht das Schriftstudium in Verkündigung und Forschung, sondern ein brutum factum der deutschen Geschichte in Europa löst ein Umdenken zum jüdischen Volk aus.

Der New Yorker Rabbiner Irving Greenberg sieht das Christentum vor einer klaren Entscheidung: „Im Lichte des Holocaust gibt es nur die Alternative: Das klassische Christentum stirbt, um zu neuem Leben zu erstehen; oder es wird unberührt bleiben, damit aber für Gott und für die Menschen absterben.“
Johann Baptist Metz warnt ähnlich die Theologie: „Was wir christlichen Theologen heute….tun können, ist in jedem Falle keine Theologie mehr zu treiben, die so angelegt ist, dass sie von Auschwitz unberührt bleibt bzw unberührt bleiben könnte.“ Theologen haben sich zu fragen, ob unsere Theologie „so ist, dass sie vor und nach Auschwitz die gleiche sein könnte; wenn ja, dann seid auf der Hut!“

Dem christlich-jüdischen Gespräch wird gelegentlich vorgeworfen, es verleihe der geschichtlichen Gegebenheit der Schoah eine Offenbarungsqualität. Der Vorwurf rückt die Bemühungen, eine neue Brücke zwischen Juden und Christen zu bauen, in die Nähe jener Christen, die 1933 von „Deutschlands großer, gottgeschenkter Stunde“ sprachen. Greenberg wie Metz sprechen aber davon, dass die Theologie sich „berühren“ lassen muss von Auschwitz. Anders gesagt: Theologie gibt „Auschwitz“ keinen Sinn. Wohl aber haben Theologie und Kirche auf die Wirklichkeit eines Massenmordes zu antworten. Es geht nicht um die Frage, wie Gott ihn zulassen konnte, sondern darum, wie konnten Menschen ihn – sublim oder brutal - vorbereiten, zulassen und exekutieren?

Der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel schaut nicht auf die Sadisten der Schoah, sondern auf ihre intellektuellen Vorbereiter und passiven Begleiter: „Falls ich versuchen könnte zu verstehen – aber es wird mir nie gelingen – weshalb mein Volk zum Opfer wurde, so werden andere Leute verstehen müssen, warum die Mörder Christen – sicher schlechte Christen – waren. Irgendjemand wird erklären müssen, warum so viele Mörder Intellektuelle waren, Akademiker, Hochschulprofessoren, Rechtsanwälte, Ingenieure, Ärzte, Theologen“. Spätestens seit Jesu Auslegung der Tora in der Bergpredigt ist bekannt, dass das Töten mit dummen und klugen Vorurteilen beginnt.
VI
Auch eine a-jüdische Theologie – lassen wir einmal die weitverbreitete antijüdische Theologie beiseite – ist nie folgenlos. Sie überlebt in der Bekennenden Kirche wie auf Lehr- und Predigtkanzeln sowie in Klassenzimmern und Schulbüchern. Historisch-kritisch an ihrer Überwindung zu arbeiten – wie es Ulrich Schwemer tut – ist deswegen nötig, weil auch eine nicht nazi-hörige Theologie eine säkulare, völkische, rassische oder soziale Judenverachtung kräftig fütterte und hier und da weiterhin ernährt. Alle empirischen Umfragen belegen, dass ChristInnen genauso viele antijüdische Einstellungen haben wie Nichtchristen:

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Ich erinnere mich an meine exgetischen Lehrer hier in Mainz und in Bonn.

