Das Freigeben des Kindes Teil II
Pidyon ha-Bekhor - Die Auslösung des Erstgeborenen
von Michael Rosenkranz

„Und der Ewige sprach zu Mose: Heilige Mir alles Erstgeborene, alles, was bei den Kindern Israels den Mutterschoß eröffnet, bei Mensch oder Vieh, das gehört Mir.“ (II. BM. 13: 1-2)
„Alles Erstgeborene des Menschen aber, von deinen Söhnen, musst du auslösen.“ (II. BM. 13: 13)

Warum beansprucht der Ewige das Erstgeborene für Sich, und warum speziell das männliche? Ist es wichtiger als die später Geborenen, wichtiger als das weibliche, oder gar besser? Genau das nicht, - die Besonderheit liegt nicht in der Person des Erstgeborenen, sondern im emotionalen Zugang seiner Eltern. Alles Erste in unserem Leben prägt sich uns als besonders bedeutungsvoll ein. Das erste Kind ist für uns das Ende der Kinderlosigkeit. Mit ihm beginnt ein neuer Abschnitt in unserem Leben. Wir projizieren all unsere Vorstellungen, Wünsche, Erwartungen auf dieses erste Kind. Ihm wollen wir geben, was wir zu geben haben, es soll vollenden, was wir begonnen haben, es soll verwirklichen, was wir nicht vermocht haben. Es interessiert uns nicht, ob das Kind von all dem eventuell erdrückt oder zumindest bedrückt werden könnte, dadurch auf seinem Lebensweg dann vielleicht nicht so ungezwungen sein kann wie ein Später-Geborener, dem wir, dann schon lockerer, eher zugestehen, zu sein, wie er sein möchte. In alten Zeiten, und noch bis in die jüngste Vergangenheit war es zudem üblich, dem Ältesten, und eben dem Sohn, den Familienvorstand und das Familienerbe zu übertragen, - er erbte den Hof, er blieb den Eltern als Altersversorger erhalten. Die Töchter heirateten in andere Familien. Die jüngeren Söhne mussten sich etwas Eigenes aufbauen. Diese gesellschaftlichen Strukturen werden erst in jüngster Zeit in Frage gestellt und beginnen sich zu ändern. Gottgewollt sind diese Strukturen möglicherweise nicht. Die Heilige Schrift ist voll von Beispielen, in denen nicht der Erstgeborene bevorzugt wird (I.BM. 4: 5; 25: 31-34; 27: 1-40; 48: 14; 49: 3-4 u. 8-10). Jeder Mensch ist eine Persönlichkeit für sich, hat eine eigene Lebensaufgabe und sollte ihm selbst angemessen beurteilt werden. Um unseren Kindern gleiche Chancen geben zu können, um sie für ihr Leben frei lassen zu können, um nicht einen von ihnen, wenigstens den Ersten, an uns zu fesseln und für unsere Interessen zu missbrauchen, - deswegen verlangt ihn der Ewige von uns. Indem wir ihn weggeben müssen, indem wir anerkennen müssen, dass er uns gar nicht gehört, lernen wir, ihn frei zu lassen. Aber der Ewige will nicht, dass wir ihn zum Opfer töten, so wie er es auch nicht bei Isaak wollte, den Er auslösen ließ (I.BM. 22: 1-19). Er gab uns die Möglichkeit, das Kind auszulösen, durch ein Opfer an seiner Statt (IV.BM. 18: 15-16). Diese Auslösung ist freilich erst möglich, wenn wir das Kind zuvor abgegeben haben. Wir erhalten dann das Kind zurück, aber unser Verhältnis zu ihm kann nun ein anderes sein. Und deshalb ist dieser Vorgang auch in unserer Zeit von Bedeutung.

