Erfahrungen in der christlich-jüdischen Begegnung und ihre Konsequenzen für die Verkündigung
von Ulrich Schwemer

Eine Schlüsselerfahrung
Meine erste Begegnung mit lebendiger, jüdischer Tradition war ein Erev Schabbat Essen, das ich als angehender Theologiestudent in Nahariya/Israel erleben konnte. Wir versammelten uns um den Esstisch, der Familienvater sprach den Segen über dem Wein, jeder trank aus dem Segensbecher,dann brach er das bis dahin verdeckte Brot, sprach einen Segen darüber und und jeder nahm ein Stück von dem Brot. Dann begann das Abendessen, ich aber war wie elektrisiert, dieses Mal und noch viele weitere Male. Und das, was mich hier elektrisiert hatte, sollte mich nicht mehr loslassen: Das Abendessen begann irgendwie wie Abendmahl, aber durfte das überhaupt sein? Und wenn es da etwas Verbindendes gab, was bedeutete das für meinen christlichen Glauben und für die Botschaft des Abendmahls?
 
Seither habe ich immer wieder darüber nachgedacht, daran gearbeitet und mit Kirchenvorständen versucht, das christliche Abendmahl in seiner jüdischen Verwurzelung zu begreifen und zu deuten. Ich habe Abschied genommen von der theologischen Überfrachtung des Abendmahls, habe die Kraft des Gemeinschaftsmahls entdeckt in der festen Überzeugung, dass die frühen Christengemeinden zunächst genau dieses Abendmahl am Vorabend des Schabbat miteinander gefeiert haben.

Wenn heute immer noch das Abendmahl als Sündenvergebungsmahl gefeiert wird, zu dem man ohne vorheriges Schuldbekenntnis womöglich das Abendmahl auch „sich selber zum Gericht“ einnehmen könnte, erinnere ich mich an den herrlichen Bericht von Malwida von Meysenburg (1816-1903) in den „Memoiren einer Idealistin“, wie sie von der ungeheuren Strenge des Abendmahls berichtet und dann nach dem Beichtgottesdienst umso überraschter ist, dass ihre Brüder immer noch fröhlich weiter Unfug treiben.

Dass Paulus mit seiner Aussage, man könne das Abendmahl auch sich selber zum Gericht einnehmen, einen konkreten Anlass hatte, nämlich die Feindseligkeiten und Lieblosigkeiten in einer Gemeinde, wird vergessen.

Theologie nach Auschwitz
Als 1979 die vierteilige Serie „Holocaust“ im Fernsehen gezeigt wurde, waren die Delegierten der gerade eben (1978) gegründeten „Konferenz landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden (KLAK)“ mehr als skeptisch, ob in Hollywood ein angemessener Beitrag für die Auseinandersetzung mit dem Holocaust geleistet werden könnte. Damals kannte man eher Dokumentarfilme wie „Nacht und Nebel“ mit der Musik von Hanns Eisler (Regie: Alain Resnais). Gab es wirklich eine Möglichkeit, das Grauen des Holocaust anders darzustellen als dokumentarisch? Im Januar 2014 hören wir von einem Film, den Alfred Hitchcock über den Holocaust gedreht hat, der in den Archiven verschwand, weil von Seiten der Alliierten solche Streifen als nicht mehr hilfreich für die Erziehung der deutschen Nachkriegs-Bevölkerung betrachtet wurden.

Zunehmend wurden die Delegierten von diesem Film „Holocaust“ gefangen genommen in seiner Zuspitzung auf ein dramaturgisch entwickeltes Familienschicksal. Und die nächsten Monate und Jahre sollten zeigen, wie tief dieser Film in die Gesellschaft hineinwirkte, wie oft gerade dieser Film Debatten, Verwerfungen und auch Zerwürfnisse in die Familien brachte. Plötzlich wurde nach der Geschichte der eigenen Familie gefragt.

Am Sonntag nach der Ausstrahlung der Filmserie „Holocaust“ war der Predigttext die Erzählung von der Sturmstillung (Mk 4,35-41). Es wurde eine der wenigen Predigten, in denen ich gegen den Text predigte. Es war mir unmöglich, den Text mit den Worten Jesu  „Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?“ (V.40) ungebrochen zu predigen. Denn allzu viele Menschen hatten ihren Gott in den Tagen des Holocaust als verborgen, vielleicht auch als schlafend erlebt und verloren ihren Glauben. Doch auch die, die trotz allem ihren Glauben nicht verloren, stritten, ja kämpften mit und gegen diesen Gott. Ich habe die Predigt damals mit der Geschichte von Zwi Kolitz, „Jossel Rackower redet (rechtet) mit Gott“, beendet. Hier gibt es keine Sturmstillung. Hier steht das Warschauer Ghetto in Flammen und das Ende der literarischen Person Jossel Rackower steht bevor. Er erzählt dann die Geschichte vom Rabbi der vor der Inquisition über das Meer in das Gelobte Land flieht und in einen Sturm gerät. Hier aber folgt nicht die Stillung des Sturms, vielmehr verliert er seine ganze Familie, nur er allein wird auf eine Insel verschlagen. Und mit diesem Bewusstsein lässt Zwi Kolitz seinen Jossel Rackower sagen:

