Evangelische Christen jüdischer Herkunft in Frankfurt am Main
von Hartmut Schmidt

Am 5. Juli 1818 ließ sich Ludwig Börne im Alter von 33 Jahren in der damaligen Frankfurter Vorstadt Rödelheim taufen. Im Taufbuch der evangelischen Cyriakusgemeinde ist zu lesen, dass er, der in der Judengasse als Löb Baruch geboren wurde, nach „verhergegangenen Unterricht und abgelegten Glaubensbekenntnis (lutherischer Confession)“ getauft wurde. Für Börnes Zeitgenossen bedeutete diese Konversion wenig, für sie blieb er ein Jude. „Es ist wie ein Wunder! Tausend Male habe ich es erfahren, und doch bleibt es mir ewig neu. Die einen werfen mir vor, dass ich ein Jude sei; die andern verzeihen mir es; der Dritte lobt mich gar dafür; aber alle denken daran. Sie sind wie gebannt in diesem magischen Judenkreise, es kann keiner hinaus.“ Anders als Franzosen, so die Erfahrung von Börne, machten die Deutschen die jüdische Religionszugehörigkeit beständig zum Thema. „Getauft oder nicht, das ist dasselbe“ wurde ihm und Heinrich Heine, der sich ebenfalls taufen ließ und im Taufzettel das „Eintrittsbillet zur deutschen Gesellschaft“ sah, entgegengehalten.

Text Taufbuch
Im Jahr Christi Eintausend Achthundert und achtzehn den fünften Juni wurde Herr Ludwig Börne, Doktor der Philosophie, von Frankfurth bisher jüdischer Religion, alt zwei und dreißig Jahr, nach vorhergegangenen Unterricht und abgelegten Glaubensbekenntnis (lutherischer Confession) durch die heilige Taufe in die christlicher Kirchengemeinschaft aufgenommen, wobey er noch den Vornamen Carl erhielt. Taufzeuge war: Herr Karl Wilhelm Bertuch, der Handlung Rofließener in Frankfurth, welcher gegenwärtigen Protokoll nebst mir dem Inspektor, der die Taufe verrichtet, unterschrieben haben.
Karl Wilhelm Bertuch
G.A. Bertuch, Insp.

Und so blieb der wohl bekannteste Frankfurter Christ jüdischer Herkunft für seine Zeitgenossen immer ein jüdischer Literat. Nicht wenige Persönlichkeiten, die die Stadt Frankfurt prägten, folgten Börnes Beispiel. Über die Gründe dieser Konversionen geben die Taufbücher der Frankfurter evangelischen Kirchengemeinden keine direkte Auskunft. Doch Randnotizen wie „Konvertit“ oder „Erwachsenentaufe“ zeigen, dass diese Übertritte meist im Erwachsenenalter und oft im Zusammenhang der Heirat mit einer nichtjüdischen Partnerin beziehungsweise Partner erfolgten und nicht in erster Linie religiös motiviert waren.
In Börnes Zeiten wie in der Folgezeit wurde die Taufe von Juden durch die deutsche christliche Mehrheitsgesellschaft kaum akzeptiert: Sie waren nun „getaufte Juden“. Der nationalsozialistische Antisemitismus konnte an diese Tradition anknüpfen: Christen jüdischer Herkunft galten als „getarnte Juden“, die in den deutschen Volkskörper eingesickert waren und ihn vergifteten. Was immer die Gründe der Übertritte auch waren, 1933 waren diese obsolet. Nun waren alle wieder Juden, Nichtarier, Rassejuden, getaufte Juden. Bei deren Aufspürung konnten die Nazis besonders auf die Unterstützung der Kirchen setzen. Bereitwillig stellten diese die Eintragungen in den Taufbüchern ihrer Gemeinden zur Verfügung, lieferten die Ariernachweise und auch die Nachweise der jüdischen Herkunft.
Die Suche nach den evangelischen Christen jüdischer Herkunft, die während der NS-Zeit in Frankfurt lebten, gleicht über sieben Jahrzehnte später dem Aufspüren der jüdischen Herkunft in der NS-Zeit: ‚Damals wurden die Kirchenbücher zur Enttarnung der aus Nazisicht „zersetzenden jüdischen Herkunft“ herangezogen, heute dient dieselbe Recherche dazu, die aus der Kirche Ausgestoßenen in das Gedächtnis der Gemeinden und Landeskirche zurückzuholen.

