Das Reformationsjubiläum im Licht des erneuerten christlich-jüdischen Verhältnisses
von Nikolaus Schneider

Vorbemerkungen

„Am Anfang war das Wort“. (Joh 1,1) Dieser vertraute Beginn des Johannesevangeliums ist das Motto, unter dem die EKD das Reformationsjubiläums im Jahr 2017 vorbereitet.
„Am Anfang war das Wort“. Dieses Motto macht deutlich, dass die Bindung an Gottes Wort und das Vertrauen auf die dem Wort innewohnende Kraft vor 500 Jahren den entscheidenden Impuls für die Reformation gab. Und es ist die Bindung an und das Vertrauen auf Gottes Wort, die uns heute die entscheidenden Impulse für die Gestaltung und Feier des Reformationsjubiläums geben.

Zum Kontext des Jubiläums im Jahr 2017 wird auch gehören, dass es  im Zeitalter der Ökumene stattfindet und die Gelegenheit bietet, die Gemeinschaft der Protestanten untereinander und ihre Verbindung zur römisch-katholischen Kirche zu vertiefen. (1)

Heute Morgen aber geht es mir darum, das Reformationsjubiläum im Licht des christlich-jüdischen Verhältnisses zu bedenken. Evangelisch-jüdische und katholisch-jüdische Beziehungen haben in den vergangenen Jahrzehnten analoge Entwicklungen durchlaufen und gemeinsame Erkenntnisse hervorgebracht. Hans Hermann Henrix attestiert ihnen „ein vergleichbares Voranschreiten und ein analoges Zurückbleiben.“ (2)
Rabbiner David Rosen bemerkt: „Das Verhältnis zwischen dem Christentum und dem jüdischen Volk heute ist ein gesegneter Wandel in unserer Zeit – wohl ohne historische Parallele.“ (3)

Lassen Sie mich in meinen Vorbemerkungen diesen „gesegneten Wandel“ noch einmal kurz beschreiben, auch wenn das für Ihren Kreis eine Wiederholung von längst Vertrautem ist:
Unmittelbar nach dem Ende des 2. Weltkriegs gab es weder seitens der protestantischen noch in der römisch-katholischen Kirche Äußerungen zum Grauen der Schoah oder ein Nachdenken über den Zusammenhang von christlicher Judenfeindschaft und den vielfachen Formen des Antisemitismus. Das sogenannte „Darmstädter Wort“ des Bruderrates der EKD von 1947 spricht zwar davon, man sei „in die Irre gegangen“. Doch es sieht zu diesem Zeitpunkt das zentrale Problem der deutschen Christenheit nicht im Unterlassen eines Schuldbekenntnisses gegenüber den Jüdinnen und Juden, sondern in der mangelnden Bereitschaft, das Wort Gottes anzunehmen. (4)
Ein entscheidender Punkt für den Anfang des Weges zur Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses war erst die persönliche Begegnung und die gemeinsame theologische Arbeit von einzelnen Christinnen und Christen mit Jüdinnen und Juden.
Rolf Rendtorff sagte im Jahr 1984 in einem Rückblick auf seine eigenen Erfahrungen im jüdisch-christlichen Dialog:
„Wir sind sehr dankbar sagen zu können, dass es fast unmittelbar nach dem Ende des Naziregimes einige Juden gab, die bereit waren, einen jüdisch-christlichen Dialog zu beginnen.“ (5)
Rolf Rendtorff verweist unter anderem auf die Etablierung der „Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ und die „Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen“ auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag. Er erwähnt, dass „die engagierte Beteiligung jüdischer Mitglieder der Gruppe, vor allem die von Robert Raphael Geis und von Teilnehmern aus Israel, wie Ernst Simon und Schalom Ben-Chorin“, der „Hauptgrund für die fruchtbare Entwicklung“ dieser Arbeit gewesen ist. (6)
Die entscheidende theologische Wende zu einer Erneuerung des christlichen Verhältnisses zum Judentum lag dann in der Überwindung der traditionellen Lehre von der Verwerfung Israels und seiner Ersetzung durch die Kirche.
Die EKD-Synode von Berlin-Weißensee sprach im Jahr 1950 aus, „daß wir durch Unterlassen und Schweigen vor dem Gott der Barmherzigkeit mitschuldig geworden sind an dem Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen worden ist.“ (7) Und die Synode kam mit Bezug auf Röm 11, 32 zu einer neuen, positiven Aussage über das Judentum:

„Gott hat alle beschlossen unter den Unglauben, auf dass er sich aller erbarme. Röm 11, 32. Wir glauben an den Herrn und Heiland, der als Mensch aus dem Volk Israel stammt. Wir bekennen uns zu der Kirche, die aus Judenchristen und Heidenchristen zu einem Leib zusammengefügt ist und deren Friede Jesus Christus ist. Wir glauben, daß Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist.“

Den letzten Satz nennt Siegfried Hermle einen „Durchbruch zu einer neuen Sicht Israels!“ Und er führt ihn theologisch auf Karl Barths Einfluss zurück, der die Substitutionstheorie in seinem 1942 erschienen Band II, 2 der Kirchlichen Dogmatik zurückgewiesen hatte, indem er Israel und die Kirche als zwei Gestalten der „einen Gemeinde Gottes“ hinstellte.
Die „Arbeitsgemeinschaft Christen und Juden“ beim Deutschen Evangelischen Kirchentag spricht dann in der Tradition Martin Bubers vom „ungekündigten Bund“. Und im Synodalbeschluss der Evangelischen Kirche im Rheinland von 1980 finden die Diskurse über die „Mitverantwortung und Schuld“ der Christenheit in Deutschland an der Schoah sowie die zentrale Einsicht von der bleibenden Erwählung Israels ihren Niederschlag. Dieser Beschluss zog gravierende Veränderungen der Kirchenordnung der EKiR (z.B. Verzicht auf Judenmission!) und ihres Grundartikels nach sich.
Andere Gliedkirchen sind dem mit eigenen Erklärungen ebenso gefolgt wie mit Ergänzungen zu ihren jeweiligen Kirchenverfassungen, in denen das kirchliche Gebunden-Sein an das Judentum ausgedrückt und bekannt wird.

Die eben nur kurz skizzierte Entwicklung markiert einen fundamentalen Bruch gegenüber der Lebenswirklichkeit der Reformatoren und ihren theologischen und politischen Aussagen über das Judentum und die Juden.

Wie aber gehen wir bei unseren gegenwärtigen Planungen des  Reformationsjubiläums 2017 mit den sogenannten „Judenschriften“ der Reformatoren um? Die Möglichkeiten reichen vom Verschweigen über kurze Erwähnung bis zu ausführlichen Erklärungsversuchen oder völliger Verdammung.

Ich will mich im Folgenden dieser Frage stellen und das Reformationsjubiläum im Licht des erneuerten christlich-jüdischen Verhältnisses bedenken. Dabei will ich vier mögliche Konkretionen in der gebotenen Kürze entfalten.

Eine erste Konkretion

Der gerade beschriebene „gesegnete Wandel“ im Verhältnis unserer Kirchen zum Judentum verlangt, dass das Reformationsjubiläum einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Äußerungen der Reformatoren zum Judentum Raum geben muss. Es ist sorgsam zu prüfen, auf welchen – auch theologischen – Voraussetzungen dieses zumeist problematische Erbe der Reformation beruht. Es ist allerdings nicht nur an die Judenschriften Martin Luthers zu denken, sondern etwa auch an Johannes Calvin, der eine deutlich andere theologische Positionsbestimmung zum Judentum erkennen lässt. (8)

In der Kürze der mir gegebenen Zeit werde ich mich im Folgenden auf Martin Luther beschränken – und hierbei können wiederum lediglich  einzelne Gedankengänge verfolgt werden.