„Ich, Jossel, Sohn des Jossel Rackower von Tarnopol, schreibe diese Zeilen, während das Warschauer Ghetto in Flammen steht; das Haus, in dem ich mich befinde, ist eines der letzten, das noch nicht brennt. Schon seit einigen Stunden werden wir von heftigem Artilleriefeuer beschossen, und ringsum stürzen die Mauern ein; in kurzer Zeit wird auch dieses Haus, wie fast alle anderen Häuser des Ghettos seinen Bewohnern und Verteidigern zum Grab werden. Und das sind meine letzten Worte an dich, mein zorniger Gott. Es wird dir nicht gelingen! Du hast alles getan, damit ich nicht an dich glaube, damit ich an dir verzweifle! Ich aber sterbe, genau wie ich gelebt habe, im felsenfesten Glauben an dich.“

Das andere Schlüsselwort für die theologische Verkündigung in der Gemeinde stammt von dem katholischen Theologen Johann Baptist Metz: „Was christliche Theologen für die Ermordeten von Auschwitz und damit auch für eine künftige christlich-jüdische Ökumene 'tun' können, ist in jedemFalle dies: keine Theologie mehr zu treiben, die so angelegt ist, dass sie von Auschwitz unberührt bleibt bzw. unverurteilt bleiben konnte. In diesem Sinne gebe ich meinen Studenten ein scheinbar sehr einfaches, aber eigentlich höchst anspruchsvolles Kriterium zur Beurteilung der theologischen Szene an die Hand: Fragt euch, ob die Theologie, die ihr kennenlernt, so ist, dass sie vor und nach Auschwitz eigentlich die gleiche sein könnte. Wenn ja, dann seid auf der Hut!“
(http://www.nostra-aetate.uni-bonn.de/erinnerung-als-theologische-basiskategorie/zum-verhaeltnis-von-christen-und-juden-in-deutschland/zum-verhaeltnis-von-christen-und-juden-in-deutschland: „Nach Auschwitz. Zum Verhältnis von Christen und Juden in Deutschland“ Download 10.01.2014)

Dieses Zitat ist mir immer bedeutsam geblieben, eine Mahnung, im Verkündigungsalltag der gemeindlichen Arbeit nicht zu vergessen, dass die Erfahrung von Auschwitz jede, aber auch jede kirchliche Verkündigung nach dem Holocaust in Frage stellt. Das heißt nicht, dass es in der kirchlichen Verkündigung kein Loben und Danken mehr geben kann, dass nicht mehr Halleluja gesungen werden darf. Aber diese fröhliche Seite des Glaubens ist nicht mehr denkbar ohne die tiefste Verdunkelung des Glaubens durch den Holocaust.

Die Verkündigung in den Kirchen in Israels Gegenwart
Auf der anderen Seite lehrt die Erfahrung aus der Begegnung mit jüdischen Menschen, dass eine Definition des christlichen Glaubens nicht ohne die Verflechtung des christlichen Glaubens mit dem jüdischen Glauben denkbar ist. Die Lutherdekade gibt zu einem neuen Denkansatz reichlich Gelegenheit. Noch immer lasten die antijüdischen Ausfälle des alten Luther auf der reformatorischen Wirklichkeit. Es ist an der Zeit, dass die Ev. Kirche in Deutschland zum Lutherjubiläum hier ein klares Wort der Distanzierung von solchen Äußerungen Martin Luthers findet

Unsere Ev. Kirche in Hessen und Nassau hat sich dieser Herausforderung der Beziehung zwischen jüdischem und christlichem Glauben mit der Ergänzung des Grundartikels im Jahr 1991 gestellt: „Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen bezeugt sie (die EKHN) neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein.“

Dieser Ergänzung ging ein langer, intensiver Diskussionsprozess in Gemeinden, Pfarrkonferenzen, Dekanatssynoden voraus. In der Debatte um die Ergänzung des Grundartikels der EKHN wurde immer wieder die Frage gestellt, ob nicht die christliche Identität verlorengehe, wenn Christen die bleibende Gültigkeit von Gottes Verheißungen für und von Gottes Bund mit Israel bezeugen. Doch wie viel Glaubwürdigkeit hat die Kirche insgesamt verloren, dass sie immer wieder das Judentum als dunkel, gesetzlich diffamierte und sich selber – die eigene dunkle Geschichte verdrängend – als Lichtgestalt der Liebe Gottes daneben und dagegen stellte.

