Urteil statt Vorurteil:

Romantik

von Klaus-Peter Lehmann

Allgemeines
Die Romantik ist eine Gegenbewegung gegen die gesellschaftspolitischen Veränderungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in der napoleonischen Ära. Sie schwärmte für eine christlich-deutsche Nation, den mythisch überhöhten Ständestaat des Mittelalters und positionierte sich gegen den aufkommenden bürokratischen Staat aus dem Geist der Aufklärung. In Preußen war es das Emanzipationsedikt für die rechtliche Gleichstellung der Juden, das die Romantiker aufstörte. In der Christlich-deutschen Tischgesellschaft zu Berlin versammelten sich Adlige, Geistliche, Künstler und Militärs zu einer Art symbolischer Manifestation gegen den bevorstehenden Erlass von 1812 im Rahmen der Stein-Hardenberg‘schen Reformen. In Tischreden begründeten einige Romantiker das Ideal eines Mannes von Wohlanständigkeit, Ehre, guten Sitten und christlicher Religion. Philister und Juden seien auf Grund ihres Charakters und ihrer Gesinnungvon einer solchen ideellen Gesellschaft ausgeschlossen. Hier wurde die Emanzipation der Juden nicht als Rechtsanspruch von Individuen behandelt, sondern wegen der angeblich fehlenden Assimilationsfähigkeit als fremdes Kollektiv abgelehnt. Man sprach nicht mehr von den Juden, sondern dem Juden.  (1) 

Das preußische Emanzipationsedikt von 1812
Die preußische Reformgesetzgebung von 1807-1812 war eine Reaktion auf die verheerende Niederlage gegen Napoleon in der Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806. Sie zielte auf eine Stärkung der ökonomischen und militärischen Macht. Die bürgerliche Gesetzgebung wollte ständische Strukturen abbauen, um Staat und Untertan zu einer Einheit zusammenzuführen. Dazu dienten die Agrarreform (sog. Bauernbefreiung), die Gewerbereform (Aufhebung des Zunftzwanges), die Heeresreform (allgemeine Wehrpflicht) und die Bildungsreform.
Zu diesem Reformwerk gehörte auch das sog. Emanzipationsedikt vom 11.3.1812,  (2)  das die Juden zu beinahe gleichberechtigten Staatsbürgern machte. Sie erhielten Niederlassungs- und Gewerbefreiheit, wurden von allen Sonderabgaben befreit, genossen volle privatrechtliche Gleichstellung und hatten völlige Bewegungsfreiheit auf dem Staatsterritorium sowie freie Berufswahl. Staatsämter und Militärdienst blieben ihnen verschlossen. Die Autonomie der jüdischen Gemeinden wurde aufgehoben. Die preußische Staatsbürgerschaft musste gegen eine Unterschrift in deutscher, nicht hebräischer Schrift erworben werden. Trotz seiner Halbheit begrüßten die Juden den Erlass stürmisch.
Das Edikt galt nur in den Landesteilen, die 1812 zu Preußen gehörten. In den polnischen und westdeutschen Gebieten, die Preußen nach dem Wiener Kongress (wieder)erlangte, fanden sie keine Anwendung. So blieb der Großteil der preußischen Juden von der Emanzipation ausgeschlossen. Auch für einwandernde Juden galt das Edikt nicht.

Die Christlich-deutsche Tischgesellschaft
Am 18. Januar 1811, dem 110. Jahrestag der preußischen Monarchie, gründeten der Dichter Achim von Arnim und der Staatstheoretiker Adam Müller die Christlich-deutsche Tischgesellschaft. In den Gründungsstatuten wurde festgehalten, dass Mitglieder nur Männer von Wohlanständigkeit sein konnten: Die Gesellschaft versteht unter Wohlanständigkeit, daß es ein Mann von Ehre und guten Sitten und in christlicher Religion geboren sei,… daß es kein lederner Philister sei, als welche auf ewigen Zeiten daraus verbannt sind… Frauen können nicht zugelassen werden. Man traf sich wöchentlich in einem Berliner Gasthaus, dem Casino, zu einem politischen Diskurs, dem ein gemeinsames Mahl vorausging. Von den 86 bekannten Mitgliedern zählte jeweils die Hälfte zu Adel oder Bürgertum. Sie waren höhere Beamte und Militärs. Unter ihnen Clemens v. Brentano, Friedrich Karl v. Savigny, Heinrich v. Kleist, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schleiermacher, Karl Friedrich Schinkel, Carl v. Clausewitz. Alle gehörten zum Umkreis der preußischen Reformer. Deshalb ist es umstritten, inwieweit sie als reaktionäre Opposition gegen das Reformprojekt Hardenbergs anzusehen sind oder nur gegen die Judenemanzipation opponierten.

