Diakonie im christlich-jüdischen Horizont
Impulse aus dem Judentum für die christliche Diakonie
von Klaus Müller

 Einleitung: Fünf Motive für die Bemühung um die jüdischen Impulse in Sachen Diakonie

1. Christus, der Diakon der Beschneidung

Der Christos diakonos wird zu Recht immer wieder als Ausgangs- und Angelpunkt des Nachdenkens über Diakonie in Anspruch genommen. Neutestamentlicher Bezugspunkt ist dabei vor allem die Selbstprädikation Jesu aus Lk 22,27: „Ich bin in eurer Mitte als ein Dienender“. Der Ansatz einer Rede von Diakonie beim Christos diakonos hat sich bisher allerdings noch kaum von jener paulinischen Überzeugung treffen lassen, Christus sei ein diákonos peritomès gewesen (Röm 15,8), ein Diakon der Beschneidung. Dies ist in der Diakonik noch kaum bedacht. Und dabei ist gerade dieser „Titel“ Jesu, den Paulus prägt, eine Überschrift, unter der die „diakonische“ Sendung Jesu nach dem Zeugnis des Neuen Testaments neu verstanden und beschrieben werden könnte.
Diakon des Judentums. Gerade ein auf Christus bezogener Ansatz in der Diakonie – eine mit Paul Philippi gesprochen „Christozentrische Diakonie“ – wird über den „Diakon der Beschneidung“ in das Gespräch mit jüdischen Traditionen des Nächstendienstes hineinführen und sich dabei selbst tiefer und besser verstehen lernen. Christus, der Dienende in eurer Mitte, ist kein anderer als der Diener Israels. Der inmitten seiner Gemeinde eine diakonische Grundverfassung stiftet, ist immer schon der diakonos aus und für Israel, der seinem Volk dient.

2. Die alttestamentlichen Sozialtraditionen als integrale Bestandteile der christlichen Bibel

Als die frühe Kirche im 2. Jahrhundert eine ihrer wichtigsten Grundentscheidungen getroffen hat, nämlich gegen Marcion für die Beibehaltung der Hebräischen Bibel und damit die Israel-Dimension im christlichen Glauben, hat sie auch eine Entscheidung getroffen für die „soziale“ Dimension des Alten Testaments. Indem sich die Kirche auf ihre Bibel bezieht, steht sie von vornherein im Bezug zur Bibel Israels und damit zum Herzstück jüdischer Überlieferung mit all ihren sozial-diakonisch so hoch wichtigen Inhalten, angefangen beim Liebesgebot bis zur Einrichtung des Ruhetages und vielem mehr.
Diakonik als christlich-theologische Vergewisserung der sozialen Verantwortung der Kirche ist mithin, wenn sie sich gesamtbiblisch orientieren will, prinzipiell in eine Beziehung zu den biblischen Sozialtraditionen Israels versetzt.

3. Die Einsicht in das Fortbestehen des Bundes Gottes mit Israel und die Bundesnachbarschaft zwischen Israel und der Kirche

Die Grundentscheidung heißt hier: Hören auf das Zeugnis Israels als Konsequenz aus der Anerkennung seines ungekündigten Bundes mit Gott. Ist das Volk Israel bestimmt als das Bundesvolk Gottes in bleibender Erwählung, so muss diese theologische Qualifizierung die Zeugnisse jüdischen Lebens, Glaubens und Denkens mit umgreifen: Jüdische Tradition ist dann nicht wie auch immer geartetes „apokryphes“ Schrifttum, sondern – in seiner biblischen ebenso wie in seiner nachbiblischen Gestalt – Tradition des lebendigen Gottesvolkes und als solche unverzichtbare Bezugsgröße auch eines christlich-diakonisch profilierten Denkens und Lebens.

