„Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ - Gedanken zu Bachs Matthäuspassion im Horizont der christlich-jüdischen Beziehungen
von Klaus Müller

I.

„Wer hat dich so geschlagen?“, lässt Johann Sebastian Bach im Choral fragen und für die Kirche stand über Jahrhunderte die Antwort fest: die Juden. Eine lange christliche Auslegungstradition hat Jesu Leidensweg als Sprungbrett zu unverhohlener todbringender Judenfeindschaft missbraucht. Die Passionserzählungen der Evangelien konnten zur Pauschalverurteilung des jüdischen Volkes und des jüdischen Glaubens verhelfen. Wenn Matthäus das Volk rufen lässt: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“, schien damit ein kollektiver Schuldvorwurf gegen das Volk Israel legitimiert. Seitens der Christenheit meinte man – mit Pilatus - seine Hände in Unschuld waschen zu können. Auch die grandiosen Passionsmusiken haben ihren Anteil an der christlichen Grundhaltung einer Selbstüberhebung gegenüber den Juden gehabt. Dies ist Gott sei Dank Vergangenheit. Vielmehr hat sich die Bereitschaft der Christinnen und Christen heute mehr und mehr durchgesetzt, sich aus den letzten Resten überkommener Negativurteile gegenüber dem Judentum zu befreien.

Bachs Matthäuspassion lehrt auch auf die Zwischentöne achten: Im Schlusschoral von Teil I hebt Bach den Blick aus der Enge konkreter Anklagen hinaus aufs Menschliche:  „O Mensch, bewein dein Sünde  groß“ – hier bleibt kein Raum für eng gestrickte Schuldvorwürfe. Bachs Musik  lenkt inmitten aller Erzähldramatik den Blick immer wieder auf das „Wir“ und das „Ich“ im Passionsgeschehen. „Ich bin’s, ich sollte büßen“ ist die Einsicht, die Jesu Leidensansage hervorruft – „Wir setzen uns mit Tränen nieder“ die letzte Konsequenz. Jedenfalls besteht aller Anlass, Bachs oft genug antijudaistisch vereinnahmte Passionsmusik neu zu hören und zu würdigen.

II.
Dass ausgerechnet Christian Friedrich Henrici („Picander“) als Libretto-Dichter in Bachs Matthäuspassion figuriert, hat durchaus etwas „Pikantes“. Galt er doch als Leichtfuß, der gern auch schlüpfrige Verse schrieb; bibelfest war er gleichwohl. Der Rostocker Universitätsprofessor und Superintendent Heinrich Müller hatte eine Predigtsammlung herausgegeben, an die sich Henrici anlehnte und von ihm theologische Gedanken bezog. Müllers Werk stand auch bei Bach im Bücherregal. Bach wird wohl seinem Textdichter da und dort etwas Nachhilfe gegeben und ihn auf Müller verwiesen haben. Ein schönes Beispiel ist die Passage in Müllers homiletischer Sammlung: „Am Abend, da der Tag kühle geworden war, kam die Sünde der Menschen ans Licht; am Abend nimmt sie Christus wieder mit sich ins Grab, dass ihr nicht mehr gedacht werde. Um die Vesper-Zeit kam das Täublein Noah zum Kasten.“ Dieses Motiv findet sich nun in Satz Nr. 64 dichterisch ausgefeilt durch die Anapher-Motivik mit dem Buchstaben A: „Am Abend, da es kühle war, ward Adams Fallen offenbar.“

Auffallendes Charakteristikum der Bachschen Matthäuspassion ist zweifelsohne ihre dialogische Grunddisposition. Ich halte dieses Aufbauprinzip durchaus für den Ausdruck einer dialogischen Grundhaltung überhaupt: Dialogischer Grundaufbau zeigt die Bereitschaft zu ideologischem Machtverzicht zugunsten von Gesprächsbereitschaft. Fragen zu Beginn, Wechselreden zwischen der „Tochter Zion“ und dem „Chor der Gläubigen“ – insgesamt sind sieben Dialoge auf das Werk verteilt, jeweils am Anfang in der Mitte und am Schluss eines jeden Teils (Sätze 1; 19-20; 27 sowie 30; 60 und 67). Zugespitzt gesagt: Bach umspielt mit seiner Musiksprache sozusagen den Dialog der Kirche mit Israel. Zwar ist seit alters und gewiss auch zu Bachs Zeiten die Deutung von „Zion“ im Sinne von „Kirche“ im Schwange; und doch darf auch im Kontext kirchlicher Musik die Konnotation „Zion“ als „Israel“ mitgehört werden - und sie sollte mitgehört werden.

