Heinrich Lebrecht: „Der Strafversetzung habe ich nicht Folge geleistet“
von Ulrich Schwemer

Dieser Text basiert auf der Arbeit der Tochter von Pfarrer Lebrecht, Marianne Lebrecht, die unter Verwendung der Gemeindechronik von Groß-Zimmern sowie von Materialien unter anderem aus dem Zentralarchiv der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und mit eigenen Recherchen und Interviews das Leben ihres Vaters nachzeichnete. Sie erzählt von seinen jüdischen Wurzeln, seinem treuen Bekenntnis und seinem Mut in Zeiten des Kirchenkampfs. Marianne Lebrecht hat diese Erinnerungen im Jahr 2001, wenige Jahre vor Ihrem Tod im Jahr 2009, in der Schriftenreihe „Im Dialog – Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau“ (vormals: „Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau“) veröffentlicht. Der Titel der Veröffentlichung lautet: „Verschweigen oder Kämpfen – Ein Pfarrer und seine Gemeinde im Kirchenkampf 1933 bis 1945“. Der Titel nimmt damit eine Frage von Pfarrer Lebrecht am Anfang des Kirchenkampfes auf. Alle Seitenangaben beziehen sich auf diese Veröffentlichung.

Vom Ende her
Am 5. Februar 1945 verstarb Pfarrer Heinrich Lebrecht, nachdem er am 21. Januar 1945 als Mitglied der Organisation Todt verwundet worden war. Die Organisation Todt war 1938 für den Bau militärischer Anlagen gegründet worden. Während des Krieges wurden in dieser Organisation Zwangsarbeiter, KZ-Insassen und schließlich „Halbjuden“ eingesetzt. Heinrich Lebrecht war einer von ihnen. Sein Tod wäre vermeidbar gewesen, wenn die Evangelische Landeskirche Nassau-Hessen (EKNH) ihre Fürsorgepflicht wahrgenommen hätte (S.116 ff). Zu dieser Erkenntnis kam seine Tochter Marianne Lebrecht aufgrund von Aktenstudium beispielsweise im Archiv der EKHN. Anders als andere Landeskirchen hat sich die EKNH nicht für die Rückstellung eines Gemeindepfarrers eingesetzt, der jüdische Wurzeln hatte. Über seinen Tod ist der Familie nur das bekannt, was ihr offiziell mitgeteilt wurde. Aber die Recherchen von Marianne Lebrecht werfen die Frage auf, ob sein Tod nicht nur durch eine Verwundung, sondern auch durch körperliche Gewaltanwendung herbeigeführt wurde.

Nicht seine Wirklichkeit
Die nationalsozialistischen Rassegesetze hatten Heinrich Lebrecht in eine Wirklichkeit gestoßen, die nicht seinem durch und durch christlichen Selbstverständnis entsprach: Er war als Christ geboren, als Sohn einer Christin und eines Christen. Der Vater von Heinrich Lebrecht hatte sich als junger Mann taufen lassen und war in der evangelischen Kirche, schließlich sogar im Kirchenvorstand der Mainzer Johannisgemeinde, aktiv gewesen. So hätte eine christliche Familie ihre Frömmigkeit leben können, die teilweise über die Mutter durch die Herrnhuter Brüdergemeinde geprägt war. Für ihn selbst blieben die Herrnhuter Losungen bis zu seinem Ende tägliche Begleiter in guten wie in schweren Stunden.

Doch Heinrich Lebrecht wurde Pfarrer in einer Kirche, die sehr schnell auf die nationalsozialistische Linie einschwenkte: Es entstand die „Evangelische Landeskirche Nassau-Hessen“, die aus Sicht des jungen Pfarrers Lebrecht „nicht Jesus Christus, sondern dem Nationalsozialismus“ (S.14) verpflichtet wurde.

