Rechtsstellung der Juden am Ende der Antike
und im Mittelalter

von Klaus-Peter Lehmann

Die römische Staatskirche
In schroffer Wendung gegenüber der Verfolgungspolitik von Kaiser Diokletian (284–305) dekretierte Konstantin d. Gr. (306-337) Freiheit für alle Religionen (Edikt von Mailand 313). Er und seine Nachfolger begünstigten die Kirche immer mehr, bis Kaiser Theodosius d. Gr. (379-395) mit dem Religionsedikt vom 28.2.380 der Religionsfreiheit ein Ende setzte, indem er das Christentum zur Staatsreligion erhob.  (1)  Nun begann ein unerbittlicher Kampf gegen heidnische Religionen und christliche Häresien. Sie wurden zu Staatsverbrechen erklärt. Blutiger Opferkult galt seit 392 als crimen maiestatis. Die heidnische Philosophin Hypatia aus Alexandria wurde vom christlichen Pöbel ermordet (415). Antike Religiosität verschwand aus dem öffentlichen Leben, auf dem Land hielt sie sich noch lange.

Mit dieser Entwicklung verschlechterte sich auch die Rechtslage der jüdischen Bevölkerung. Bis dahin hatte sich das Judentum nur mit dem Heidentum auseinanderzusetzen, meist auf kulturellem Gebiet, weil das römische Pantheon die Existenz verschiedener Nationalreligionen akzeptierte. Nun aber war mit dem Christentum eine Religion an die Macht gelangt, die sich als Überwinder der heidnischen Welt und als Nachfolger des Judentums, als „neues, geistliches Israel“, sah (>Enterbungslehre) und einen Absolutheitsanspruch erhob. Jerusalem erhielt seinen Namen zurück, wurde aber christianisiert.  (2)  Das Judentum geriet nach 313 durch eine Fülle einschränkender Gesetze zunehmend in Bedrängnis. Reichsbürgerstatus und Glaubensfreiheit blieben ihnen aber, außer unter Justinian, grundsätzlich erhalten.

Antijüdische Gesetze im Codex Theodosianus
Der Codex Theodosianus ist eine Sammlung von Staatsgesetzen, die zwischen 330 und 429 erlassen worden waren. Sie enthält viele gegen die Juden gerichtete Erlässe. Demnach verlor ein zum Judentum übergetretener Christ sein Vermögen an den Staat. Eine krasse wirtschaftliche Einschränkung bedeutete in der antiken Sklavenhaltergesellschaft auch folgender Erlass: „Ein Jude darf einen christlichen Sklaven weder kaufen noch als Geschenk annehmen.“ Wer zuwiderhandelte, verlor seinen Besitz und ein Sklave, der es zur Anzeige brachte, erwarb die Freiheit. Das Christentum sollte spürbar über die Juden herrschen. Das ging bis zur Diskriminierung durch das Verbot von Mischehen: „Kein Jude nehme eine christlicher Frau zur Ehe und kein Christ schließe die Ehe mit einer Jüdin.“  Anfang des 5. Jh. nahm die Diskriminierung nochmals zu, der staatliche Schutz der jüdischen Religionsgemeinschaft wurde unterhöhlt. Christliche Übergriffe auf Synagogen blieben ungeahndet. Synagogengrundstücke konnten gegen Ersatz entwendet werden. Dagegen stand die Beschneidung eines Nichtjuden unter Strafe. Folgenschwer war der schrittweise Ausschluss der Juden von öffentlichen Ämtern. Juden und Samaritaner durften weder Ehren noch Würden erlangen, keine städtischen Verwaltungsämter ausüben, kein richterliches Amt innehaben, denn sie seien dem Kaiser feindlich gesonnen. Der Neubau von Synagogen wurde verboten.

Umstritten und schwer nachprüfbar ist die Frage, inwieweit diese Gesetze nur Bestrebungen der Regierung blieben, nicht aber wiedergeben, was sie wirklich durchsetzte. Manche Erlässe wurden später wiederholt und erneuert. Man kann von einer langsamen aber stetigen atmosphärischen Verschlechterung zwischen Juden und Christen ausgehen. Denn insgesamt ist der Codex Theodosianus ein Vorschein dessen, was im Mittelalter gesellschaftliche Realität wurde.

Eine erhebliche Schwächung der Judenheit bedeutete die Abschaffung des Patriarchats (425), der Institution, die seit der Zerstörung des Tempels bestand und den jüdischen Gemeinden eine geistige Führung gegeben hatte. Damit hatte die Kirche, der die Existenz eines „Zepters von Juda“ ein Dorn im Auge war, einen entscheidenden Schritt für die dauernde Erniedrigung des Judentums durchgesetzt (>Enterbungslehre).