Die Beschäftigung mit dem Judentum begleitete Martin Luther lebenslang, aber persönliche Begegnungen mit Juden hat es für ihn so gut wie nicht gegeben. Theologische Gesprächspartner sind Juden für Luther in keiner Phase seiner Biographie gewesen. (9)
In Luthers erster großer Vorlesung über den Psalter in den Jahren 1513 bis 1516 findet sich die Bemerkung:
„Aus allen Schriften der Propheten wird klar, dass Juden, Ketzer und geistlich Hochmütige sich schon für gerecht und heilig hielten.“ (10)
Wie hier die Reihe „Juden, Ketzer und geistlich Hochmütige“, begegnen solche Reihungen bei Luther immer wieder. In der Vorlesung zum Galaterbrief 1531 etwa, wenn Luther als Beispiel falscher Religion „keinen Unterschied zwischen dem Juden, dem Papisten und dem Türken“ erkennen kann. (11)
Auch noch am Ende seines Lebens äußert sich Luther zum Thema.
Drei Tage vor seinem Tod, in Eisleben, der einzigen Stadt seines Lebensweges, in der Juden lebten, spricht sich Luther für deren Vertreibung aus. Dabei verbinden sich in seiner Kanzelabkündigung, der „Vermahnung wider die Juden“, zwei Akzente miteinander: Einen hatte Luther in seiner Schrift von 1523 „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“ gesetzt. Der andere entstammte seiner Schrift von 1543 „Von den Juden und ihren Lügen“.
Einerseits sei, wie Luther dies 1523 betont hatte, gegenüber den Juden christlich zu handeln und ihnen der christliche Glaube anzubieten, auf dass sie sich zum Messias bekehren.
Weil sie aber andererseits Jesus Christus lästern und fluchen, sollen die Christen nicht durch die Duldung von Juden an deren Sünde teilhaben, wie Luther 1543 akzentuiert hatte.
Letzteres stellt eine eigenartige Denkfigur dar, der zufolge man fremder Sünde – also des Unglaubens der anderen, so man ihn duldet – teilhaftig wird. Deshalb appellierte Luther an die Fürsten, hier konkret an den Grafen von Mansfeld, die Juden zu vertreiben.

Die beiden genannten Akzente treffen sich in der Pointe, auf die Luther seine „Vermahnung wider die Juden“ hinauslaufen lässt:
„Wollen sich die Juden zu uns bekehren und von ihrer Lästerung, und was sie uns sonst getan haben, aufhören, so wollen wir es ihnen gerne vergeben. Wo aber nicht, so sollen wir sie auch bei uns nicht dulden und leiden.“ (12)

Dass Luther in seiner letzten Äußerung die Akzente von 1523 und 1543 zusammenführt, stützt jene Ausleger seiner Judenschriften, die auf die Kontinuität in Luthers Beurteilung des Judentums hinweisen. Sie widersprechen einer Deutung, die zwischen einer frühen judenfreundlichen und einer späten judenfeindlichen Haltung des Reformators meint unterscheiden zu können.
Gewiss ist zwischen Luthers früher und den späteren Schriften im Blick auf das Judentum ein Kurswechsel unverkennbar. Doch dieser ist nicht theologischer, sondern politischer Art.
Dabei sind die Ratschläge des Reformators als praktisch umzusetzende politische Forderungen schockierend. Die empfohlenen Maßnahmen reichen vom Abbrennen der Synagogen über das Lehrverbot für Rabbiner bis hin zur körperlichen Zwangsarbeit. Und Luther behauptet nicht nur, die Juden hätten ein falsches Bibelverständnis, sondern sie seien menschlicher Vernunft, Scham und Sinnes beraubt und leibhaftige Teufel.