Mitgliedschaft im Pfarrernotbund und beginnender Kirchenkampf
Diese Einschätzung führte ihn direkt in den Kirchenkampf. Im September 1933 trat Lebrecht dem von Martin Niemöller gegründeten Pfarrernotbund bei. In der Verpflichtungserklärung wird betont: „In solcher Verpflichtung bezeuge ich, dass eine Verletzung des Bekenntnisstandes mit der Anwendung des Arierparagraphen im Raum der Kirche geschaffen ist.“ (S.15)

Dieser so genannte Arierparagraf war Teil des bereits am 7. April 1933 erlassenen „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“. Die von den Deutschen Christen unter dem Landesbischof Lic. Dr. Ernst-Ludwig Dietrich geführte Landeskirche übernahm bereits am 10. Februar 1934 die entscheidenden Passagen dieses Gesetzes auch für die Kirche Nassau-Hessen.

Noch bevor diese dunklen zwölf Jahre begannen, hatte Heinrich Lebrecht bereits nach einigen kleineren Umwegen seine Pfarrstelle in Groß-Zimmern übernehmen können. Dort blieb er, gegen alle Versuche, ihn aus dem Amt zu drängen, Pfarrer, bis zu seinem Tod bei einem Einsatz der Organisation Todt.

In Groß-Zimmern erlebte er den Übergang von der Demokratie in die nationalsozialistische Diktatur. Von Anbeginn stand Heinrich Lebrecht in starkem Gegensatz zu den Deutschen Christen. Im „Sonntagsgruß der Evangelischen Gemeinde Groß-Zimmern“ druckte Lebrecht einige seiner Predigten ab und schrieb Artikel, die sich kritisch mit der Entwicklung in der Deutschen Kirche auseinandersetzen. Folgerichtig unterschrieb er dann auch die Erklärung des Pfarrernotbundes, die sich gegen den „Maulkorberlass“ des Reichsbischofs der Deutschen Christen, Ludwig Müller, wendete. Der hatte zuvor die Anordnung erlassen, dass Pfarrer sich nicht kirchenpolitisch auf der Kanzel äußern dürften und mit Entlassung bei Zuwiderhandlung gedroht.

Für den 23. Juli 1933 hatte Hitler allgemeine Kirchenvorstandswahlen im gesamten Reich vorgeschrieben. Hierbei sollte ein hoher Prozentsatz der Vertreter der Deutschen Christen in den Kirchenvorständen durch die Aufstellung entsprechender Listen gewährleistet sein. In Groß-Zimmern allerdings zeigte sich, dass die bisherige Arbeit von Pfarrer Lebrecht Früchte trug: Es wurden in der Gemeinde keine Vertreter der Deutschen Christen gefunden! So wurde der Kirchenvorstand in seiner bisherigen Zusammensetzung wiedergewählt (S. 21). Dies war gewiss eine Ausnahme in den evangelischen Gemeinden und ein Ausweis der besonderen Wertschätzung der Gemeinde für ihren Pfarrer. Hier ist bereits etwas von der Kraft dieser Gemeinde zu spüren, die sich später als Bekenntnisgemeinde im Rahmen der Bekennenden Kirche (BK) verstehen wird.

Rückhalt in der Gemeinde
Dieser Rückhalt in der Gemeinde wird entscheidend gewesen sein für die Kraft, die Heinrich Lebrecht nun brauchte, um gegen die inner- und außerkirchlichen Anfeindungen zu bestehen. Denn auch der Pfarrernotbund und die Bekennende Kirche haben im Hinblick auf „nichtarische“ Christen keine gute Figur abgegeben, sie haben nicht eindeutig Stellung bezogen, sich dem politischen Druck gebeugt und die betroffen Mitchristen um Zurückhaltung gebeten.

