Purim
von Daniel Neumann

Hollywood. Die Traumfabrik. Das Synonym für die einst auf Zelluloid und heutzutage auf digitale Medienträger gebannten bewegten Bilder, die zu Beginn des vorigen Jahrhunderts eine neue Ära schufen und die Welt bis zum heutigen Tage nachhaltig veränderten.
Es waren überwiegend Juden, die die kalifornische Metropole zu dem Wahrzeichen von Film und Kino entwickelten und ihren Träumen das Laufen beibrachten.
Louis Mayer gründete Metro-Goldwyn-Mayer, Adolph Zuckor schuf Paramount Pictures, William Fox baute die Fox Film Corporation auf, Benjamin Warner und 4 seiner Söhne riefen die Warner Brothers ins Leben und Carl Laemmle gründete Universal Pictures.
Und wenn sich die Purimgeschichte nicht bereits vor gut 2400 Jahren abgespielt hätte, gerade und insbesondere die jüdischen Filmemacher hätten sie glatt erfinden können. Denn diese Geschichte, die die Grundlage für einen der eher seltenen freudigen und ausgelassenen jüdischen Feiertage bildet, enthält alle Zutaten, um einen spannenden Kassenschlager produzieren zu können: Liebe, Hass, Intrigen, Freundschaft, Mut, jede Menge Action und einen - zumindest für die Juden - existenziellen Kampf zwischen Gut und Böse samt klassischem Happy-End. Zwar gab es tatsächlich schon einige Ansätze, den Stoff dieser Geschichte zu verfilmen, aber keiner dieser Versuche vermochte es bisher, den Ereignissen um die Errettung des jüdischen Volkes einen filmischen Rahmen zu verpassen, der das Publikum begeistert hätte.
Das ist umso unverständlicher angesichts der historischen Steilvorlage, die die Purimgeschichte bietet, die in einer eigenen Schriftrolle, der Megillat Esther, niedergeschrieben ist und alljährlich in den jüdischen Gemeinden gelesen wird:

Wir schreiben das Jahr 356 vor der Zeitrechnung. Der persische König Ahasveros (hier zu Lande als Xerxes bekannt), hat gerade seine widerspenstige Königin Waschti von seinem Hof verbannt und veranstaltet einen landesweiten Schönheitswettbewerb, um eine neue Königin für seinen Harem zu finden. Das jüdische Mädchen Esther, das seine jüdische Abstammung auf Ratschlag seines Onkels Mordechai zunächst geheim hält, gewinnt den Wettbewerb und das Herz des Herrschers und avanciert zur neuen und des Regenten liebster Königin.
Währenddessen sinnt der Bösewicht Haman, seines Zeichens Premierminister des Königs, auf Rache, weil Esthers Onkel Mordechai ihm die zur Bestätigung seiner eigenen Wichtigkeit als Minister geforderte Verbeugung beharrlich verweigert mit dem Hinweis, dass ein Jude sich nur vor G“tt selbst verbeugen dürfe.
Der selbstsüchtige und egozentrische Haman kann diese Demütigung nicht ertragen und schmiedet einen Plan, sämtliche Juden, gleich ob Männer, Frauen oder Kinder, ermorden zu lassen.
Durch eine List erschleicht er sich die Zustimmung des Königs für den geplanten Massenmord und wählt mittels eines Loses, von dessen persischem Begriff „pur“ sich der Name des Festes „Purim“ ableitet, den Monat Adar für die Umsetzung seiner Pläne.
Nun bleibt Esther nichts anderes übrig, als Farbe zu bekennen: Um ihr Volk zu retten, riskiert sie ihr eigenes Leben, indem sie dem König ihre wahre Abstammung offenbart und ihn bittet, seine Entscheidung zu revidieren. Der König, der sich durch eine Reihe vermeintlicher Zufälle nun daran erinnert, dass Esthers Onkel Mordechai ihn einst vor einem Mordkomplott gewarnt und damit seine Loyalität und Treue bewiesen hatte, erkennt die wahren Absichten seines boshaften Ministers Hamann und lässt ihn an ebenjenen Galgen aufhängen, der ursprünglich für Mordechai errichtet worden war. Die Juden des Reiches hingegen dürfen sich zu ihrer Selbstverteidigung bewaffnen und trotzen den Schergen Hamanns in einem 2-tätigen Kampf auf Leben und Tod.
Am Ende schließlich ist die existenzielle Bedrohung des jüdischen Volkes durch den Mut Esthers und Ihres Onkels und die im Kampf obsiegenden Juden Persiens abgewendet.