Die Judaistin Marianne Awerbuch konstatiert: Luther „ist in die Geschichte eingegangen als einer der wenigen, die die Grenze zwischen der religiösen Verunglimpfung und der menschlichen Diffamierung weit überschritten haben, er gehört zu denjenigen, die den Juden ihr Menschsein abgesprochen haben. (…) Güte und Milde, wie sie einem Christenmenschen nach lutherischem Verständnis wohl anstehen sollten, suchen wir in diesen und auch in anderen seiner Schriften vergebens. Er hat Haß und Vernichtung der Menschenwürde gepredigt. Dies gilt es zur Kenntnis zu nehmen, mit dieser Tatsache muss man lernen zu leben.“(13)

Als eine erste Konkretion, das Reformationsjubiläum im Licht unseres erneuerten christlich-jüdischen Verhältnisses zu sehen, möchte ich deshalb festhalten:

Das Reformationsjubiläum sollte Anlass sein, die antijüdischen Äußerungen Martin Luthers und seine judenpolitischen Empfehlungen  als dem Wort Gottes widersprechend zurückzuweisen.

Eine zweite Konkretion

 An die Wurzel von Luthers judenpolitischen Aussagen kommen wir erst durch eine Auseinandersetzung mit den theologischen Ausführungen heran, die Luther selbst als „Hauptstücke“ seiner Judenschriften gekennzeichnet hat. (14) Dabei geht es um das Wort Gottes. Es geht um die Heilige Schrift. Um den von Luther erhobenen Vorwurf, die Juden hätten ein falsches Bibelverständnis.

Mit Ausnahme der Antwort Luthers auf das Begehren des Juden Josel von Rosheim wenden sich seine sogenannten Judenschriften an Christen. So auch die Schmähschrift „Vom Schem Hamphoras“ und die Schrift „Von den letzten Worten Davids“, beide aus dem Jahr 1543.  Nicht Juden, sondern Christen sind Luthers Adressaten. Diese will er im eigenen Glauben stärken. (15) Und Luther meinte, die eigene christliche Identität sei nur in scharfer Abgrenzung und im Gegensatz zum Judentum zu gewinnen.
In der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ bezeichnet Luther die messianischen Weissagungen des Alten Testaments und ihre Auslegung auf Christus hin als „Hauptstück“. Dabei findet er auch Hinweise auf die geschichtliche Terminierung des Kommens des Messias, und zwar für die Zeit des Königs Herodes sowie die Zeitspanne vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels, womit eindeutig Jesus Christus als der Messias erwiesen sei.
Anders als Luther zum 3. Artikel des Credo erklärt, verdankt sich der Glaube an  Christus und an seine Messianität hier nicht der unverfügbaren Berufung durch den Geist Gottes. Vielmehr sucht Luther in seinen Judenschriften die Messianität Jesu aus der Heiligen Schrift, und mit ihr übereinstimmend aus Ereignissen der Geschichte zu beweisen. Das ist das theologische Anliegen sowohl der Judenschrift von 1523 als auch jener von 1543. Von dieser Basis ausgehend empfiehlt Luther 1523 einen freundlichen Umgang mit den Juden, um ihnen das Kommen des Messias in Jesus Christus als unwidersprechlich nahezubringen. 1543 dann gilt die offensichtliche Messianität Jesu als einer der Beweise dafür, dass der Juden Lügen aufgedeckt sind. (16)

Die Besinnung auf das Wort Gottes war das Herzstück der Reformation Martin Luthers.
Leider benutzte Luther aber dann gerade auch Worte und Textstellen der Heiligen Schrift für die Polemik seiner Judenschriften.
Textstellen des Römerbriefes, die uns von der bleibenden Erwählung Israels Zeugnis geben, erschlossen sich ihm nicht.
 
Als eine zweite Konkretion, das Reformationsjubiläum im Licht unseres erneuerten christlich-jüdischen Verhältnisses zu sehen, möchte ich deshalb festhalten:

Das Reformationsjubiläum sollte Anlass sein, alte hermeneutische  Fragen neu zu bedenken:
die Fragen nach dem Verhältnis von Altem und Neuem Testament,
die Fragen nach dem Christuszeugnis in der Hebräischen Bibel,
die Fragen nach der Bedeutung ihrer jüdischen Auslegung für uns Christinnen und Christen.