Die antijüdischen Tischreden
Die Grundüberzeugungen der Tischgesellschaft artikulierten sich in den Tischreden einiger ihrer Mitglieder. Es handelte sich um satirische Texte, die in der versammelten Runde vorgetragen wurden. Am bekanntesten sind zwei Reden, die Philister-Rede Brentanos und Arnims Über die Kennzeichen des Judentums.  (3) 
Brentanos Rede zeichnet sich dadurch aus, Philister- und Judensatire miteinander zu verknüpfen: Beide treten die Welt mit Füßen, und umarmen sich allein selbst, um sich ihren ineinander verliebten Widerwillen gegeneinander zu bezeugen, und ich halte diese Figur für das Abbild aller Schlangen in allen Paradiesen. Juden und Philister als Einheit im Gegensatz stehen der reinen ursprünglichen Tischgesellschaft aus unverbrauchten lebendigen Gesellen gegenüber. Jene stehen für den drohenden Untergang der Menschheit, diese für ihre Wiedergeburt. Die Mehrheit muß untergehn oder sich wie ein Phönix aus der Asche der falschen Geisteskultur verjüngen, führt Schlegel in seiner Rede über die Mythologie weiter aus.
Achim v. Arnims Rede zeichnet sich durch gezielte antijüdische Satiren aus: Man mache mit ihm einen galvanischen Versuch, das heist, ohne den Ischiasnerven heraus zu präparieren, gebe man ihm ein paar simple Fußtritte, er wird zucken, jetzt lege man ein Goldstück darauf oder mehrere und die Zuckungen hören auf, bey einem Christen hingegen mehrt sich das Zucken. Nach einer chemischen Zerlegung des Körpers des Juden in seine Bestandteile phantasiert Arnim seine Wiederherstellung im durchglühenden mit Ätzlauge gefüllten Platintiegel wie folgt: Nach Abzug aller vier Theile Christenblut, die durch eben so viel Theile Geld ersetzt wurden,… und mit Verlust des geringen unwägbaren Glaubenstheils, wurde der Jude im Kupellierofen wieder hergestellt,… er war durch die Zugabe an Gold viel lebendiger geworden. Eine satirische Poetisierung „des Juden“, der zu rituellen Zwecken Christenblut getrunken hatte, dessen wahrer Charakter bis heute seine Geldgier ist. Was ist ein poetisiertes Vorurteil anderes als eine sich absolut setzende Emotion, die ohne ein Gefühl für moralische Rücksichtnahme oder menschliche Anständigkeit sich in der eigenen über alles recht erhabenen Aggressivität badet. Das wiederholte Herumreiten auf diesen und ähnlichen antisemitischen Fiktionen lässt fragen, inwieweit es sich hierbei um polemische Artistik handelt, die mit dem Gedanken spielt, die grausamen Worte sollten Wirklichkeit werden. Im Lichte ihrer Verfolgungsgeschichte erwuchs den Juden hier der alte Feind in neuem Gewand.
Adam Müller forderte die Verbannung der Juden, den durch sie würde die Ordnung der Ständegesellschaft verwirrt und ein allgemeiner plebejischer Zustand herbeigeführt. Das schließt an die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Pogrome an. Er bezeichnet sie als Erbfeind der Christenheit und Widersacher aller Ordnung, was an den Vorwurf des Christusmordes und die Verteufelung der Juden erinnert. Auch die angebliche jüdische Kulturunfähigkeit begründen die Romantiker mit einem alten christlichen Topos. Die Juden und Philister verkörpern den toten Buchstaben, während die deutsch-christliche Kultur der lebendige Geist sei. Man argumentiert aber auch mit der jiddischen Sprache und dem Studium des Talmuds, worin sich die Geistesverderbtheit der Juden zeige.
Gegen diesen romantisch-christlichen, manchmal deutschtümelnden Zeitgeist gab es auch Gegenstimmen: Man darf überhaupt das Nichtgesellige der Juden mit den Christen nicht vom Willen der Juden, sondern man muß solches blos von dem Verfolgungsgeist der Christen ableiten.  (4)  Hardenberg hatte angeordnet, Ausdrücke hätten zu unterbleiben, die dem Sinn und Stimmung aller Menschen jetzt widerwärtig seien, wie das Schimpfwort Judenknecht.