Kirchlicher Judenhass und Codex Justinianus
Der kirchliche Judenhass setzte sich oft gegen den politischen Willen des Kaisers durch. In Mesopotamien hatte der Bischof von Kallinikos eine Synagoge einäschern lassen. Theodosius befahl ihren Wiederaufbau und die Bestrafung der Täter. Ein Drohbrief des Bischofs Ambrosius von Mailand bewegte den Kaiser seinen Befehl zurückzunehmen (393).  (3) 

Unter dem Cäsaropapismus  (4)  Justinians (527–565) vertieften sich die Angriffe bis auf das gottesdienstliche Leben: „Bis der Pfeil das Herz getroffen, so geht es mit den Dekreten Esaus (= Byzanz)“, kommentierten synagogale Kanzelredner die bösen Edikte des Codex Justinianus (527). Diese befahlen für Sabbatlesungen die griechische Sprache. Mit der Begründung, es handele um  Lästerung der Dreieinigkeit, verboten sie das Bekenntnis zum einzigen Gott, ebenso den Gebrauch der Mischna und das Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth. Auch die Lesung der Verheißungen Jesaias, welche Zion Trost und Erhebung aus dem Staube versprechen, war untersagt.  (5)  Die kirchliche Neigung, in den Gottesdienst der Synagoge einzugreifen, setzte sich aber nicht durch.

  1. Diese Politik wurde unter Julian Apostata (361 – 363) kurz unterbrochen. Er war begeisterter Hellenist und begünstigte die Juden. Er gab ihnen die Erlaubnis, den Jerusalemer Tempel wiederaufzubauen, um die Weissagung Christi von seinem Untergang zu widerlegen. Sein Tod im Perserfeldzug beendete das Vorhaben.
  2. Nach der Niederschlagung des jüdischen Aufstandes (132-135) unter Hadrian (117-138) war Jerusalem heidnisch und hieß Aelia Capitolina.  Außer am 9. Aw, dem Tag der Zerstörung des Tempels, durften Juden die Stadt nicht betreten. Nachdem Helena, die Mutter des Kaisers, nach Jerusalem gepilgert war und dort die Grabeskirche errichtet hatte (326), erhielt die Stadt  wieder ihren alten Namen. Juden war sie aber wie unter Hadrian weiterhin verboten.
  3. H. Graetz, Volkstümliche Geschichte der Juden, Bd. 3, München 1985, S. 175f
  4. Ineinssetzung von staatlicher und kirchlicher Gewalt. Demgemäß bestimmte der Codex Justinianus, dass das kanonische Recht den staatlichen Gesetzen gleichzustellen sei.
  5. Graetz, a.a.O., S. 203

 

Frühes Mittelalter
Die Schriften von Papst Gregor I. (590-614) geben Einblick, wie die Kirche an der Schwelle des Mittelalters über die Juden dachte. Sie hätten, weil sie „das Land mehr geliebt haben als die Wahrheit… durch diese gottlose Bosheit… das Mysterium des Logos verloren und seien quasi zu den Ziegeln Ägyptens (= in die Knechtschaft) zurückgekehrt.“  (1)  Insgesamt war Gregor d. Gr. ein erfolgreicher Missionar. Er brachte den Katholizismus in Westeuropa voran, drängte arianische Christen und Heiden zurück. Er lehnte die Zwangstaufe für Juden ab, wollte sie aber durch materielle Anreize, z.B. teilweiser Grundsteuererlass für Konvertiten, in die Kirche locken.

Es gab vielfache Maßnahmen, um die Juden zu erniedrigen. So beschloss das Konzil von Macon (581), Juden vom Richteramt auszuschließen, „damit die christliche Bevölkerung ihnen nicht untergeben scheine.“ Sie sollten in Gegenwart von Geistlichen nur mit deren Erlaubnis sich setzen dürfen. Zur Osterzeit sollten sie Ausgehverbot haben. Der merowingische König Dagobert befahl den Juden bei Todesstrafe, sich entweder zu bekehren oder das Land zu verlassen (629). 

Die politische Instabilität während der Völkerwanderung und die territoriale Vielfalt Europas verhinderten, dass solche Beschlüsse sich überall durchsetzten. Anders als in Byzanz und Italien, wo die Kirche das Judentum durch feste Herrschaft drangsalierte, erlangte sie in Spanien, Frankreich und nördlich der Alpen erst mit den Kreuzzügen gleiche Macht.