Bevölkerungsstatistik
Die Zahl der evangelischen Christen jüdischer Herkunft in Frankfurt am Main in den Jahren 1933 bis 1945 kann nur annäherungsweise rekonstruiert werden. Sie dürfte jedoch in engem Zusammenhang mit der Zahl der jüdischen Bewohner der Stadt gestanden haben. Frankfurt war 1933 die deutsche Stadt mit den prozentual meisten jüdischen Einwohnern (4,7 Prozent) und hatte nach Berlin die größte jüdische Gemeinde. Von den 555.857 Einwohnern waren 26.158 jüdisch, 317.589 evangelisch und 184.194 katholisch. Bis 1938 änderten sich diese Zahlen kaum, außer dass sich die Zahl der jüdischen Einwohner durch die Flucht aus Deutschland auf 13.739 Juden halbiert hatte.
In der Frankfurter Landeskirche wurde keine besondere Erhebung über ihre Mitglieder mit jüdischer Herkunft geführt wie beispielsweise in Berlin, wo eine „Fremdstämmigen-Kartei der Kirchenbuch-Stelle Alt-Berlin“ angelegt wurde. Ab September 1933 gehörte die Frankfurt Landeskirche zur neu gegründeten Evangelischen Landeskirche von Hessen-Darmstadt, die in ihrem Gründungsjahr rund 1.651.000 Mitglieder und 700 Pfarrer zählte.
Aus der Bevölkerungsstatistik des Dritten Reiches lassen nur die Daten der Volkszählung von 1939 Rückschlüsse auf die Zahl der Christen jüdischer Herkunft zu. Bei der Volkszählung von 1933 konnten durch die Konfessionsangabe die Mitgliederzahlen der jüdischen Gemeinden, der christlichen Kirchen und anderer Religionen ermittelt werden. Da die Nationalsozialisten jedoch wissen wollten, wer nach den Definitionen der Nürnberger Rassegesetze von 1935 Jude sei, wurden bei der Volkszählung 1939 auch nach der Religionszugehörigkeit der vier Großeltern gefragt.
Nach dieser Volkszählung waren in Frankfurt am Main 17.469 Personen mit jüdischer Herkunft registriert. Von diesen galten 14.559 Personen als „Volljuden“ (mit drei oder vier jüdischen Großeltern), weitere 1.894 als „Mischlinge 1. Grades“ (zwei jüdische Großeltern) und 847 als „Vierteljuden“ oder „Mischlinge 2. Grades“ (ein jüdisches Großelternteil).
Von den 14.191 Frankfurter „Volljuden“ waren laut Statistik 683 keine Glaubensjuden, sondern evangelisch, katholisch, „gottgläubig“, gottlos oder gehörten anderen Religionen an. Legt man die Zahlen für das gesamte Land Hessen-Nassau zugrunde, wonach rund zwei Drittel dieser Personen evangelisch waren, waren in Frankfurt rund 400 dieser „Volljuden“ evangelisch.
Zu diesen „volljüdischen“ evangelischen Christen jüdischer Herkunft kommen noch die „Mischlinge 1. und 2. Grades“ hinzu. Diese „Mischlinge“ stammten aus christlisch-jüdischen Verbindungen. In Hessen Nassau waren aus dieser Personengruppe 3.310 evangelisch . Werden Zahlen für das gesamte Land Hessen-Nassau zugrunde gelegt, nach der zwei Drittel der Bewohner des Landes in Frankfurt lebten, bedeutet dies, dass jedenfalls über 2.000 dieser „Mischlinge“ evangelisch waren.
Nach dieser Schätzung mit Hilfe der Volkszählungsdaten lebten in Frankfurt am Main Ende der 1930er Jahre rund 2.400 evangelische Christen jüdischer Herkunft.

Tauf- und Konfirmandenbücher und Fragebögen von 1946

Die Namen von über 1.000 Christen jüdischer Herkunft finden sich in Frankfurter Kirchenbüchern, besonders in den Tauf- und Konfirmandenbüchern der Kirchengemeinden. Die großformatigen Bände umfassen jeweils rund 200 Seiten mit etwa eintausend Einträgen. Die Einträge weisen neben den Daten der Täuflinge und Konfirmanden die Namen, Berufe, Geburtstage und Konfessions- bzw. Religionszugehörigkeit deren Eltern aus. Ausgewertet wurden die Tauf- und Konfirmationsbücher vor allem von solchen Kirchengemeinden, in deren Einzugsbereich der Anteil der jüdischen Bewohner nennenswert war. In den untersuchten 165 Tauf- und Konfirmationsbüchern dieser acht Gemeinden aus den Jahren um 1890 bis 1945 finden sich etwa 165.000 Einträge, bei rund 900 ist für mindestens ein Elternteil als „Konfession“ „isr.“ (israelitisch“) verzeichnet.
Das bedeutet, dass etwa ein halbes Prozent aller in Frankfurt Getauften und Konfirmierten jüdischer Herkunft war. Nicht erfasst sind in diesen Kirchenbüchern diejenigen Getauften und Konfirmierten jüdischer Herkunft, deren Eltern bereits konvertiert waren. Nach nationalsozialistischer Definition wurde jedoch als Jude definiert, wer jüdische Großeltern hatte. Nicht erfasst sind in diesen Kirchenbüchern die Christen jüdischer Herkunft Frankfurts, die in anderen Städten und Gemeinden getauft worden waren.

