Granada - Verlorenes Paradies
von Rita Koch

Das Jahr 1492 ist untrennbar mit dem Schicksal der iberischen Halbinsel verbunden: Ferdinand und Isabella von Kastilien, das spanische Königspaar, schickten nach Rückeroberung ihres Landes und Vertreibung der letzten Mauren, Christoph Columbus zur Erkundung des Erdkreises auf die Meere der Welt, wo er zufällig Amerika entdeckte - und vertrieben die Juden aus dem Königreich, in dem sie 1.500 Jahre fast immer glücklich gelebt hatten, wenn sie nicht konvertieren wollten. Die Juden hatten in Spanien seit grauer Vorzeit eine Vorrangrolle gespielt und bis heute nicht nur dort, sondern weltweit als zivilisatorische Großmacht tiefe Spuren hinterlassen.

Die Sage erzählt, dass während der Belagerung von Jerusalem durch Nebukadnezar (586 vor der Zeitrechnung) es dem letzten Spross aus dem Hause Davids, Prinz Zerubbabel gelang, mit seiner Familie und großem Gefolge aus der Stadt auszubrechen und auf Schiffen der Phönizier nach Spanien zu gelangen. Als die exilierten Juden dann Babylonien wieder verlassen durften und freudig ins Heilige Land zurückkehrten, kam auch Zerubbabel nach Jerusalem, um sein Erbe anzutreten, aber die Juden wollten keine Monarchie mehr. Das jüdische Königreich war zu Ende und die Spuren Zerubbabels verlieren sich im Dunkel der Geschichte.

Die Anwesenheit der Juden in Spanien ist seit Beginn des ersten Jahrtausends geschichtlich bewiesen. Mit den Römern zogen die Juden an den Rhein und an die Donau, und erreichten auch Andalusien und England. Mit dem Fall von Rom litten sie in Spanien sehr unter den Westgoten, lebten aber wieder auf, als von Afrika die Berber-Brüder Tarif und Tarik mit einer großen Armee die Meeresenge zur iberischen Halbinsel überwanden und ab 711 das so eroberte Gebiet beherrschten, wo sie bis 1492 verblieben, als sie von den christlichen Armeen endgültig besiegt wurden.

Die Juden lebten also in der westlichsten Region Europas, waren aber in der Ausübung ihrer Religion immer an die Schulen von Sura und Pumbedita in Babylonien gebunden: von dort erhielten sie die Anweisungen über den hebräischen Kalender und die Festsetzung der Feiertage, sowie die Auslegungen des Talmuds und der Regeln, die sich ständig weiter entfalteten. Alles änderte sich aber im 10. Jahrhundert unter der Führung von Chasdai ibn Schaprut. Der Arzt, Philosoph, Halachist und hohe Minister aus Cordoba (915-970) etablierte und emanzipierte das sephardische Judentum als eigenständig, das seine Thoraschulen öffnete, den Kalender des jüdischen Festjahres dort errechnen ließ, wo es lebte, ohne das Erbe der Väter zu missachten, aber im Einklang mit den Umständen in Spanien. Heute besteht die Unart und das Missverständnis, dass sich die orientalischen Juden, deren Herkunft in den Ländern hinter dem Ural, in Asien und Mesopotamien liegt - bnei edoth hamisrach hier bei uns Sephardim nennen.

Nichts ist dem Leben der Juden in den maurischen Kalifaten von Spanien vom 8. bis zum 14. Jahrhundert unserer Zeitrechnung gleichzusetzen. In Sepharad, unter der Herrschaft der muslimischen aus Afrika stammenden Einwanderer, herrschte Frieden und Eintracht unter den Religionen. Muslime, Juden und Christen wirkten zusammen für das Wohl des Staates und schufen so eine Kultur und ein Lebensniveau, wie erst Jahrhunderte später im restlichen Europa mit dem Aufkommen der Renaissance.

Im Judentum ist vom „Goldenen Zeitalter von Sepharad“ die Rede, die Zeit unseres höchsten zivilisatorischen Beitrags zum Abendland, des Ruhmes der neu erblühten hebräischen Dichtung, der Wissenschaften, der Philosophie, der Mystik und Halacha, der Erkundung der Welt, der Medizin, der Ausformung der spanischen Sprache als eigenständig gegenüber Latein und Arabisch. Juden lebten im Luxus in Häusern mit blühenden Gärten, wo sie auch Landwirtschaft betrieben und in herrlichen Gewändern zusammen mit ihren äußerst gebildeten Frauen Feste abhielten, bei denen man griechische Philosophie betrieb und darüber wettete, wer im Verlauf des Abends das formvollendetste Gedicht verfasst hatte.

Samuel ibn Nagrela (Schmuel Hanagid), der große Heeresführer und 30 Jahre Wesir von Granada, ermahnte seine Söhne, große Bibliotheken anzulegen, um die Weisheit der Welt zu erforschen. Yehuda Halevi, Philosoph, größter hebräischer Dichter, Historiker, konnte trotz aller Herrlichkeit den Gedanken an Zion und an ein eigenständiges jüdisches Land nicht verwinden, und verschwand spurlos auf der Reise ins Heilige Land.