Im Frankenreich Karls d. Gr. standen die Juden unter wirksamem kaiserlichem Schutz. Ihre wirtschaftliche Lage war günstig (8./9. Jhd.). Die erste Judenverfolgung in Deutschland geschah Anfang des 11. Jh. Ein konvertierter Kaplan aus Mainz verfasste eine giftige Schmähschrift gegen das Christentum. Kaiser Heinrich II. befahl den Juden Mainz zu verlassen. Es kam zu Zwangstaufen, Vertreibungen und Verfolgung. Mit Geldgaben gelang es dem angesehenen Mainzer Rabbi Ben-Abum das mörderische Treiben aufzuhalten.  (2) 
   
Die Kammerknechtschaft
Die >Kreuzzüge (ab 1096) brachten eine anhaltende Verschlimmerung der jüdischen Lebensbedingungen mit sich, ständige Verunsicherung und Bedrohung durch Verleumdung, Vertreibung und Pogrome. Man kann  von einem antijüdischen Verleumdungssyndrom der Christen  (3)  sprechen, das die Möglichkeit eines sicheren Rechtsstatus‘ für die Juden von vornherein unterminierte. Unter diesen Bedingungen wurde das Unternehmen der Kaiser und Könige, die Juden als Kammerknechte (servi camerae) in ihren Schutz zu nehmen, zur Falle.

Religiös leitete sich die Idee von der Knechtschaft der Juden von der kirchlichen Behauptung ab, das jüdische Volk sei wegen seiner Schuld am Tod Jesu das Ebenbild des Brudermörders Kain. Damit hätten die Juden Zerstreuung und ewige Knechtschaft verdientermaßen über sich gebracht. Die theologische Diskriminierung fand in der zunehmenden sozialen Gefährdung und Diffamierung der Juden, im Verlust des Rechtes, Waffen zu tragen, und in der konziliar beschlossenen Kleidertracht ihren sinnfälligen Ausdruck.  (4)  Im Sinne des römischen Rechts wurde servitus (= Knechtschaft) als privates Eigentum definiert. Diese prekäre Gemengelage überlieferte die Juden in die Leibeigenschaft, in die persönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit von ihrem herrschaftlichen Besitzer. Das gab ihnen nur bedingt Schutz, solange eben Interesse am Besitz dieses Eigentums – „meines Juden“, wie viele französische Herrscher sagten  (5)  - bestand. Das Interesse an den Juden beschränkte sich faktisch auf günstige Kredite und die Auspressung möglichst hoher „Schutzgelder“.

Die Bezeichnung servi camerae nostrae erschien erstmals in Urkunden Friedrich II. (1236). Er proklamierte das persönliche Besitzrecht des Kaisers an den Juden, „da kaiserliche Gewalt den Juden seit alters her ewige Knechtschaft als Strafe für die Sünde (der Kreuzigung Jesu) auferlegt hat.“ Zur Falle wurde diese „Rechtsstellung“ den Juden deshalb, weil sie als Strafe galt. Zudem konnten sie als privates Eigentum anderen Herrschaften zu deren persönlicher Nutzung veräußert werden. Das kaiserliche Judenregal über eine bestimmte Gruppe von Juden wurde anderen Obrigkeiten auf Zeit verkauft. Die Entwicklung zu einem Sonderrecht für Juden war damit abgeschlossen. Das, was sie in ihrer hilflosen Lage gelegentlich vor dem Schlimmsten rettete, war ihre Wirtschaftlichkeit, ihr Geldbesitz. Der wurde ihnen aber auch zum Strick. Gesellschaftlich immer mehr in das Geld- und Kreditgewerbe abgedrängt, waren sie dem Hass der bei ihnen verschuldeten Christen ausgeliefert. Diese, von ihren Predigern immer wieder zu Pogromen aufgestachelt, entledigten sich auf diese Weise wiederholt ihrer Schulden. Gegen die von der Kirche wach gehaltene Pogromgesinnung weiter Teile der Bevölkerung war das kaiserliche Judenregal weithin machtlos.