Herbert Braun vertrat zB die These, „echt“ und „typisch“ für Jesus sei - „mit großer Wahrscheinlichkeit“ – das, was dem jüdischen Denken „widerspricht“, wenn zB Jesus Reinheitsgebote übertrete oder Feindesliebe gebiete (Mt 5,43-48). Das Wort „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz und die Propheten aufzulösen“ (Mt 5,17-19) ist „eminent jüdisch gedacht, also in keinem Falle typisch für Jesus“.
Philipp Vielhauer in Bonn schrieb: „Alter und neuer Bund sind sich ausschließende Gegensätze“. So steht es in einem Aufsatz „Paulus und das Alte Testament“ . Er untersucht folglich ein Problem, das für Paulus schlichtweg nicht existiert. Für ihn gibt es weder ein Altes noch ein Neues Testament. Er hat – wie Jesus - nur die „Schriften“ oder wie es an anderer Stelle heißt: „Mose und die Propheten“, dh die zur Kanonisierung anstehende jüdische Bibel. Diese belegt ihm hinreichend und glaubwürdig für die Völker der Welt die Botschaft Jesu, seine Kreuzigung und Auferstehung.
Martin Noth schloss seine großartige „Geschichte Israels“ gewissermaßen mit einem unhistorisch-unkritischen Grabspruch auf Israel: Im Jahr 135, als der Bar-Kochbar-Aufstand niedergeschlagen wurde, „endete“ in einem schauerlichen Nachspiel die Geschichte Israels“. Fast 2000 Jahre der Geschichte des Volkes Israel, überwiegend unter christlicher Macht und Mehrheit, sind entleiblicht und abgekoppelt von der biblischen Geschichte dieses Volkes.

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  • VII

Die biblisch reiche und vielfältige Kontinuität des Christentums hängt an der lebendigen Verbindung zum jüdischen Volk – im Ja und Nein einer ebenso gemeinsamen wie kontroversen Koexistenz. Sonst wird aus dem biblischen Gott ein Gott jener Geschichtsphilosophen, die das Christentum über oder vor das Judentum platzieren. Es geht aber um das Hören auf den „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs und den Vater Jesu Christi“. Mit diesen unverwechselbaren Namen und Geschichten werden neue Lebens- und Denkmöglichkeiten eröffnet und die Grenzen von Judentum und Christentum in eine bessere Zukunft geweitet. Da Ulrich Schwemer an dieser theologischen und humanen Horizonterweiterung mitarbeitet, trifft ihn die heutige Ehrung zu Recht. Ich danke ihm für seine Arbeiten und gratuliere ihm von Herzen!

Laudatio anlässlich der Ehrenpromotion von Pfarrer Ulrich Schwemer an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Evangelisch-Theologische Fakultät am 15. Januar 2014


Karl Barth, Der Römerbrief, 2. Auflage München 1922, S. XII. 1967 schreibt Barth an Eberhard Bethge (zu dessen Bonhoeffer-Biographie): „Neu war mir vor allem die Tatsache, daß Bonhoeffer 1933 als Erster, fast Einziger die Judenfrage so zentral und energisch in ins Auge gefasst und in Angriff genommen hat. Ich empfinde es längst als eine Schuld meinerseits, daß ich sie im Kirchenkampf jedenfalls öffentlich…nicht ebenfalls als entscheidend geltend gemacht habe.“ (K.B. Gesamtausgabe V, Briefe 1961-1968, Zürich 75, S. 403). 1942 hatte er in seiner Erwählungslehre (KD II,2 § 34) einen Neuansatz zur bleibenden Erwählung Israels vorgelegt.

Ulrich Schwemer gibt christliche Beiträge zu dieser Diskussion heraus, die sich zB mit dem Verhältnis von Passamahl und Abendmahl befassen: Gottesdienst in Israels Gegenwart; Passamahl – Abendmahl, Heppenheim 1999.

Die ganze Bibel zu Wort kommen lassen. Ein neues Perikopenmodell. In „Begegnungen“, Zeitschrift für Kirche und Judentum. Erarbeitet im Auftrag der KLAK. Sonderheft Dez. 2009.

Ulrich Schwemer (Hg), Christen und Juden. Dokumente der Annäherung. GTB Sachbuch, Gütersloh 1991.