Eine dritte Konkretion

Martin Luther hat den Ausdruck „sola scriptura“, „allein die Schrift“, selten gebraucht. Doch es war eines seiner Hauptanliegen, dass keine christliche Urkunde oder Äußerung eine höhere Autorität beanspruchen könne als die Schrift.
Luther las die Schriften des Alten und Neuen Testamentes konsequent  christologisch:
„Nimm Christus aus der Schrift, was wirst du weiter in ihnen finden?“(17) Und er las sie auch in Bezug auf das trinitarische Bekenntnis der frühen Kirche. Er zog zu seiner Auslegung biblischer Texte die Kirchenväter heran, vor allem Augustin. Sein Verständnis und seine Leseweise der Bibel waren gestützt auf eigene Erfahrungen und aktuelle Auseinandersetzungen. Bibellesen gehörte für ihn zu der alltäglichen Lebenspraxis  in der Gemeinschaft der Glaubenden. (18)

Das reformatorische Schriftprinzip „sola scriptura“  begründete schon bei Luther keinen biblischen Fundamentalismus. Es hebt die per se gegebene gegenseitige Abhängigkeit von Text und Interpret nicht auf. Der Interpret ist wohl an den Text gebunden, aber der Text entfaltet  seine Bedeutung nur, indem er gedeutet wird. Dass in dieser wechselseitigen Abhängigkeit von Text und Interpretation das bleibende Gegenüber des Textes nicht aufgelöst, sondern gewahrt bleibt, eben dies wird durch das reformatorische „sola scriptura“ gültig eingeschärft. Es bleibt beim Gegenüber des Textes zu seinen Auslegungen.
Insofern macht es gerade das reformatorische Schriftprinzip möglich, im Blick auf das Verhältnis von Christen und Juden „Luther gegen Luther“ ins Feld zu führen.

Der Theologe Volker Weymann versucht dies am Ende seiner kritischen Auseinandersetzung mit Luthers Judenschriften. Er gewinnt neue Perspektiven auch für den christlich-jüdischen Dialog, indem er, wie er schreibt, „mit Luther gegen Luther“ argumentiert. (19)
Weymann zeigt in Luthers eigener Theologie jene Einsichten auf, die geeignet sind, die in den Judenschriften zu findende Sichtweise zu durchbrechen.
Ich muss mich hier auf ein Beispiel beschränken:
Volker Weymann argumentiert „mit Luther gegen Luther“, indem er den verheerenden judenpolitischen Empfehlungen des Jahres 1543 die Ansätze Luthers zu gelebter Toleranz gegenüberstellt. Diese hatte Luther in der Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“ aus dem Jahr 1523 entwickelt. In ihr erklärt er, dass wie der Glaube allein durch Gottes Wort hervorgerufen werde, so auch die Irrlehre nicht mit Gewalt, sondern allein mit Gottes Wort zu bekämpfen sei:

„wie könnte man (…) den Ketzern wehren? Antwort: das sollen die Bischöfe tun, denen ist solches Amt befohlen und nicht den Fürsten. Denn Ketzerei kann man nimmermehr mit Gewalt abwehren. (…) Gottes Wort soll hier streiten; wenn´s das nicht ausrichtet, so wird´s wohl unausgerichtet bleiben von weltlicher Gewalt (…). Ketzerei ist ein geistlich Ding, das kann man mit keinem Eisen zerhauen, mit keinem Feuer verbrennen, mit keinem Wasser ertränken. Es ist aber allein das Gotteswort da, das tut´s“. (20)

Volker Weymann erkennt in Luthers Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“ Ansätze und Impulse zu gelebter Toleranz. (21)  Diese Ansätze und Impulse setzt er gegen die zur Gewalt aufrufenden judenpolitischen Ratschläge Luthers aus dem Jahr 1543.

Als eine dritte Konkretion, das Reformationsjubiläum im Licht unseres erneuerten christlich-jüdischen Verhältnisses zu sehen, möchte ich deshalb festhalten:

Das Reformationsjubiläum sollte Anlass sein, uns kraft des reformatorischen Schriftverständnisses mit Luther  von Luthers Bibelauslegung in seinen Judenschriften zu distanzieren.