Auch Martin Niemöller, der Begründer des Pfarrernotbundes, hat an dieser Stelle versagt: Pfarrer Lebrecht bereiteten „die Erklärungen Schwierigkeiten, die Martin Niemöller zur praktischen Ausführung der Verpflichtung der Notbundpfarrer 'auf Grund ständig wiederkehrender Anfragen' gegeben hatte. Er empfahl den 'nichtarischen' Pfarrern, sich im Kirchenkampf zurückzuhalten“ (S.17). Genau diese geforderte Zurückhaltung empfand Heinrich Lebrecht als „Verrat am Evangelium und damit auch an den Gemeindemitgliedern Groß-Zimmerns“ (a. a. O.).

Lebrecht war mit dieser Position viel näher bei Dietrich Bonhoeffer, der im Blick auf eine Kirche, die den „Arierparagraphen“ einführt, nur den Austritt als mögliche Konsequenz sah (S.16). Auf Anfragen aus der Gemeinde nimmt er im „Sonntagsgruß“ vom 15. April 1934 Stellung: „Es ist nicht meine Art hinten herum Andeutungen zu machen, sondern ich sage frei heraus, was um der Wahrheit des Evangeliums willen gesagt werden muß. Aus diesem Grund gehe ich hier im 'Sonntagsgruß' offen auf die Angelegenheit ein, da ja gar nichts zu verbergen ist.“ (S. 26)

Lebrecht hatte sich in der Karfreitags-Predigt mit Alfred Rosenbergs „Mythos des 20. Jahrhunderts“ auseinandergesetzt. Hierbei hatte er sich mit dem Blutmythos der Nationalsozialisten beschäftigt und die Frage gestellt: „Willst du leben aus deinem Blut oder aus dem Blut des Gotteslamms?“ (S. 30) und die Frage ausgeweitet auf die biblische Aussage der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die einen ganz anderen Menschen zeigt als das Menschenbild, das die Nationalsozialisten propagierten. Für Lebrecht war die Gottebenbildlichkeit nur und ausschließlich in der Gestalt Jesu Christi zu erkennen. „Gott hat uns in Christus gezeigt, was Gottebenbildlichkeit ist.“ (S. 31)

An keiner Stelle hat Heinrich Lebrecht sich zu Kompromissen verleiten lassen. In seinen Gottesdiensten hat er die kirchlichen Entwicklungen kommentiert bzw. zur Kenntnis gegeben. Öffentliche Verlautbarungen der Bekennenden Kirche gegen die Deutschen Christen verlas er im Gottesdienst und machte damit wohl auch seine eigene Gemeinde stark im beginnenden Kirchenkampf. So hatte er die „Dahlemer Erklärung“ der Bekenntnisbewegung in der DEK verlesen, in der diese sich gegen die Versuche des Reichsbischofs verwahrte, die Kirche zu zentralisieren und die nationalsozialistische Ideologie in die Kirche einzubringen. Die Bekenntnisbewegung verweigerte in dieser Erklärung den Gehorsam (S. 34 ff). In der Folge dieser Erklärung formierte sich die Evangelische Kirchengemeinde Groß-Zimmern als Bekenntnisgemeinde.

Wenn bis zu diesem Zeitpunkt die jüdische Herkunft Heinrich Lebrechts noch keine Rolle spielte, also sein Eintreten für die Bekennende Kirche ein Ausdruck seines Bekenntnisses war, zeigt sich erstmals in der Auseinandersetzung im Kirchenvorstand der Gemeinde Groß-Zimmern, dass interessierte Kreise sehr wohl bereit waren, dieses Argument, in die Debatte einzubringen. Der Bürgermeister von Groß-Zimmern, der auch im Kirchenvorstand war, lehnte in der Sitzung vom 3. November 1934 den Kirchenkampf als „ein Verbrechen“ ab. Dem Pfarrer habe sein jüdisches Blut keine Ruhe gelassen. Er wolle den Pfarrer darauf aufmerksam machen, dass er für alle Unruhe im Dorfe verantwortlich sei (S. 39). Damit verließ er den Kirchenvorstand. Alle anderen Mitglieder aber blieben im Kirchenvorstand und stärkten damit ihren Pfarrer.