4. Die Rolle der Kirche und ihrer Diakonie im Vernichtungskampf der Nationalsozialisten gegen die Juden

Die hier angesprochene Thematik stellt freilich für sich genommen bereits ein immenses Feld der Forschung dar, die in neuerer Zeit intensiv in Gang gekommen ist. Geschichte und Rolle der „Diakonie im ‘Dritten Reich’“ ist eine gewiss noch nicht abschließend recherchierte Frage – dass indes diese „Rolle“ alles andere als rühmlich und überzeugend zu nennen sei, ist allen an der Forschung Beteiligten klar. Die Vernachlässigung des jüdischen Leidensweges christlicherseits wiederholte sich in der Zeit des Nationalsozialismus auf mannigfache Weise. Bekannt ist die ostentativ distanzierte Haltung des Centralausschusses für Innere Mission beispielsweise gegenüber der Arbeit im „Büro Pfarrer Grüber“. Noch im Jahr 1939 hält der CA gar eine Anfrage beim Reichsminister (!) für angezeigt, inwieweit seitens des Staates möglicherweise doch „Bedenken“ gegen solche Aktivitäten bestehen. Fraglos lässt sich auf derlei Vorgänge die Haltung der Inneren Mission nicht insgesamt und pauschal festlegen; differenzierter historischer Forschung bleiben hier noch immense Aufgaben vorgegeben. Gleichwohl gilt es ebenso entschieden festzuhalten, dass Hitlers Vernichtungsstrategie gegen die Juden nicht einfach als unabwendbares Verhängnis zu klassifizieren ist. Der relative „Erfolg“ des kirchlichen Widerspruchs gegen die „Euthanasie“verbrechen der Nationalsozialisten muss die Frage herausfordern, ob nicht die Stimme der Kirchen auch für eine Rettung der Juden etwas hätte bewirken können. Der couragierte Einsatz einzelner Persönlichkeiten in der diakonischen Arbeit vom Zuschnitt eines Pastors Paul Gerhard Braune in Lobetal und anderer gerade auch für die „Nichtarischen“ unter den vom Massenmord Bedrohten kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kirche und Diakonie aufs Ganze gesehen in ihrem Dienst für die geringsten und wehrlosesten Brüder und Schwestern Jesu versagt haben (Dietrich Bonhoeffer).
Die daraus abzuleitende These legt sich nahe, dass die Träger der Diakonie dem mörderischen Zugriff Hitlers auf die Juden so wenig Widerstand entgegenzubringen hatten, weil sie ihr diakonisches Selbstverständnis nie in einer wesentlichen Bezugsstruktur zum Judentum zu buchstabieren gelernt hatten. Das Erscheinungsbild einer „Diakonie im ‘Dritten Reich’“ hat zu tun mit einem in langer kirchlicher Tradition notorisch verweigerten Dialog mit dem Judentum. Ob sie sich das einzugestehen bereit ist oder nicht: Diakonie heute ist Diakonie nach dem Holocaust, nach der Schoa.

5. Die faktische Kooperation der christlichen und jüdischen Verbände in der Freien Wohlfahrtspflege der BRD

Bereits 1917 haben sich die jüdischen Wohlfahrtseinrichtungen und -organisationen unter dem Dachverband der „Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden“ (ZWST) zusammengeschlossen. Die Weimarer Republik sah die jüdische Wohlfahrtsstelle (seit 1925/26) eingebunden in die Deutsche Liga der damals sieben Reichsspitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege. Nachdem Hitlerdeutschland im Jahr 1939 die Auflösung der jüdischen Wohltätigkeitsorganisation erzwungen hatte, kam es 1951 dann zur Neugründung unter dem bezeichnend abgewandelten Namen der „Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland“.
Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland ist heute mit ihren zehn Landesverbänden und fünfzig hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein – wenn auch vergleichsweise kleiner – Faktor in der bundesrepublikanischen Sozialstaatlichkeit. Primäres Arbeitsfeld derzeit ist – neben der intensiven Arbeit mit Älteren und Jugendlichen – die Integration der Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion; binnen kürzester Zeit hat sich durch die Zuwanderung aus Osteuropa die Zahl der jüdischen Gemeindeglieder etwa verdoppelt.
Es wird indes das Wort „Kooperation“ für das Verhältnis der kirchlichen Wohlfahrtsverbände zum jüdischen solange seinen euphemistischen Unterton behalten, bis nicht ein dialogisches Bemühen um die gemeinsamen reichen diakonischen Traditionsschätze wirklich gewagt und unternommen wird.

Hauptteil: Diakonie im Horizont jüdischer Sozialtraditionen

Ich formuliere als Leitsatz: Eine Diakonie, die von jüdischen Sozialtraditionen zu lernen bereit ist, bindet Erbarmen und Recht zusammen, lässt das Erbarmen zum Recht kommen.