Es begegnet eingangs das Motiv Aufruf – Frage – Antwort. Und dabei kommt Zion die Initiative zu: Zion ruft auf, die Gläubigen fragen und wiederum Zion antwortet. In den meisten Fällen gibt „Zion“ – biblisch ursprünglich für Jerusalem – den Anstoß: Sie ruft auf, sie belehrt oder tröstet (Sätze 1; 19; 20; 27; 60; 67). Sie ist auch die Klagende, die selbst des Zuspruchs bedarf (30; 59). „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ - was Bach in seine Musik einträgt, ist damit die Perspektive des jüdischen Mädchens, das über das Geschick des Juden aus Nazareth weint und klagt und trauert.

III.
Fraglos ist die neutestamentliche Passionserzählung Bachs primäre Orientierungsgröße. Geradezu richtungsweisend für das Verständnis der Bachschen Passionsmusik scheint mir allerdings der deutliche Bezug auf das biblische Hohelied Salomos. Der dialogische Beginn des zweiten Teils der Matthäuspassion schöpft ganz aus Schir-ha-Schirim. Bemerkenswert, dass Bach für den Beginn dieses zweiten Teils einen Vers aus dem Hohenlied ausgewählt hat, der recht eindeutig auf die Erwählung des jüdischen Volkes hinweist: In der allegorischen Auslegung des Hohenliedes meint die „Schönste unter den Töchtern“  das Volk Israel. Wenn Bach also – in direkte Zitation aus Hohelied 6,1 singen lässt: „Wo ist denn dein Freund hingegangen, o du Schönste unter den Weibern? ... So wollen wir ihn mit dir suchen“, deutet dies auf die Absicht hin, dass beide - Juden und alle, die gewillt sind sich auf den Weg machen - Jesus als den „Bräutigam" suchen sollen. Für uns heute eröffnet sich aus dieser Musik jedenfalls die Möglichkeit einer Deutung, die lautet: Judentum und Christentum pflegen einen intensiven Dialog in wechselseitigem Verständnis und Respekt im Ringen um ein Verhältnis zu Jesus.

Das biblische Hohelied als Deutehorizont der Bachschen Passion. Noch einmal jenseits der direkten Bezüge auf die neutestamentliche Passionsgeschichte bietet das Hohelied Hilfen zum Verständnis jener Liebeslyrik und Todesmystik, die in der Bachschen Musik begegnen: „Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich“ (Hld 8,6). Bereits im Kontext der biblischen Liebeslieder in Schir-ha-Schirim ist der Geliebte als Hirte vorgestellt, der seine Schafe weidet. In der Bachschen Musik verschmelzen die Motive Braut und Bräutigam, Hirte und Lamm zur Kernbotschaft von der himmlischen Hochzeit des Lammes, der die Sünden der Welt trägt. Die Assoziationen an das Hohelied Salomos werden sowohl das Musizieren als auch das Hören der Matthäuspassion nicht unberührt lassen - jedenfalls bringen sie eine gewisse neue Note in die Schwere der Passionsthematik.

IV.
Wenn ich recht sehe – und höre -, komponiert Bach sozusagen in seine Passionsmusik durchaus einige Kontrapunkte zur althergebrachten antijudaistischen Wirkungsgeschichte seiner Matthäuspassion hinein. Wie zeigt er etwa die Judasfigur? Lässt sich z.B. die Altstimme in Satz 27a nicht auch auf Judas hin interpretieren: „So ist mein Jesus nun gefangen“? Dann wäre die Altstimme nicht immer nur der geliebten Freundin vorbehalten, sondern würde abfärben auch auf den enttäuschten, an Jesus verzweifelnden Gefährten. Immerhin singt in Satz 39 auch Petrus nach der Verleugnung in der Altlage. Ich denke, Judas meint es ernst, wenn er in seiner Arie 42 singt: „Gebt mir meinen Jesum wieder! Seht, das Geld, den Mörderlohn, wirft euch der verlorne Sohn zu den Füßen nieder! Gebt mir meinen Jesus wieder!“ Der „verlorne Sohn“ aus Lk 15 ist ja nun trotz aller Fehltritte mit der ganzen Sympathie des Evangeliums bedacht. Bach hat musikalisch durchaus schon geahnt, was Helmut Gollwitzer viel später auf die Formel gebracht hat: „Gute Botschaft für Judas Ischariot.“