Das Thema Erstgeburt hat aber noch eine ganz andere Dimension, die das Verhältnis zwischen dem Ewigen und dem Volk Israel betrifft: Er hatte die Nachkommen Jakobs, das ist Israels, in Ägypten zu einem Volk werden lassen (II.BM. 1: 7). Dieses Volk Israel bezeichnet Er als Seinen erstgeborenen Sohn, den frei zu geben Er von Ägypten verlangte, anderenfalls Er dessen erstgeborenen Sohn töten würde (II.BM. 4: 22-23). Pharao, der Herrscher über Ägypten, der den Ewigen nicht kannte (II.BM. 5: 2), hatte aber die Vernichtung Israels beschlossen (II.BM. 1: 16). Da streckte der Ewige Seine Hand gegen Ägypten aus und tötete dessen Erstgeborene (II.BM. 12: 29). In der Nacht, als dies geschah, wäre dort auch das Volk Israel, da ja ebenfalls ein Erstgeborenes, vom Todesengel heimgesucht worden, wenn nicht der Ewige seine Errettung als Ganzes beschlossen und seine Auslösung durch das Pessach-Lamm verfügt hätte (6) (II.BM. 12: 3-7 u. 11-13 u. 27). Noch in dieser Nacht erklärte der Ewige alles Erstgeborene als Sein Eigentum (II.BM. 13: 1-16; 34: 19-20), das Ihm geweiht sei und damit dem Menschen nicht zur Verfügung steht (V.BM. 15: 19-23). In dieser Nacht führte Er das Volk Israel aus dem Schoß Ägyptens heraus, als Sein Erstling (II.BM. 4:22-23; Jeremia 2: 2-3), ein neu geborenes Volk, das Er sich als Sein Eigentum, Seinen Knecht, Sein Werkzeug, Seinen Partner in Seinem Plan für das Heil der Menschheit ausgewählt hatte. Er hat dem Volk Israel eine große Aufgabe zugedacht: „Ihr sollt Mir ein Reich von Priestern, ein heiliges Volk sein.“ (II.BM. 19: 6) Die Erstgeborenen Israels selbst sollten ursprünglich dem Volk als Priester auf diesem Weg vorausgehen (II.BM. 19: 6 u. 22 u. 24) (3) (4) (6). Aber das Volk war dieser Aufgabe noch nicht gewachsen, war überfordert. Es geschah die furchtbare Verfehlung mit dem goldenen Kalb, bei der von den zwölf Stämmen Israels nur der Stamm Lewi sich für des Ewigen Sache eingesetzt hatte (II.BM. 32:1-35). So löste Er die Erstgeborenen Israels Mann für Mann durch die Lewiten aus (IV.BM. 3: 12-13 u. 42-51; 8: 5-26), wobei Er bestimmte, dass die überzähligen Erstgeborenen Israels, die durch die Lewiten nicht ausgelöst werden konnten, von da an und für alle Zeiten nach Beendigung ihres ersten Lebensmonats durch fünf Schekel (später Sela’im genannt), nach dem Schekelgewicht des Heiligtums, ausgelöst werden müssen (IV.BM. 3: 42-51; 18: 15-16). Der Ewige nahm die Lewiten als Auslösungs-Opfergabe Israels als Sein Eigentum an, die für ihren Dienst im Heiligtum daraufhin in einer feierlichen Zeremonie geweiht wurden (IV.BM. 8: 5-26). Aus dem Stamm Lewi schließlich wählte Er Aaron und dessen Nachkommen aus, denen er das Priesteramt auf Dauer übertrug (II.BM. 29: 9) und denen er die Erstlingsgaben Israels und das Auslösungsgeld für die erstgeborenen Söhne zueignete (IV.BM. 18: 17-19). In den vielen Jahrhunderten seither hat sich das Volk Israel auf einem steinigen Weg fortentwickelt. Der Tempel wurde zerstört. Der priesterliche Opfergottesdienst hat aufgehört. Doch das Volk hat den Bund mit dem Ewigen bewahrt, hat für den Bund gekämpft und gelitten, hat für das Wort des Ewigen Zeugnis abgelegt und hat Seinen Namen geheiligt. Es ist reifer geworden und hat die ihm zugedachte Aufgabe angenommen, ein Volk von Priestern, ein heiliges Volk zu werden, auch wenn dies als Ziel noch längst nicht erreicht ist (Ezechiel 37: 25-28). Die einzigen Aufgaben, die die Nachkommen Aarons, die Kohanim (Kohen = Priester; Mehrzahl: Kohanim) in unserer Zeit noch haben, sind das Sprechen des Priestersegens vor der Gemeinde im Zusatzgebet der Feiertage (5) und die Auslösung der erstgeborenen Söhne, „Pidyon ha-Bekhor“ (Auslösung des Erstgeborenen) oder meist einfach nur „Pidyon ha-Ben“ (Auslösung des Sohnes) genannt (6).

