Auge um Auge, „dann ist bald die ganze Welt blind“
Zur Auslegung eines Bibelzitats im Kontext israelischer Politik
von Edith Lutz

„Auge um Auge, Zahn um Zahn“ lautet in der herkömmlichen Übersetzung nach Martin Luther ein Teil eines Rechtsatzes aus dem zweiten Buche Mose. Eine weit verbreitete Auffassung sieht in ihm eine Anweisung an das Opfer oder seine Vertreter, eine erlittene Schädigung in gleicher Weise heimzuzahlen. Die Verbreitung dieser Ansicht scheint in jüdischen Kreisen geringer zu sein als in nichtjüdischen. In den Letztgenannten, besonders in den christlich-theologischen Fakultäten, ist allerdings ein Wandel zu beobachten. In den Mittelpunkt der Diskussion ist neben der Auslegung des „Vergeltungsgegenstands“, des Auges, des Zahns, etc., vor allem die Frage nach dem Ausführenden des „Vergeltungsakts“ gerückt. An wen ist die Forderung gerichtet: „Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß …“ (Kapitel 21, 23-24)? Ist sie an den Täter oder an das Opfer gerichtet? Diese Frage ist nicht nur hinsichtlich israelischer Gewaltpolitik, mit der das Zitat häufig in Verbindung gebracht wird, von Interesse.

Der zitierte Rechtsspruch steht im Kontext einer Reihe von Rechtsordnungen, in denen Rechtsprechende angewiesen werden, welche gerichtlichen Anordnungen dem Täter zu geben seien („so soll er geben“, so soll er erstatten“, „so soll er …“). Die Handlungsaufforderung betrifft demnach den Täter und nicht das Opfer. Von Racheakten ist nicht die Rede. Zwar fällt die in diesem Kontext ungewöhnliche persönliche Anrede an ein „du“ –  „so sollst du geben“- aus der Reihe, doch deutet das Verb „geben“ darauf hin, dass die Handlungsanweisung an den Täter gerichtet ist, sie würde andernfalls keinen Sinn ergeben. Es ist zu vermuten, dass dieser Satz (= Verse 23-25), der sich in seiner Struktur deutlich von den Nachbarsätzen unterscheidet, eingeschoben und möglicherweise einem anderen Rechtssystem entlehnt ist. Seine Auslegung im Kontext ändert sich dadurch nicht. Für die jüdische Gesetzesauslegung im nachbiblischen Schrifttum stellen die Rechtsprüche, eben auch der berühmte Spruch „Auge um Auge“ eine Schadensersatzregelung dar. In diesem Sinne übersetzen Buber und Rosenzweig:

Geschieht das Ärgste aber,
dann gib Lebensersatz für Leben –
Augersatz für Auge, Zahnersatz für Zahn, Handersatz für Hand …

Wenn nun aber der vielzitierte Rechtssatz eindeutig den Schadensverursacher zu einer Schadensersatzleistung auffordert und nicht den Geschädigten anspricht, stellt sich die Frage, wieso sich die gegenteilige Meinung bis heute hartnäckig hält und immer wieder in Verbindung mit der Kritik an israelischer Politik für Schlagzeilen vorgebracht wird? Dieser weit verbreiteten gegenteiligen Meinung pauschal antisemitische Motive oder „böswillige Verzerrung“ zu unterstellen, wie vielerorts geschehen, ist angesichts der Komplexität der Auslegung und der Auslegungsgeschichte beider Testamente ungerechtfertigt. Zur näheren Erläuterung reicht ein kurzer Blick auf folgende Bereiche:
die lexikalische Ähnlichkeit mit einem fremden Rechtssatz (Hamurabi)
verwandte Stellen in der Tora
die Bezugnahme in der Bergpredigt
die Verwendung im politischen Kontext auf jüdischer Seite

„Auge um Auge“ im Codex Hamurabi
Bei dem Codex Hamurabi handelt es sich um eine mesopotamische Sammlung von Rechtssprüchen aus dem 18. Jahrhundert v.u.Z. In dieser Sammlung sind viele Rechtssprüche durch das sogenannte Talionsprinzip charakterisiert; d.h., zwischen dem Schaden des Opfers und dem Schaden, der dem Täter zugefügt werden soll, muss ein Gleichgewicht bestehen. So heißt es in § 196: „Wenn ein freier Mann das Auge eines freien Mannes zerstört, zerstört man sein Auge“ oder in § 200: „Wenn ein freier Mann den Zahn eines ihm Ebenbürtigen ausschlägt, schlägt man seinen Zahn aus.“
Der Codex Hamurabi diente in Zeiten weit verbreiteter Blutrache der Mäßigung von Rachegelüsten. Ob, inwiefern und inwieweit Rechtssprüche des Codex die Redaktion der Tora beeinflusst haben, ist in der Bibelwissenschaft umstritten. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit findet sich jedenfalls in den biblischen Rechtssprüchen wieder. Jedoch wird hier die Verhältnismäßigkeit mit der Schadensersatzleistung des Täters in Verbindung gebracht und nicht, wie im Codex, mit einer Vergeltungshandlung des Opfers.