Eine vierte Konkretion

Die Hebräische Bibel ist aus der Gemeinschaft Israels hervorgegangen und wird in ihr bis heute gelesen und jüdisch gedeutet.
Der Glaube an Jesus von Nazareth als Sohn Gottes hat innerhalb des Judentums eine neue Gemeinschaft entstehen lassen, welche die Bibel des Alten und Neuen Testaments als einheitliches Christuszeugnis liest und verkündet. Beide Gemeinschaften sind an denselben Text der Hebräischen Bibel gebunden, sie wurden gegründet und werden fortlaufend geprägt durch die von ihnen als kanonisch anerkannten Schriften, durch ihre je eigene Auslegungstradition und nicht zuletzt durch den gottesdienstlich -liturgischen Gebrauch der Schrift. Auf diese Weise entsteht eine für die jeweilige Gemeinschaft spezifische und im Falle der Hebräischen Bibel doppelte Auslegungstradition in Judentum und Christentum. Was wiederum die Frage nach sich zieht, wie diese beiden Lesetraditionen zueinander stehen.
Zu dieser Frage gibt es evangelische Antworten, aber auch römisch-katholische Stellungnahmen.
So geht die Päpstliche Bibelkommission in ihrem Dokument „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ (22) von der Grundthese aus, dass das unverzichtbare Alte Testament „aus sich heraus einen ungeheuren Wert als Wort Gottes“ besitzt (Nr. 22/43). Weitergehend wird darauf verwiesen, dass sich die jüdische und die christliche Auslegungstradition des Alten Testamentes ihr Recht nicht gegenseitig streitig machen dürfen. Zwei Glaubensweisen lesen zwar denselben Text, entdecken in ihm aber für sich bestimmte Aspekte und einen Sinn, der zwischen dem Text und der jeweils anderen Glaubensgemeinschaft nicht gegenwärtig ist. So kommt das päpstliche Dokument zu einer Aussage, mit der die jüdische Leseweise als Treueakt biblischen Glaubens verstanden wird:

Christen „können und müssen zugeben, dass die jüdische Lesung der Bibel eine mögliche Leseweise darstellt, die sich organisch aus der jüdischen Heiligen Schrift der Zeit des Zweiten Tempels ergibt, in Analogie zur christlichen Leseweise, die sich parallel entwickelte. Jede dieser beiden Leseweisen bleibt der jeweiligen Glaubenssicht treu, deren Frucht und Ausdruck sie ist. So ist die eine nicht auf die andere rückführbar.“ (Nr. 22/44)

Wenn aber die jüdische Leseweise der Bibel ein Treueakt des Glaubens ist, dann ist die Frage unabweislich, ob nicht die jüdische Auslegungstradition eine von mehreren Quellen auch christlicher Erkenntnis bei der Erhebung des Sinnes jenes Textes ist, der gemäß dem reformatorischen „sola scriptura“ bleibend all unseren Auslegungen gegenüber steht und seinen Sinn immer neu enthüllt.

Als eine vierte Konkretion, das Reformationsjubiläum im Licht unseres erneuerten christlich-jüdischen Verhältnisses zu sehen, möchte ich deshalb festhalten:

Das Reformationsjubiläum sollte Anlass sein, die jüdische Leseweise der Hebräischen Bibel als eine unaufgebbare Quelle reformatorischer Schrifterkenntnis anzuerkennen.