Die romantische Weltsicht
In ihrem geschichtlichen Kontext reiht sich die Romantik ein in ein breites Aufleben antijüdischer Ressentiments gegen die aufklärerischen Bestrebungen, wie z.B. von Seiten Lessings. In Frankreich wurden den Juden 1791 Gleichberechtigung und allgemeine Bürgerrechte zuerkannt. Am halbherzigen preußischen Judenedikt braute sich der „intellektuelle“ Antisemitismus der deutschen Romantiker zusammen. Unter der vagen Idee einer das Mittelalter wiederbelebenden deutsch-christlichen Nation riefen sie dazu auf, sich auf das Eigene zu besinnen und alles Fremde, besonders das französisch Rationalistische, das Welsche, und das philisterhafte Judentum abzustreifen und auszuschließen. Unter diesem Dach lebten die antijüdischen Vorurteile der Vergangenheit in neuer Einkleidung weiter. Besondere Bedeutung gewann die Vorstellung von einer inneren Unfähigkeit des Juden zu tiefer und echter Kunstausübung  (5) 
Die Romantik betrachtete die Emanzipationsfrage nicht als Rechtsproblem, sondern als kulturell-religiöses Assimilationsproblem. Der Eintritt in die Familie eines großen Volkes, dieses im Laufe der Jahrtausende gestifteten, durch Schicksale, Religion, Sitten, Rechte und Gebräuche gestifteten Vereins, dieses über alle Schätzung erhabenen, im Kampfe und Anstrengung erworbenen Erbgutes, bedürfe mehr als die einfache Eröffnung der Pforte zu diesen Heiligtümern.  (6)  Wenn unsere Juden nicht den Greuel des Ceremonialgesetzes und Rabbinismus gänzlich entsagen und in Lehre und Leben soweit zur Vernunft und Recht übergehen wollen, daß sie sich mit den Christen zu einem bürgerlichen Verein verschmelzen können, so sollten sie bey uns aller Bürgerrechte verlustig erklärt werden, und man sollte ihnen, wie einst in Spanien, den Schutz aufsagen, sie zum Lande hinausweisen.  (7) 
Die romantische Weltsicht läuft darauf hinaus, das Existenzrecht der Juden, solange sie Juden sind, in Frage zu stellen. Ein rassistischer und eliminatorischer Antisemitismus meldete sich bei denjenigen, die im sogen. deutschen Befreiungskrieg in fanatischen Tiraden den Hass gegen alles predigten, was von Napoleon und Frankreich kam. Nach der Niederlage Napoleons wandten sie sich gegen den inneren Feind, der angeblich die deutsche Reinheit bedrohe. Dazu gehörten die Juden. Ernst Moritz Arndt meinte, sie und die Franzosen seien der teutschen Menschenzucht äußerst schädlich, sowohl in Hinsicht der Vergiftung der ächten teutschen Sitten, als der Verschlechterung des edlen teutschen Stammes.

  1. H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 8. Aufl. 2001, S. 157
  2. Es hieß Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate. Von Emanzipation sprach man erst seit ca. 1830. Vorher sprach man von der bürgerlichen Besserung der Juden.
  3. Zum Folgenden s. G. Oesterle, Juden, Philister und romantische Intellektuelle. Überlegungen zum Antisemitismus in der Romantik, o. A., Internet
  4. Andreas Riem, Apologie für die unterdrückte Judenschaft in Deutschland, 1798; s. Oesterle, Anm. 38
  5. E. Lauer, R. Müller, Der kleine Wagnerianer, München 2013, S. 205. „Letztlich wurde ihm sein Sington vorgehalten“ (A. Herzig, Die erste Emanzipationsphase im Zeitalter Napoleons, Freimark u.a., Juden in Deutschland, Hamburg 1991, S. 134). Juden galten wegen ihres angeblich unmelodischen Gesangs im Gottesdienst als nicht kulturfähig. (> Richard Wagner).
  6. Anonym, Über die Ansprüche der Judenschaft zu Frankfurt am Main auf das volle Bürgerrecht dieser Stadt, 1817, S. 3; s. Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung, Der Antisemitismus 1700-1933, Berlin 1990, S. 90.
  7. J. F. Fries, Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden, Heidelberg 1816; s. Katz, S. 87

 

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