„Auge um Auge“ in der Tora
Neben der erwähnten Stelle im zweiten Buch Mose findet sich das Zitat an zwei weiteren Stellen der Tora. Im dritten Buch Mose, Kapitel 24, heißt es in der Übersetzung nach Luther:

18  Wer aber ein Stück Vieh erschlägt, der soll’s ersetzen, Leben um Leben.
19  Und wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat,
20  Schaden um Schaden, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie man einen Menschen
     verletzt hat, so soll man auch ihm tun.

Während Vers 18 eindeutig den Täter zum Schadensersatz anspricht, scheint der nachfolgende Vers das Opfer zur Vergeltung aufzurufen. Allerdings ließe sich Vers 19 auch etwas anders übersetzen: statt „dem soll man tun“, ‚ihm wird getan werden’. Theologen bezeichnen diese Passivkonstruktion als „Passivum divinum“, d.h., das ausführende Organ wird in Gott und nicht im Menschen gesehen. Die rabbinische Auslegung unterscheidet sich jedoch nicht wesentlich von den erwähnten Rechtsprüchen im zweiten Buch, dessen Tenor lautet: Der Schädigende soll mit einer angemessenen Entschädigungsleistung belangt werden.

Die dritte Platzierung des Zitats findet sich im fünften Buch Moses, 19, Vers 21:

Dein Auge soll ihn nicht schonen: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn,
Hand für Hand, Fuß für Fuß.

Im Kontext steht das Zitat auch hier als Anweisung an eine Rechtsinstanz – nicht an ein Opfer – und als ein Rechtsmittel, um Meineid und Verleumdung entgegenzuwirken. Auch hier geht es nicht um ein Racheprinzip. Stattdessen sollen Meineid und Verleumdung abgeschreckt und der Verleumdete unterstützt werden.  

In der hebräischen Bibel gibt es keine Nachweise für Körperstrafen nach der Talionsformel. Das Gebot der Liebe, im Mittelpunkt der Tora stehend (3. Mose, 19,18) schließt rächende Vergeltungsaktionen aus. In diesem Sinne steht auch die Ermahnung (Sprüche 24,29): „Sprich nicht: ‚Wie er mir tat, so tue ich ihm.’“

Es kann davon ausgegangen werden, dass die Schadensersatzleistung für Körperverletzung nicht körperlichen, sondern finanziellen Charakters war. Schon der altorientalische Rechtstext „Kodex Eschnunna“ aus dem zweiten Jahrtausend v.d.Z. forderte die Ersatzleistung in Silberminen. Jüdisches nachbiblisches Schrifttum erklärt „Auge für Auge“ symbolisch für Gleichwertigkeit. Ausgiebig diskutieren die Rabbinen des Talmuds die Art der Ersatzleistung (Baba Qamma 83-84) und schlussfolgern, dass sie nur finanzieller Art gemeint sein könne. Der Rechtssatz könne nicht wörtlich genommen werden, erklären sie, er würde sonst dem Gerechtigkeitswillen der mosaischen Rechtsprechung widersprechen. Die zu zahlende Ersatzleistung soll dem Wert des Schadens entsprechen.

„Auge für Auge“ in der Bergpredigt
Ihr habt gehört, dass da gesagt ist: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, wenn dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biete die andere auch dar. (Mt 5, 38)

Leser oder Hörer dieses Abschnitts der Bergpredigt neigen häufig dazu, die antithetische Sprachwendung des Nazarener Rabbis „Ich aber sage euch“ als eine Abkehr von der mosaischen Gesetzeslehre zu interpretieren. Tatsächlich aber ist hier nicht von einem Abschaffen des Gesetzes die Rede. Der Rabbi würde sich auch selber widersprechen, wenn er seine Bergpredigt mit der Erklärung zur Erhaltung des Gesetzes beginnt (siehe Mt. 5, 17-18). Er lenkt vielmehr den Blickwinkel vom Täter auf das Opfer: das Opfer kann auch zu einer friedlichen Konfliktlösung beitragen, nämlich durch Erduldung. Weniger bildlich gesprochen würden wir heute vielleicht sagen, das Opfer kann die individuelle Toleranzschwelle höher ansetzen bzw. seine Frustrationstoleranz steigern und damit zur Deeskalation von Konflikten beitragen.