Um der Glaubwürdigkeit der eigenen Verkündigung willen muss die sonntägliche Predigt auf diese einfachen, verfälschenden, aber wohlfeilen Predigtinhalte verzichten. Wenn dies geschieht, verliert der christliche Glaube auch etwas von seiner Ängstlichkeit um die eigene Identität. Tatsächlich wird erst in dem Bewusstsein darum, dass auch das Alte Testament ungekürzt und unverändert Inhalt der christlichen Botschaft ist, die Verkündigung der Kirche selbstbewusst und glaubwürdig, ohne die dunklen Seiten der eigenen Geschichte zu verschleiern.

In der Konsequenz dieser Erfahrungen lag es, sich darüber Gedanken zu machen, wie das, was man in Seminaren, Diskussionen und Dialogen über das Verhältnis von Christen und Juden lernt, auch für die Arbeit in der Gemeinde und für die Verkündigung im Gottesdienst umsetzten kann. Erste Versuche waren die drei Bände „Gottesdienst in Israels Gegenwart“ (1986,1988,1990). „Studium in Israel“ führte diese Idee weiter aus und bietet seit vielen Jahren für den gesamten Predigtzyklus eines Jahres Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Horizont an.

Dass diese bisherige und gegenwärtig gültige Perikopenordnung aus der Sicht des christlich-jüdischen Dialogs unzureichend ist, liegt bei einem kurzen Blick in die Ordnung auf der Hand. Zwar gab es in den letzten gut 100 Jahren mehrfache Revisionen der Perikopenordnung, auch mit dem erklärten Ziel, das Alte Testament stärker in den Blick zu bekommen. Das jedoch ist nur äußerst begrenzt gelungen. Neben der formalen Tatsache, dass bei einer sechsteiligen Ordnung meistens nur ein, manchmal auch zwei alttestamentliche Texte aufgeführt werden, ist vor allem die Auswahl mit engstem Horizont auf solche Texte ausgerichtet, die nach dem Prinzip „was Christum treibet“ ausgesucht wurden. Die Gesamtbotschaft der Hebräischen Bibel, die für das Verständnis des Neuen Testaments grundlegend ist, kommt dabei nicht in den Blick.

Dass die Kirchenleitung der EKHN das Perikopenmodell der „Konferenz landeskirchlicher Arbeitskreises Christen und Juden (KLAK)“ „Die ganze Bibel zu Wort kommen lassen – Ein neues Perikopenmodell“ zur Erprobung freigegeben hat, haben wir dankbar wahrgenommen. Und auch wenn gegenwärtig ein Ausschuss der EKD an einem neuen Perikopenmodell arbeitet, wird es gut sein, dieses KLAK-Modell weiterhin zu begleiten. Natürlich geht das Modell der KLAK sehr weit. Es war nicht zu erwarten, dass die EKD das so aufnimmt. Aber die gegenwärtigen Diskussionen um die EKD-Revision zeigen, dass auch in Zukunft noch sehr dicke Bretter zu bohren sein werden.

Auf einen sehr einprägsamen Begriff hat der Alttestamentler Frank Crüsemann die enge Verknüpfung von Altem und Neuem Testament mit dem Titel seines Buches „Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen: Die neue Sicht der christlichen Bibel“ (2011) gebracht. Die Erkenntnis, dass das Neue Testament im Horizont des Alten steht, hat die Christenheit zu lange vergessen oder verschleiert. Es geht nicht darum, die Botschaft Jesu in Abgrenzung vom Alten Testament sondern in der Konsequenz des Alten Testaments zu sehen und dieses auch in der sonntäglichen Verkündigung unserer Gottesdienste deutlich zu machen. Dafür muss nicht ständig über das Judentum gesprochen werden. Es reicht schon, auf allzu wohlfeile Abgrenzungsbilder zu verzichten. Die gottesdienstliche Verkündigung wird glaubwürdiger, lebendiger und viel spannender. Und dass hier nicht christliche Identität verloren geht oder christliche Lehrsätze über Bord geworfen werden müssen, wie z.B. die Trinitätslehre, hat Martin Stöhr mit Thesen deutlich gemacht, die aufzeigen, dass die Trinitätslehre nicht den Monotheismus auflösen will, sondern gerade mit dieser Lehre verhindern will, dass sich Gott, Sohn und Geist in drei Gottheiten aufteilen.

In diesem Sinne ist auch Dietrich Bonhoeffer zu verstehen, der die Einheit und Einzigkeit Gottes auch in der Trinitätslehre nicht aufgehoben sieht: „Dass es nicht drei Götter sind, sondern dass es einer ist, der die Welt vom Anfang bis zum Ende schafft, umfängt und erlöst; und dass es doch jedes Mal ganz Gott ist als der Schöpfer und Vater, als Jesus Christus und als der Heilige Geist, das ist die Tiefe der Gottheit, die wir als Geheimnis anbeten und als Geheimnis begreifen.“ (Dietrich Bonhoeffer, Brevier, Otto Dudzus ed. München 1991, 232)

Vortrag, in verkürzter Form gehalten als Dankesrede für die Ehrenpromotion am 15. Januar 2014

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email