Bekenntnisgemeinde Groß-Zimmern
Am gleichen Tag hatte der Landesbischof Lebrecht vom Amt suspendiert, was dieser aber unter Berufung auf die „Dahlemer Beschlüsse“ der Bekennenden Kirche ablehnte. Stattdessen gründete er gemeinsam mit dem Kirchenvorstand und der Gemeinde in einem feierlichen Gottesdienst zum Reformationstag am 4. November 1934 die Bekenntnisgemeinde Groß-Zimmern. Die Barmer Erklärung wurde verlesen, danach lud man die Gemeindeglieder ein, sich im Anschluss an den Gottesdienst als Mitglied der Bekennenden Kirche einzutragen. Die Liste wurde auf dem Altar bereit gelegt. Nur vier Menschen verließen die Kirche (S. 39). Was aber in der Folge noch viel beachtlicher ist: Von rund 1.900 beitrittsfähigen Gliedern der Gemeinde traten etwa 1.500 Mitglieder der Bekenntnisgemeinde bei (S. 40).

Der nationalsozialistisch ausgerichteten Landeskirche war das natürlich ein Dorn im Auge, und dies nicht nur, weil sich eine bekennende Gemeinde bildete, sondern auch, weil der Pfarrer dieser Gemeinde jüdische Wurzeln hatte. Der Bürgermeister von Groß-Zimmern hatte nämlich eine Initiative zur Zwangsbeurlaubung des Pfarrers Lebrecht ergriffen und dazu den Landesbischof Dr. Dietrich aufgesucht. Nach Erinnerung eines Gesprächsteilnehmers soll der Landesbischof sich folgendermaßen geäußert haben: „Was fällt dem Judenstämmling Lebrecht ein!“ (S. 47) Der katholische Gesprächszeuge kommentierte das so: „Mein Bischof redet nicht so von seinen Pfarrern.“ (a. a. O.) Pfarrer Lebrecht hat alle diese Vorgänge in der Chronik festgehalten.

Tatsächlich folgte dann die oben schon erwähnte Zwangsbeurlaubung. Eine Begründung dafür wurde nie gegeben, und Anfragen der Gemeinde und des Kirchenvorstandes blieben unbeantwortet.

Die Tochter des Pfarrers, Marianne Lebrecht, fragt sich, welches wohl die Gründe für die Zwangsbeurlaubung gewesen sein könnten: das Verlesen der „Dahlemer Erklärung“, die Forderung des Bürgermeisters oder eine antisemitische Grundeinstellung?. Wahrscheinlich muss man sich gar nicht entscheiden. Alle diese Gesichtspunkte werden mitgespielt haben: eine aufmüpfige Gemeinde, eine Anbiederung an die Nationalsozialisten und eben ein christlich verbrämter Antisemitismus. Die Äußerung über den „Judenstämmling“ ist allzu verräterisch.

Konflikte mit den örtlichen Nationalsozialisten und der Lendeskirche
In Groß-Zimmern standen, wie schon erwähnt, der Bürgermeister, aber auch der Lehrer und NSDAP-Ortsgruppenleiter Arras, gegen den Pfarrer. Obwohl die Gestapo eine Befragung ohne Ergebnis zu den Akten legte, in der es um die Vorwürfe Aufhetzung junger Parteimitglieder gegen den Bürgermeister, Versuch der Auflösung des BDM und Ablehnung der Simultanschule ging (S. 48). Auch hier floss der Vorwurf ein, der „jüdische“ Pfarrer habe die Jugendlichen zur Abkehr von der nationalsozialistischen Ideologie verleitet.