„Auge für Auge“ im politischen Kontext auf jüdisch-israelischer Seite
Auffallend häufig bedienen sich die Medien dieses zum Stereotyp gewordenen biblischen Zitats. Die Verwendung schließt aber jüdische Autoren nicht aus. Die israelische Tageszeitung Haaretz veröffentlichte zwei Beiträge von Yoel Marcus, beide unter der Überschrift „Eye for an Eye“. 2005 schreibt er: „Für jeden willkürlichen Feuerbeschuss auf ein ziviles Ziel, werden wir uns in gleicher Weise rächen. Wir werden es ihnen gut heimzahlen. Auge für Auge.“ Ein Jahr später verbreitet Haaretz einen ähnlichen Artikel, in dem eine Vergeltung nach dem Prinzip „Auge für Auge“ angekündigt wird.

Der Gebrauch des Zitats ist keineswegs immer gleichzusetzen mit Zustimmung zur israelischen Gewaltpolitik. So äußert sich der israelische Historiker Avi Shlaim 2009 in The Guardian und Daily Mirror: “Die biblische Aufforderung “Auge für Auge” ist grausam genug. Aber Israels irrsinnige Offensive gegen Gaza scheint eher der Logik „Auge für eine Wimper“ zu folgen.” Und der bekannte israelische Schriftsteller David Grossman protestiert in der Washington Post unter der Überschrift „Auge für Auge – für alle Zeiten?“ gegen die unverhältnismäßig starke israelische Gewalt als Antwort auf die Selbstmordattentate. Als die israelische Tageszeitung Maariv 2002 über Blutracheaktionen israelischer Soldaten an palästinensischen Polizisten berichtete, die von den Soldaten mit „Auge für Auge“ kommentiert wurden, forderten zwar einige Leser die Einhaltung oder gar Erweiterung des vermeintlichen Vergeltungsgebots, aber zahlreiche Leser reagierten schockiert über den Gebrauch bzw. Missbrauch des biblischen Zitats.

Auch in Israels dritter großen Tageszeitung Jediot Acharonot, fehlt das Bibelzitat nicht. Alex Fishman nennt Israels Luftangriffe von 2001 eine „Racheaktion - Auge für Auge“. Und er fügt hinzu: „Aber Rache als Politik offenbart Schwäche und Frustration.“

Die Beispiele und Hinweise reichen für die Erkenntnis, dass sich Deutungen und Fehldeutungen des Bibelzitats nicht in eine „christliche“ oder „jüdische Schublade“ stecken lassen. Wer in dieser Weise verfährt, bedient sich des stereotypen Musters, das er abbauen wollte. Was aber Not tut, ist eine gemeinsame Aufarbeitung der Deutung des Zitats unter Bezugnahme neu gewonnener Erkenntnisse aus der Bibelkritik. Eine Deutung, die „jedermann“ vernimmt und versteht. Sie ist überschrieben: Auge für Auge ist eine Schadensersatzregelung.

 Mit der neu gewonnenen – oder bewahrten – Erkenntnis ist auch den gewalttätigen Siedlern in Israel entgegenzutreten. Ihre „Price-Tag (‚Preisschild’)-Aktionen“ unter dem „Slogan“- so lässt sich in diesem Falle sagen – „Auge um Auge“ gehören zunehmend mit zum Alltag israelisch-palästinensischer Konfrontationen. Da zünden israelische Siedler einen palästinensischen PKW an und lassen die gesprühte Aufschrift zurück: „Auge für Auge - wir vergessen nicht.“ „Auge für Auge“ kann auch das Abbrennen palästinensischer Olivenhaine bedeuten, die Zerstörung palästinensischer Häuser und Moscheen, oder auch Mord. Oftmals sind die Verursacher nicht einmal jene, gegen die die Racheaktion sich richtet und die ihre Opfer werden. Manchmal reicht der Regierungsbeschluss, eine Siedlung räumen zu lassen, um gewalttätige „Racheaktionen“ zu entzünden.

Fehldeutung eines biblischen Zitats und dessen Missbrauch können dazu führen, dass der Wesenskern jüdischer Religionslehre, das im Mittelpunkt der Tora stehende Gebot der Liebe nicht erkannt oder verdrängt wird und durch die Gewalttätigkeit israelischer Siedler und deren Unterstützer zu ersticken droht.

Auch der Textautor des Musicals Anatevka, Joseph Stein, kannte die entfremdete Verwendung des Bibelzitats. Er lässt darin einen nicht näher benannten Mann raten: „Wir sollten uns verteidigen, Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Tevje aber, der Milchmann, reagiert auf den Ratschlag seines Gesprächspartners mit einer beiläufigen Bemerkung, die unter ihrer banalen Oberfläche rabbinische Weisheit mit der des Rabbi Jeschu vereint: „Na wunderbar, dann ist bald die ganze Welt blind und ohne Zähne.“ Dann doch lieber Dialog: Auge in Auge, Ohr an Ohr.

Edith Lutz promovierte in „Jüdische Studien“ an der Universität Potsdam. Seit Beendigung des Schuldienstes an einer Gesamtschule setzt sie sich verstärkt in der Friedensarbeit ein. 2011 erhielt sie den Rheinland-Pfälzischen Friedenspreis.

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