Wer sagt eigentlich, dass der 4stimmige Chor „Laß ihn kreuzigen“ (Satz 45b) auf Biegen und Brechen immer nur fortissimo zu singen sei?! Die Einleitungsformel lautet immerhin: „Sie sprachen alle“ – nicht: „sie schrien alle.“ Übrigens sind hier (Sätze 45b und 50b; auch das Bekenntnis 63b „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen“) zwar beide Chöre zusammen aktiv, aber „nur“ in einer sozusagen einfachen realen Vierstimmigkeit gesetzt und nicht opulent doppelchörig antiphonisch ausgelegt – diese Beispiele deuten an, dass in Bachs Musik noch eine letzte Zurückhaltung angelegt ist, ein letzter tastender Vorbehalt gegen allen christlichen Triumphalismus.

Zuweilen mag die Frage erlaubt sein, ob es da und dort auch geboten sein kann, sozusagen Bach gegen Bach zu interpretieren, etwa die Turba-Chöre in ihrer Dynamik auch zu „brechen“ und zu „veruneigentlichen“, irgendwo auch ad absurdum zu führen. Das Hineinhören in die kirchenmusikalische Landschaft lehrt inzwischen durchaus, dass von den Einsichten in die jüdisch-christliche Beziehung her gesehen die Bachschen Passionsmusiken kaum mehr einfach unbesehen „einszueins“ aufgeführt werden.

V.
In den Tagen um Karfreitag und Ostern vergewissert sich die christliche Kirche des Todes und der Auferweckung Jesu Christi. Wir feiern die Schöpferkraft Gottes, die den Todesmechanismen dieser Welt die neue Realität eines befreiten Lebens entgegenstellt. Der Überschritt vom Tod zum Leben ist vorgebildet im Auszug Israels aus Ägypten. Im Gegenüber zu Karfreitag und Ostern feiert die jüdische Glaubensgemeinschaft im Passafest das Ursprungsgeschehen biblischen Glaubens überhaupt: den Überschritt von der Knechtschaft zur Freiheit, vom Tod zum Leben. Traditionell ist die Festrolle zum Passafest das Hohelied Salomos, gedeutet auf die junge Liebe zwischen Gott und seinem Volk Israel: „Siehe, meine Freundin, du bist schön! Siehe, schön bist du! Deine Augen sind wie Taubenaugen hinter deinem Schleier. Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die hinabsteigen vom Gebirge Gilead“ (Hld 4,1). Festgesang zu Passa, Grundmelodie für Karfreitag und Ostern.

Dieses Jahr ist es der Montag in der Karwoche, an dem sich die jüdischen Gemeinden und Familien zum Passamahl versammeln. Das ist ein Gleichklang, der über das zeitlich zufällige Moment weit hinausreicht. Christen und Juden haben in ihrer je eigenen Weise Anteil an der großen Befreiungsgeschichte Gottes – sie hat eine innere Richtung und ist unumkehrbar: Zuerst weinen sie und streuen ihren Samen und dann lachen sie und bringen ihre Garben (Ps 126,6). Auch die Leidensgeschichte Jesu weist im Letzten den Weg aus den Toten zum Leben – und nicht umgekehrt. Die Passionsmusik von Johann Sebastian Bach vermag – einmal befreit aus dem Zugriff antijudaistischer Gedanken – die Verbindung von Christen und Juden zu dem einen Gott des Lebens neu zu knüpfen.

„Wer hat dich so geschlagen“, lässt Johann Sebastian Bach im Choral fragen und weist auf die sozusagen innermenschliche Antwort: „Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körnlein finden des Sandes an dem Meer“ – Bachs Passionsmusik ist bei allem Grandiosen doch eine sehr persönlich-individuelle Musik; sie will und kann dazu verhelfen, dass wir unser „Ich“ entdecken lernen als Teil des Passionsweges Jesu, der nirgendwo anders sein Ziel findet als im österlichen Leben aus den Toten.

Mit herzlichem Dank an Kantor Ulrich Seibert für zahllose theologisch-musikalische Impulse in 14 Jahren Zusammenarbeit an der Johanneskirche in Heidelberg.

Der Autor, Pfarrer Prof. Dr. Klaus Müller, ist Landeskirchlicher Beauftragter für das christlich-jüdische Gespräch der Evang. Landeskirche Baden

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