Dass für die Nationalsozialisten die jüdische Herkunft Lebrechts immer wieder eine Rolle spielte, belegt auch eine Äußerung von Oberkirchenrat (OKR) Zentgraf, der in einem Brief an den Reichskirchenausschuss zum Verbot des Religionsunterrichtes schreibt: „Ein entschiedener Nationalsozialist der Gemeinde, der in Kürze die Geburt eines Kindes erwartet, erklärte seiner Frau, die Anhängerin Lebrechts ist, er werde sich lieber von seiner Frau und seinem Kind trennen, als daß er es von dem Halbjuden taufen lasse.“ (S. 63)

Der gesamte Vorgang zeigt zugleich, dass Ende 1934 nicht nur versucht wurde, Pfarrer Lebrecht bei der Kirche anzuschwärzen, sondern auch, dass ihn die Nazis aus Groß-Zimmern bei der Geheimen Staatspolizei anzeigten. Angesichts der Vorwürfe, die erhoben wurden, überrascht es, dass die Gestapo die Untersuchungen gegen Lebrecht einstellte. Dies mag ein Hinweis darauf sein, dass in Groß-Zimmern wirklich viele Menschen in Distanz zum NS-Regime standen und zugleich wohl auch hinter ihrem Pfarrer.

Die Landeskirche allerdings versucht auch im Kampf um den Religionsunterricht, der NS-Rasseideologie Rechnung zu tragen, wenn OKR Zentgraf in dem schon zitierten Schreiben sagen kann: „Daß zwischen dem Juden und dem Deutschen Rasse-Antipathie in stärkstem Maße vorhanden ist, bedarf keines Wortes. Deshalb bedeutet der Verkehr mit einem nichtarischen Geistlichen (…) zweifellos eine seelische Belastung der Gemeinde“.(S. 64)

Die Landeskirche bemühte sich intensiv, Pfarrer Lebrecht aus dem Amt zu drängen. Neben dem – missglückten – Versuch der Gehaltskürzung nach der Verlesung der „Dahlemer Botschaft“ im Oktober 1934, der Zwangsbeurlaubung und dem Verbot von Amtshandlungen im November 1934 sowie dem Verbot des Religionsunterrichtes im Januar 1935, folgten dann im Februar 1935 die Verfügung zur Strafversetzung und Gehaltssperre ab 1. März 1935.

Tatsächlich kann Lebrecht dank der Unterstützung seiner Gemeinde und des Landesbruderrats, der für die ausbleibenden Gehaltszahlungen eintrat, der Strafversetzung widerstehen. Er teilt dem Landesbruderrat mit: „Der Strafversetzung habe ich nicht Folge geleistet, da sie unrechtmäßig war. Ich halte es für richtig, in meiner Gemeinde zu verbleiben, da ich deren rechtmäßiger Pfarrer bin.“ (S. 51). Ganz stark ins Feld geführt wird hier das Amtsverständnis in der „Bekennenden Kirche“, das in diesem Fall auch von der Gemeinde getragen wurde. Lebrecht wird zum 1. November 1935 wieder in sein Amt eingesetzt.

Auswandern?
Die Tatsache, als Pfarrer mit jüdischen Wurzeln in einer Kirche zu arbeiten, die den „Arierparagraphen“ eingeführt hat, führt verständlicherweise auch bei Heinrich Lebrecht zu Überlegungen, mit seiner Familie Deutschland zu verlassen. Er hat, zum Teil vermittelt durch das Büro Grüber, Kontakte in unterschiedliche Länder mit Hilfsangeboten und der Möglichkeit, eine Pfarrstelle im Ausland zu übernehmen.

Schon in einem Brief vom 1. April 1934 erhält er eine Antwort von Dietrich Bonhoeffer aus England, in der Bonhoeffer sehr zurückhaltend die Möglichkeit einschätzt, eine deutsche Auslandsgemeinde in England zu bekommen, da die DEK in Berlin dem zustimmen müsste. Er fährt dann allerdings fort: „Ich glaube jedoch, dass in dem Augenblick, wo sie als Nichtarier aus ihrem Pfarramt scheiden müssen, sich hier von der englischen Kirche viele Türen auftun werden.“ (S. 76, Typoskript).