Das Ritual der Auslösung ist einfach. Ausgelöst werden muss ab dem 31. Lebenstag das erste lebende Kind einer Frau, wenn es männlich ist und auf natürlichem Weg geboren wurde, unabhängig vom Tag der Beschneidung (3). Diese Pflicht besteht nur für Israeliten, die nicht dem Stamm Lewi angehören. Die Auslösung kann nur durch einen Kohen erfolgen, zu dem der Vater (oder dessen Vertreter) verpflichtet ist, das Kind zu bringen. Da der Auslösung des Erstgeborenen eine Opferhandlung, nämlich die Darbringung des Kindes, vorangeht (I.BM. 22: 1-19), wird diese eingeleitet mit einer Waschung der Hände, dann einem Speiseopfer in Form von Brot und Salz. Danach legt der Vater seinen Erstgeborenen vor den Kohen und spricht die Worte: „Meine Frau gebar mir dieses männliche Kind, das ihren Schoß eröffnet hat.“ Der Kohen fragt den Vater daraufhin: „Was willst du lieber haben, diesen, deinen erstgeborenen Sohn, oder die fünf Sela’im, die du für seine Auslösung zu geben verpflichtet bist?“ Der Vater erwidert: „Meinen erstgeborenen Sohn möchte ich lieber. Und hiermit gebe ich dir fünf Sela’im für seine Auslösung.“ Nach dem Sprechen zweier Segenssprüche gibt der Vater dem Kohen das Geld im Gegenwert von mindestens 100 g reinen Silbers und erhält von diesem dafür sein Kind zurück mit den Worten: „Dein Sohn ist ausgelöst.“ (1) (2) Die Segnung des Kindes durch den Kohen und eine Festmahlzeit beenden die Zeremonie.

Nunmehr ist der Erstgeborene ein Kind wie alle anderen. Wir sollen es lieb haben und erziehen wie alle anderen, die der Ewige uns geschenkt hat. Es hat neben den anderen Kindern keinerlei Vorrechte und besonderen Verpflichtungen den Eltern gegenüber, kann, freigelassen, seinen Lebensweg und seine Lebensaufgabe unbeschwert aufnehmen. Nur eine einzige Verpflichtung behält es: Die Pflicht zu fasten am Tag vor Pessach, aus Respekt vor den Erstgeborenen Ägyptens, die in jener Nacht getötet wurden, während Israel ausgelöst und errettet wurde (3).

Dass dies alles in einer patriarchal bestimmten Gesellschaft in Bezug auf die erstgeborenen Söhne gilt, scheint verständlich. Doch, gibt es nicht auch weibliche Erstgeborene, denen die Eltern die ganze Last aufbürden, die sie damit um ihr Leben bringen?  (vgl. Yifthachs Tochter in Ri. 11, 31f) Müssen daher nicht auch sie ausgelöst werden, um ihnen das eigenbestimmte Leben zu bewahren? Es wäre gut, - heißt es doch: „Heilige Mir alles Erstgeborene …“ (II.BM. 13, 2)

Weitere Quellenangaben:

1. Rabbiner Dr. Bamberger, S. (Hrsg.): „Siddur Sefat Emet“; Victor Goldschmidt Verlag, Basel, 1972; S. 288
2. Rabb. Bulka, Reuven P.: „The RCA Lifecycle Madrikh“, Rabb. Council of America, New York, 2000; S. 35-49
3. De Vries, S. Ph.: “Jüdische Riten und Symbole”; Fourier Verlag GmbH, Wiesbaden, 1982; S. 193-201
4. Rabb. Donin, Chajim HaLevy: „ Jüdisches Leben“; Verlag Morascha, Zürich, 1987; S. 284-287
5. Stemberger, Günter: „Jüdische Religion“; Beck’sche Reihe/Nr. 2003, Verlag C. H.Beck, München, 1996; S. 13-14
6. Thieberger, Friedrich (Hrsg.): „Jüdisches Fest, Jüdischer Brauch“; Jüdischer Verlag Athenäum, Königstein/Ts., 1985; S. 425-426

Teil 1 in Blickpunkte 1/2014, S.31

Dr. Michael Rosenkranz, geboren in Stuttgart 1948; niedergelassen als Arzt für Allgemeinmedizin; Mitglied der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen; seit 1996 Autor von Artikeln und Referent über Themen der jüdischen Religion, u.a. auf www.talmud.de; Beauftragter der Jüdischen Gemeinde für den interreligiösen Dialog und Teilnehmer mehrerer interreligiöser Arbeitskreise.

 

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