Vgl den Bericht, Ulrich Schwemer, Die Verzweiflung der Menschen und die Hoffnung auf Frieden, Junge Kirche 3/2002, S. 2-7.

Arnulf H. Baumann, Ulrich Schwemer (Hg im Auftrag der der Studienkommission “Kirche und Judentum“ der EKiD), Predigen in Israels Gegenwart. Predigtmeditationen im Horizont des christlich-jüdischen Gesprächs. Gütersloh Bd 11986; Bd 2 1988, Bd 3 1990. mit U. Schwemers Bearbeitung von Ex 3,1-10 (14)); Bd 2 1988 (von Mt 27, 33-54); Bd 3 1990, zu Mt 25,1-13. Hier Bd 1, S. 10. Das Zitat hier: Bd 1, S. 10, Weitere Beispiele finden sich in „Studium in Israel“, (Hg) Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Wernsbach 2007 (S.68-74 zu 2Petr 16-21); 2008 S. 58-64 (zu Lk 18,27); 2010 S. 1-7 zu Jer 23,5-9); 2011 (S. 260-266 zu ApGesch 8,26-39).

So noch der Bruderrat der Bekennenden Kirche 1948. Vgl Ulrich Schwemer (Hg), Christen und Juden, Gütersloh 1991, S.88-91.

Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, München 1952, S. 1f.

Vgl Ulrich Schwemer, Beten am Israelsonntag. In: Folker Siegert (Hg), Kirche und Synagoge. Ein Lutherisches Votum. Göttingen 2012, S. 405-417. Und: Martin Stöhr (Hg), Judentum im christlichen Religionsunterricht, (mit Beiträgen von Johann Maier, Heinz Kremers, J. F. Konrad, Pinchas Lapide), Frankfurt 1972; Ders. Judentum im christlichen Religionsunterricht.(mit Beiträgen von Burkhard Biallass, Günter Biemer, Albert Biesinger, Peter Fiedler, Albert H. Friedlander, Günter Bernd Ginzel, Hildegard Gollinger; Heinz Kremers, Christian Machalat, Johann Baptist Metz, Pnina Navé-Levinson, Ursula Reck). Frankfurt 1983.

Ev. AK Kirche und Israel in Hessen und Nassau (Hg) Streit um die Erneuerte Agende, Heppenheim 1999, Schriftenreihe Bd 17..

Ders., „…zur Umkehr gerufen…“. Ein Lese- und Arbeitsbuch zur Erweiterung des Grundartikels der EKHN, Heppenheim 1992, Schriftenreihe Bd 11.

Hg im Auftrag des Rates der EKiD vom Kirchenamt der EKiD, Gütersloh 1991 und 2000.

Gershom Scholem, Judaica, Frankfurt 1963, S. 7f.

Emil Fackenheim, Was ist Judentum? Berlin 1099, S. 222.

Aus: Eva Fleischner (Ed.) Auschwitz, Beginning of a new era? New York 1977, S. 24.

Johann Baptist Metz, Freiburger Rundbrief 1978, S. 10.

Alle Landeskirchen nehmen am 14. Juli 1933 eine Verfassung der Deutschen Ev. Kirche an, die mit dem Satz beginnt „In der Stunde, da Gott unser deutsches Volk eine große geschichtliche Wende erleben lässt, verbinden sich die deutschen evangelischen Kirchen…zu einer einigen Deutschen Evangelischen Kirche.“

Eugen Kogon, Johann Baptist Metz (Hg), Gott nach Auschwitz, Freiburg, Basel, Wien, 1979, S. 45.

Herbert Braun, Jesus, Stuttgart-Berlin 1969, S. 35f.

Philipp Vielhauer, Paulus und das Alte Testament“, Göttingen 1959, S. 207.

Martin Noth, Geschichte Israels, Göttingen 1954, S. 406.

Blaise Pascal, Pensees, Heidelberg 1946, S. 251.

 

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