Schlussbemerkungen

„Am Anfang war das Wort“, dieses Motto, unter dem die EKD das Reformationsjubiläums im Jahr 2017 vorbereitet, macht deutlich, dass es die Bindung an und das Vertrauen auf Gottes Wort ist, die uns heute die entscheidenden Impulse für die Gestaltung und Feier des Reformationsjubiläums gibt.
Das Wort Gottes schenkt uns Vergebung und Neuanfänge. Aber zuvor öffnet es unsere Augen und unsere Herzen für einen realistischen Blick auf uns selbst und dabei auch auf das Versagen und auf die Schuld unserer reformatorischen Kirchen.
In seinem Bericht „über die für die Kirche bedeutsamen Ereignisse“ hat  der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Rekowski, am vergangenen Freitag erklärt:
„Wir sollten im Vorfeld des Reformationsjubiläums einen Blick auf unsere Kirchengeschichte werfen und vor Gott bringen, was nicht gelungen ist, Versagen und Schuld, bevor wir all das feiern, wofür wir mit Recht sehr dankbar sind. Dies vor Gott zu bringen und in geeigneter Weise um Vergebung zu bitten, gehört für mich auch zu einer Ökumene der Umkehr.“
Diese Einsicht gilt meines Erachtens in besonderer Weise auch für unsere Planungen des Reformationsjubiläums im Licht des christlich-jüdischen Verhältnisses.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Anmerkungen:

  1. Vgl.: Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames Lutherisch-Katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017, Leipzig/Paderborn 2013, Nr. 4.
  2. Hans Hermann Henrix, Der christlich - jüdische Dialog aus katholischer Sicht: Erreichtes, offene Fragen, in: KuI 26 (2011) 3-18, hier 3.
  3. Am 13. Oktober 2010 im Vatikan. David Rosen, Die jüdisch - christliche Beziehung und der Nahe Osten, in: KuI 27 (2012) 134-141, hier 134.
  4. Vgl. W. Stegemann, Von der „Verwerfung“ Israels zur „bleibenden Erwählung“. Fortschritte im christlichen Verhältnis zum Judentum, in: KuI 26 (2011) 32-46, hier 34.
  5. Ebd., 35.
  6. Ebd., 35f.
  7. Ebd., 38, zum folgenden 38-40.
  8. Vgl. H.-J. Kraus, „Israel“ in der Theologie Calvins. Anstöße zu neuer Begegnung mit dem Alten Testament und dem Judentum, in: KuI 4 (1989) 3-13.
  9. T. Kaufmann, Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, 2011, 8f.
  10. Zitiert nach: V. Weymann, Luthers Schriften über die Juden. Theologische und politische Herausforderungen, Hannover 2013 (= Texte aus der VELKD Nr. 168), 7.
  11. Ebd. Anm. 13.
  12. Ebd., 23, von mir ins heutige Deutsch übertragen.
  13. Zitiert nach: P. v. d. Osten-Sacken, Hektische Geschichtsschreibung. Zum Umgang des Historikers Heinz Schilling mit dem Thema „Martin Luther und die Juden“ in: KuI 28 (2013) 52-62, hier 60.
  14. V.Weymann, a.a.O., 4 macht auf die Notwendigkeit aufmerksam, Luthers Judenschriften nicht schuldbewusst, sondern quellenbewusst zu lesen.
  15. Ebd., 13. 20. Anders P. v. d. Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31), Stuttgart 2002, 90f, der die Auffassung vertritt, mit der Schrift von 1523 verfolge Luther auch judenmissionarische Absichten.
  16. Vgl. V.Weymann, a.a.O., 14f.
  17. WA 18; 606,29 (De servo arbitrio; 1525)
  18. Vom Konflikt zur Gemeinschaft, a.a.O., Nr. 199.
  19. Vgl. V.Weymann, a.a.O., 24.
  20. K.Bornkamm/G.Ebeling (Hg.), Martin Luther. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M. 1982, Bd. IV, 69.
  21. V.Weymann, a.a.O., 30.
  22. Das Dokument ist am 24. Mai 2001 veröffentlicht worden. Zitate und der hier dargestellte Gedankengang nach H. H. Henrix, a.a.O., 8-10.

 

Vortrag des Vorsitzenden des Rates der EKD am 19. Januar 2014 in Berlin auf der Delegiertenkonferenz der Konferenz Landeskirchlicher Arbeitskreise Christen und Juden (KLAK). Der sich in der Schriftform spiegelnde mündliche Charakter eines Vortrags wurde beibehalten.

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email