Dass das Kirchliche Außenamt der DEK hier Vorbehalte hatte, ist Bonhoeffer offensichtlich bekannt. Die Überlegungen, nach England zu gehen, haben Lebrecht über Jahre begleitet. Noch 1939 hätte er wohl die Möglichkeit dazu gehabt. Doch die Ungewissheit auf der einen Seite, wie auf der anderen Seite die Überzeugung, einen Auftrag in der Gemeinde in Groß-Zimmern zu haben, lässt ihn die Entscheidung immer wieder verzögern.

Dazu gehört auch die Sorge, dass nach seinem Weggang aus Groß-Zimmern womöglich ein Pfarrer der Deutschen Christen die Gemeinde übernehmen könnte. Einer seiner Gesprächspartner, der später in der Hessen-Nassauischen Kirche als Pfarrer tätige Gründer des Evangelischen Arbeitskreises Kirche und Israel in Hessen und Nassau (heute: Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau), Adolf Freudenberg, zeigte in einem Brief vom 10. Mai 1939 Verständnis für das Zögern, deutete aber zugleich an, dass der Weg in die Freiheit wohl bald verschlossen sein könnte (S. 75).

In der Verantwortung für die Gemeinde
Lebrecht hat sich wohl letztlich in der Verantwortung für die eigene Gemeinde gesehen und sich gegen eine Auswanderung entschieden. Er lebte sein Christentum offensiv und scheute nicht die Auseinandersetzung mit der DC-Landeskirche oder der NS-Ideologie. Auf dem „Kirchentag unter dem Wort“ (in Gundernhausen, da die Veranstaltung in Groß-Zimmern untersagt worden war) hielt er eine Ansprache unter dem Titel „Warum Kirchenkampf?“ zu 1. Sam 17, 45 b „Ich aber komme zu dir im Namen des HERRN Zebaoth“. Diese Ansprache schließt er mit den Worten: „Warum kommt die Gemeinde in den Kampf mit dem Goliath der Welt? Weil sie berufen ist und weder über ihre Berufung hinaus noch hinter ihrer Berufung zurückbleiben darf. Und womit tritt sie in den Kampf? Sie kommt nicht mit den Waffen des Fleisches, sondern im Namen des Herrn Zebaoth. Amen.“ (S. 86) In diesem Vortrag setzt er sich intensiv auch mit der Ideologie der Deutschen Christen und ihrer Arisierung des christlichen Glaubens auseinander (S. 86ff).

Aber auch in der praktischen Gemeindearbeit und vor allem in Gebet und Gottesdienst findet die Gemeinde ihre Stärke. Hierbei spielen die Frauen der Gemeinde eine herausragende Rolle. „Es ist etwas besonders Schönes, wenn wir früh am Morgen die Gnade Gottes preisen und uns Kraft schenken lassen dürfen für das Tagwerk.“ (S. 95)

Mit dieser Kraft hat Heinrich Lebrecht seine Gemeinde geleitet und begleitet, ihr seelischen Trost gegeben und spirituelle Kraft. Wohl als „Mischling“ und teilweise geschützt durch das Pfarramt, wurde er nicht als Soldat eingezogen. Am 8. Mai 1944 aber muss er sich beim Arbeitsamt melden. Dahinter verbirgt sich allerdings eine Aktion, die „Mischlinge“ zur Zwangsarbeit in der „Organisation Todt“ verpflichtete. Und seine eigene Kirche hat sich nicht vor ihn gestellt, Pfarrer Lebrecht wurde in die „Organisation Todt“ einberufen!

Diesen letzten Einsatz am Ende des Dritten Reichs hat Heinrich Lebrecht nicht überlebt. Sein furchtloses Eintreten aber für das rechte Bekenntnis des christlichen Glaubens kann immer wieder eine Ermutigung sein, für den aufrechten Gang in schwierigen Zeiten.

aus: Getauft, ausgestoßen – und vergessen? Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen und Nassau mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus. Ein Arbeits-, Lese- und Gedenkbuch. Herausg. von Heinz Daume, Hermann Düringer, Monica Kingreen und Hartmut Schmidt, Hanau 2013

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