892 Taufen von Christen jüdischer Herkunft in acht Gemeinden

St. Petersgemeinde

232

Matthäusgemeinde

149

Katharinengemeinde

133

Weißfrauengemeinde

121

Johannisgemeinde

73

Nikolaigemeinde

83

Lukasgemeinde

63

Dreiköniggemeinde

38

Gesamt

892

Eine weitere Quelle zur Rekonstruktion der Zahl und Namen der Christen jüdischer Herkunft stammt aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Am 5. Juni 1946 wurde von der Frankfurter evangelischen Kirche eine „Hilfsstelle für rassisch verfolgte Christen“ eingerichtet. Dort ließen sich innerhalb kürzester Zeit nahezu 1.300 Personen registrieren. Sie füllten „Fragebögen zur Erfassung der durch die Nürnberger Gesetze betroffenen Christen“ aus. 942 dieser Personen stammten aus Frankfurt, die übrigen aus dem Umland. Die meisten von ihnen waren jüdischer Herkunft, bei rund 100 Personen handelte es sich um nach NS-Definition „arische“ Personen, deren Ehepartner jüdisch oder jüdischer Herkunft waren.

Führt man die Zahlen der Hilfsstelle und der Kirchenbücher zusammen, ergibt sich für die acht angeführten Kirchengemeinden folgende Statistik:
 
Evangelische Christen jüdischer Herkunft

 

Tauf-
Konf-
Bücher

Frage
Bögen
1946

Andere
Quellen

alle

Voll
jüdisch

Mischling
1.Grades
M1

M2

„Arisch“

Ohne Angabe

St. Peters

232

137

4

300

45

210

13

30

 

Matthäus

149

42

2

192

90

81

4

13

4

Katharinen

133

98

5

228

100

104

7

19

9

Weißfrauen

121

29

 

150

58

78

7

3

 

Johannis

73

73

 

136

12

105

11

8

 

Nikolai

83

64

2

130

10

107

4

8

 

Lukas

63

70

2

135

26

84

10

15

1

Dreikönig

38

41

2

75

22

39

5

1

 

Gesamt

892

554

17

1346

363

808

61

97

14

Diese Statistik zeigt: Keine Kirchengemeinde in Frankfurt – und dadurch auch Hessen – hatte mit 300 so viele Christen jüdischer Herkunft in ihrer Mitte wie die alte St. Petersgemeinde (einschließlich der heutigen Gethsemanegemeinde). Die Gründe dafür liegen zunächst in den Gemeindegrenzen: Das Gebiet der St. Petersgemeinde entsprach in großen Teilen dem Stadtteil Nordend, während im Westend mit Katharinen und Matthäus zwei Gemeinden bestanden, für die 420 Christen jüdischer Herkunft gezählt wurden. In beiden Stadtteilen lebten etwa gleiche viele Juden, wobei im Westend der Anteil der Juden mit 22,5 Prozent der höchste aller Frankfurter Stadtbezirke war. In diesen beiden Stadtteilen wohnten die liberalen, gebildeten und begüterten Schichten, christlich wie jüdisch. Dies war das Milieu, in dem Juden sich taufen ließen, vor allem im Zusammenhang einer Eheschließung mit einem christlichen Partner oder Partnerin. Hier entstanden zahlreiche jüdisch-christliche Familien, deren Kinder meist evangelisch getauft wurden.
Die meisten jüdischen Einwohner Frankfurts lebten jedoch im Ostend, das sich milieumäßig wesentlich vom Nordend und Westend unterschied. Es waren vorwiegend Handwerker und Arbeiter und aus dem Osten zugezogene orthodoxe Juden. Für die dortige evangelische Nikolaigemeinde konnten nur 130 Mitglieder mit jüdischer Herkunft gezählt werden.

aus: Getauft, ausgestoßen – und vergessen? Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen und Nassau mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus. Ein Arbeits-, Lese- und Gedenkbuch. Herausg. von Heinz Daume, Hermann Düringer, Monica Kingreen und Hartmut Schmidt, Hanau 2013

Dazu Manfred Gailus (Hg), Kirchliche Amtshilfe, Göttingen 2008

Frankfurter Kirchenkalender 1935,40.

Zählung nach der vom Bundesarchiv zur Verfügung gestellten Datei.

Volkszählung. Die Bevölkerung des Deutschen Reiches nach den Ergebnissen der Volkszählung 1939. Heft 4: Die Juden und die jüdischen Mischlinge im Deutschen Reich. Bearbeitet vom Statistischen Reichsamt. Berlin 1944, 4/21. Die zahlenmäßige Differenz zu den im Datensatz Frankfurt gezählten 14.559 „Volljuden“ konnte nicht geklärt werden.

Von den 2.885 „Mischlingen 1. Grades“ waren 1.711 evangelisch, von den 1.616 „Mischlingen 2. Grades nur 17 jüdisch.

Ausgenommen wurde die reformierte Gemeinde, deren Daten für diese Recherche nicht zugänglich waren. Bei der St. Paulsgemeinde sind die Tauf- und Konfirmationsbücher im Zweiten Weltkrieg vernichtet worden.

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ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
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