Unter islamischer Herrschaft
Im Mittelalter lebte die große Mehrheit der Juden unter islamischer Herrschaft. Der >islamische Antijudaismus unterscheidet sich vom christlichen. Die Auseinandersetzung zwischen Judentum und Islam hatte nie die Intimität und Erbitterung, die für den Kampf mit dem Christentum charakteristisch waren. Das Christentum verfolgte gegenüber dem Judentum eine aggressive Enterbungsstrategie (>Enterbungslehre), die, weil sie bekehren wollte, auf die Selbstaufgabe Israels zielte. Auch der Islam er enterbte Juden und Christen als Völker der Wahrheit (>Islamischer Antijudaismus). Aber er bekehrte weniger, als dass er eroberte. Der Kirche ging es um das Heil der Herzen und die Herrschaft über sie. Dafür war ihr jede autoritäre Staatsordnung recht. Dem Islam ging es um eine neue Herrschaftsordnung, der sich die anderen Völker des Buches ein- und unterordnen mussten.

Unter dem Islam bildete sich ein Vertragssystem (dhimma), das von den „Völkern der Bibel“ Kopf- und Grundsteuer erhob und ihre öffentliche Kennzeichnung als Unterworfene (Verbot des Waffentragens und Reitens) dekretierte. Er gewährte ihnen aber Schutz des Eigentums sowie religiöse und wirtschaftliche Autonomie. Auch diese Ordnung konnte die Juden nicht dauerhaft schützen. Der Aufstieg von Juden, die die Schranken des dhimmi durchbrachen und hohe Ämter bekleideten, führte oft zu Hassausbrüchen gegen die Erhöhung der „Unwürdigen“. 1066 bei den Aufständen von Granada wurde mit Josef Hanagid, dem jüdischen Wesir, die ganze Gemeinde umgebracht. Muslimische Herrscher pflegten unter dem Druck der Öffentlichkeit „Ungläubige“ aus einflussreichen Positionen zu entfernen. Manche erließen besonders erniedrigende Gesetze. So bestimmte der Kalif von Ägypten Al-Hakim B’amr Allah im Jahre 1008, dass „die Juden sich das Bild des Kalbes um den Hals hängen sollen, wie sie es einst in der Wildnis taten.“  (6)

Die Juden in Spanien
Im Spanien des 12. Jh. flohen viele Juden vor den eingefallenen, fanatischen Almohaden aus Nordafrika ins christliche Kastilien und Aragonien. Dort bekleideten sie oft hohe Staatspositionen. Doch auch hier kam es 1241 zu einem Erlass gegen den „Wucher der Juden“ und 1250 in Zaragossa zu einer Ritualmordbeschuldigung. Im 14. Jh. wuchs der christliche Fanatismus. Es kam zu Zusammenrottungen, Übergriffen und Torturen vor Gericht. Wie prekär die Lage der Juden war, zeigen zwei an Papst Clemens VI. gerichtete Bitten. Er möge ein Dekret erlassen mit dem Verbot, die ganze jüdische Gemeinde dafür verantwortlich zu machen, wenn ein Jude einem Christen Schaden zufüge. Auch möge er erklären, dass die Inquisition gegen Ketzerei nicht auf die Juden ausgedehnt werden könne.  (7)  Das feierliche Kol Nidre (Alle meine Gelübde), das am Vorabend des Versöhnungsfestes gesungen wird, entstand in dieser Zeit unter zwangsgetauften Juden, die geloben mussten, ihrem Glauben abzuschwören und Gott dafür um Verzeihung baten.

  1. Ben-Sasson, Geschichte des jüdischen Volkes, S. 501
  2. Graetz, a.a.O., S. 214f
  3. Ben-Sasson spricht von dem neuen Phänomen der Verleumdungen (Geschichte des jüdischen Volkes, 1992, S. 590). Dazu gehören: >Gottesmordlüge, >Hostienfrevel, >Jüdischer Wucher, >Pest und Brunnenvergiftung, >Ritualmordlegende, >Verleumdung des Talmud.
  4. Das 4. Laterankonzil von 1215 dekretierte, dass alle Juden in der Öffentlichkeit eine sichtbare Kennzeichnung zu tragen haben, ein gelbes oder rotes Stück Tuch oder einen farbigen Hut. Der sogen. Judenfleck war eine Erfindung von Papst Innozenz III.
  5. Ben-Sasson, a.a.O., S. 587
  6. a.a.O., S. 498
  7. Eine billige Forderung, die dem Selbstverständnis der Inquisitoren entsprach, die christliche Häresien verfolgten. Der jüdische Glaube kann nicht als Abfall vom Christentum eingestuft werden, seine Ablehnung also nicht verfolgt werden. Andererseits war diese Forderung mutig, bedeutete sie doch unausgesprochen die Anerkennung der vollkommenen religiösen Autonomie des Judentums.

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