Die Eignung für die Filmschaffenden Hollywoods böte sich allerdings noch aus einem anderen Grund an: Eine Produktion wäre verhältnismäßig kostengünstig, weil auf teure und aufwendige Spezialeffekte für die Darstellung g“ttlicher Wunder verzichtet werden könnte.
Dem aufmerksamen Hörer einer Megilla-Lesung wird ja nicht entgangen sein, dass nicht nur G“tt in der gesamten Purimgeschichte nicht ein einziges Mal vorkommt. Auch biblische Wunder, diese, der zunehmend rational und von dem Verlangen wissenschaftlicher Nachweisbarkeit geprägten Gesellschaft eher fremden Materialsierungen g“ttlichen Wirkens, sind weit und breit nicht auszumachen. Weder werden die Protagonisten von Plagen heimgesucht (mit Ausnahme der menschlichen Plage des niederträchtigen Hamann) noch werden Ozeane geteilt oder kämpfende Engel auf die Erde gesandt.
Diese Besonderheit, nämlich die scheinbare Abwesenheit G“ttes und seines Wirkens ist es, die Purim zu einem wichtigen und bedeutsamen jüdischen Feiertag macht. Scheinbar deshalb, weil G“tt natürlich wirkt. Er tut es allerdings gewissermaßen hinter den Kulissen. Seine Präsenz offenbart sich in den vermeintlichen Zufälligkeiten dieser Geschichte, durch diese ungeordnet und unvorhersehbar wirkende Abfolge von Ereignissen, die abseits von Wahrscheinlichkeitsrechnung oder der Auslotung des statistisch Möglichen ein vollständiges, von g“ttlichem Wirken durchsetztes Bild ergeben. Die tiefer gehende Bedeutung lehrt uns, dass es nicht immer großer Wunder biblischen Ausmaßes bedarf, um sich g“ttlicher Existenz bewusst zu werden. Es reicht manchmal schon, wenn wir uns die Mühe machen, von den allgegenwärtigen aber oftmals verborgen scheinenden Wundern, die die Welt, die Natur und das Leben für uns bereit halten, Notiz zu nehmen und die gelegentlich so seltsam anmutenden und oft ungeordnet scheinenden Ereignisse in unserem Leben mal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Wen wundert es da noch, dass der Name der Hauptprotagonistin Esther im Hebräischen auch „verborgen“ oder „versteckt“ bedeutet.

Doch das Purim-Fest bietet noch eine weitere Besonderheit: Während der Genuss von Alkohol - abgesehen von dem an Shabbat und den Festtagen über den Wein gesprochenen rituellen Segen - im Judentum eher unüblich und das hemmungs- und grenzenlose Betrinken gar verpönt ist, gilt an Purim - und mit Einschränkungen an Pessach - eine Ausnahme. Es gilt das in der Megillat Esther aufgestellte Gebot, diesen Tag mit Essen und mit Trinken zu feiern. Wobei das Trinken, also der Weinkonsum, geradezu eine religiöse Pflicht ist. Es ist geboten so viel zu trinken, bis man den Unterschied zwischen „Gelobt sei Mordechai“ und „Verflucht sei Haman“ nicht mehr kennt. Diese Ermunterung zu regem Alkoholgenuss erklärt sich daraus, dass der Wein in der Purimgeschichte an mehreren entscheidenden Stellen vorkommt: Es war der Wein, der das Herz des Königs fröhlich werden ließ, so dass er von seiner damaligen Königin Washti einen Striptease vor dem versammelten Hofstaat verlangte und die er nach deren Weigerung vom Zorn übermannt verbannte, womit sie den Weg für die neue Königin Esther ebnete. Und es war ebenfalls ein Wein-Bankett, zu dem Esther den König eingeladen hatte, um dabei das Geheimnis ihrer Herkunft zu lüften und das letztlich zum Fall Hamanns führte.

An Purim besteht neben dem Brauch der von Alkohol und Freude begleiteten Festmahlzeit, dem Gebot des Lesens der Megillat Esther, also der Schriftrolle, in der die Purimgeschichte niedergeschrieben ist auch die Tradition der mischloach manot. Diese bezeichnet das Gebot, Freunden und Nachbarn Speisen und Süßigkeiten – jiddisch: Schlachmones- zukommen zu lassen, um den fröhlichen Anlass mit gegenseitigen Geschenken zu feiern. Gefühlvoller und dem eigentlichen Sinn näher kommend ist allerdings das Gebot, auch den Armen und Bedürftigen Geschenke oder Speisen zu schicken und ihnen insbesondere Geldspenden zukommen zu lassen. Die Freude über die Rettung des jüdischen Volkes und das ausgelassene Feiern dürfen den Blick auf die Bedürftigen und Schwachen in unserer Mitte, die unserer Hilfe und Unterstützung so dringend bedürfen, nicht verstellen. Keinem der Notleidenden soll das Begehen des Purimfestes wegen mangelnder finanzieller Leistungskraft unmöglich gemacht werden. Dies übrigens ist eine Grundhaltung im Judentum, von der auch der ein oder andere Politiker noch lernen könnte. 

Doch noch einmal zurück zur amerikanischen Traumfabrik: Vielleicht ist es ja gar nicht so schlecht, dass die bisherigen Verfilmungen der Purimgeschichte eher zweitklassig waren. Denn sonst würden wir irgendwann Gefahr laufen, dass die alte Tradition der jährlichen Lesung der Megillat Esther in der Synagoge, zu der die Kinder maskiert kommen und mit sog. Greggern bei jeder Erwähnung des Namens Hamann einen Riesenkrach machen, irgendwann durch das Anschauen eines Fernsehfilms in den heimischen vier Wänden abgelöst würde. Ich nehme mal an, dass G“tt an den bisherigen filmischen Misserfolgen daher nicht ganz unschuldig ist. Und auf einen zukünftigen Kassenschlager würde ich vor diesem Hintergrund auch nicht wetten wollen.

Der Autor ist Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen, K.d.ö.R.

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email