Chasdai ibn Schaprut hatte vom jüdischen Königreich der Chasaren im Kaukasus gehört und dem dortigen König Josef einen unvergleichlichen Brief geschrieben, in dem er ihm über die Annehmlichkeiten des Lebens der Juden in Spanien und deren Errungenschaften berichtete. Abschließend meinte er, dass er allerdings alles hergeben und zu Fuß in das Reich Josefs wandern würde, nur um unter einem jüdischen König in dessen Land leben zu dürfen. Ibn Schaprut konnte im 10. Jahrhundert noch nicht ahnen, wieviel das Goldene Zeitalter den Juden geben würde und wieviel sie der Welt hinterlassen sollten.

Toledo, Saragossa, Cordoba, Granada, Malaga, Sevilla, Valencia waren die Städte, in denen die meisten Juden wohnten, tausende. Als Künstler und Poeten, als Handwerker, Ärzte und Diplomaten, als Weltreisende und Botschafter, als Generäle und Wesire, hauptsächlich aber als große Gelehrte, Philosophen und Wissenschafter in allen Disziplinen. Straßen sind heute in Israel nach einigen von ihnen benannt: Moses ibn Esra, Salomon ibn Gabirol, Jehuda Halevi und natürlich Moses Maimonides. Insgesamt aber sind die Namen der Sephardim, die in der Geschichtsschreibung zurückblieben, so zahlreich wie der Sand an den Stränden ihres Mittelmeers.

Zwischen Ibn Schaprut und dem großen Maimonides, der fliehen musste, noch bevor man die Juden vor die Alternative stellte: Taufe oder Verbannung, liegt fast ein halbes Jahrtausend Weisheit und Größe, geschaffen von einer, wie gesagt, unendlichen Zahl Sephardim in Einklang mit ihren muslimischen und christlichen Landsleuten. Sie legten zusammen das Fundament der nachrömischen Kultur und der Zivilisation des Abendlandes.

Das sonnige Spanien war den Juden eine langwährende, gute Heimat gewesen, die sie nie wieder betreten haben - weil sie über dieses geliebte Land einen ewigen Cherem - Bann - aus Trennungsschmerz erließen. Aber sie nahmen ihr Land tief im Herzen in alle Länder mit, in die sie sich verstreuten, die Sprache, die Lieder, die Gewänder, die Bräuche, die Speisen, den religiösen Ritus. So hielten sie auf der ganzen Welt ihrer iberischen Heimat die Treue, in nostalgischer Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies.

Die größte sephardische Gemeinde entstand unter osmanischer Herrschaft in Thessaloniki, bis die Deutschen zehntausende Juden - unsere Brüder - in Züge pferchten, um sie in die Gaskammern zu schicken, wo niemand überlebte. In unmittelbarer Nähe der Zugsgeleise diente damals ein junger österreichischer Offizier in der Armee des Dritten Reichs. Er hieß Kurt Waldheim und erzählte viele Jahre später, dass er nichts von diesen Deportationen gemerkt hatte... Und noch viele Jahre später kamen zu uns nach Österreich Juden auf der Flucht aus der Sowjetunion, und diese orientalischen Juden, Nachfahren der von Nebukadnezar verbannten Ahnen aus dem Königreich Yehuda fast zweieinhalb Jahrtausende früher, die seither hinter dem Ural gelebt hatten, nennen sich nun aus unerfindlichen Gründen Sephardim - Spanier. Wo Spanien nach der Judenvertreibung doch fast Österreich war, als es von Königen aus dem Hause Habsburg jahrhundertelang regiert wurde... Aber das ist ein anderes Kapitel.

Das spanische Judentum wurde einmal von seiner Heimat verjagt und zum zweiten Mal durch Hitler stark dezimiert. Die Zahl der auf der ganzen Welt verstreuten Sephardim schrumpft und mit ihnen die Bräuche und Traditionen, die sie seit 1492 mit sich über Zeit, Länder und Meere getragen haben.

Seit der Zerstörung des Zweiten Tempels durch Kaiser Titus teilt sich das Judentum in drei Ethnien auf: Aschkenasim Sephardim und bnei edoth hamisrach. Auch in Wien lebten einst zahlreiche Sepharden: der Baron von Aguilar aus Portugal, enger Berater von Kaiserin Maria-Theresia. Aus Portugal stammte auch der Schwiegersohn von Fanny von Arnstein, Baron Pereira, dessen Ur-Urenkel Alexander Pereira Intendant der Salzburger Festspiele ist. Und jeder von uns sollte wissen, wer Elias Canetti und Carl Djerassi ist. Was sephardische Juden besonders identifiziert sind ihre Namen: von Medina bis Spinoza über Toledo, Toledano, Benvenisti, Calderon, Tudela, um nur einige wenige zu nennen. Manche haben im Lauf der Jahre auch deutsche und hebräische Familiennamen angenommen, ohne jedoch sich dem aschkenasischen Ritus anzupassen. Die Nostalgie nach dem Goldenen Zeitalter in Spanien tragen bis heute aber nur jene tief im Herzen drin, die das Paradies, das einst ihre Heimat gewesen ist, verloren haben.

Illustrierte Neue Welt 4/2013

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