Diakonia – ohne Zweifel ein griechisches Wort – atmet hebräisches Denken. Den Äqivalenten Liebesdienst, Liebeshandeln, Wohltätigkeit, soziale Verantwortung u.ä. liegen in der hebräischen Tradition des frühen rabbinischen Judentums zwei Begriffe zugrunde, die wie zwei konzentrische Kreise übereinander liegen:
Erstens der sozusagen intimere Begriff: das Erweisen von Erbarmen, Güte, Gunst, gnädige Zuwendung, Liebeserweis. Vom Judentum immer schon als im wörtlichen Sinne fundamental betrachtet. „Auf drei Dingen steht die Welt – auf der Tora, auf dem Gottesdienst und auf gemilut chassadim“, so heißt es in den rabbinischen Schriften (avot 1,2). Ein Sammelbegriff für jedwede Zuwendung zum Mitmenschen – ebenso fundamental wie umfassend und nicht eingrenzbar.
Zweitens der Erweis von Gerechtigkeit, hebräisch: tsedaqa. Hier ist die erwartbare, allgemein verbindliche, verlässliche, konkrete Liebestat im Blick, ja die einzufordernde Pflicht zur Zuwendung, bzw. auch das Recht auf Zuwendung. tsedaqa ist ein großes Gebot.
Es sind im Rabbinischen implizit immer beide Begriffe im Spiel. Im Sinne zweier konzentrischer Kreise drängt die Bewegung vom inneren Kreis weiter zum äußeren, vom äußeren weist sie zurück auf die Konzentration in der Sinnmitte. Dass diese beiden konzentrischen Kreise aber nicht auf zwei verschieden wertige Ebenen verteilt werden können – etwa: hier die formalistische tsedaqa und dort das freie Liebes- und Gnadenwerk, zeigt das tiefe Wort im Babylonischen Traktat sukka 49b:
Der Erweis von Gerechtigkeit (tsedaqa) findet Wertschätzung bei Gott nur nach dem Maß der Liebe (chässäd), der freien Gnadenzuwendung, die in ihr enthalten ist; denn es heißt in Hos 10,12: „Säet euch in Gerechtigkeit, so werdet ihr ernten nach Maßgabe der Liebe.“
Das Bild der beiden konzentrischen Kreise erfährt durch dieses talmudische Wort deutlichere Kontur: chässäd erscheint als Innenseite und Wesensmitte der tsedaqa. Was es letztlich um die tsedaqa ist, entscheidet sich an chässäd. Die Beziehung beider ist nicht statisch ruhend, sondern dynamisch sich gegenseitig durchdringend: Die Sphäre des Rechtlichen zielt zentripetal auf Erbarmen; Erbarmen seinerseits setzt in zentrifugaler Bewegung Formen des Rechts aus sich heraus.
Ich versuche folgende begriffliche Zusammenfassung: In der Gestalt von gemilut chassadim ist die helfende zwischenmenschliche Beziehung reines Geschenk, Gnade, unverrechenbares und unkonditioniertes Aussein auf die Lebensmöglichkeiten des bzw. der anderen, schlechthin lebensstiftend. In der Gestalt von tsedaqa ist die Zuwendung rechtsverbindliche, erwartbare Solidarität, orientiert an der Vollgültigkeit des Lebens, die Partizipation am Lebensnotwendigen sicherstellend. Recht und Erbarmen befinden sich sozusagen in einer ständigen Zusammenarbeit um des Lebens willen.

Ich möchte im Folgenden dieses Zusammenspiel von Gnadenzuwendung und Rechtserweis an den klassischen Feldern rabbinischer Sozialpraxis etwas deutlicher machen:

(1.) Die Gastbereitschaft dem Bedürftigen gegenüber öffnet sich in chässäd dem Fremden als würde sie die Gottesgegenwart selbst empfangen und sorgt kraft tsedaqa verbindlich für zwei Mahlzeiten täglich. Das heißt: Die Fremden gastfreundlich aufzunehmen wird erstens chässäd-Erweis genannt, von dem gesagt wird, er sei „größer als der Empfang Gottes selbst“. In zweiter Hinsicht ist die Gastfreundschaft und Aufnahme der Fremden geradezu ein definierter Haushaltstitel im öffentlichen Fürsorgesystem. In diesem Sinne ist sie tsedaqa und damit erwartbarer Erweis, in Kraft gesetztes Lebensrecht. Die verbindliche Grundregel lautet: Wem es an mindestens zwei Mahlzeiten pro Tag fehlt, hat Anspruch auf Unterstützung aus dem Armenfonds. Besonders für Wanderarme – Fremde unterwegs – ist die tägliche organisierte Unterstützung lebenswichtig.
An dieser Stelle sei ein Blick geworfen auf die sorgfältig organisierte Armenpflege unter dem Stichwort der tsedaqa in der frühen talmudischen Zeit. Dass bereits zur Zeit des Zweiten Tempels eine geordnete Armenpflege bestanden hat, wird z.B. aus Mischna sota 9,6 deutlich: Der Text spricht in Fortführung der biblischen Asylgesetzgebung (Dtn 21,6) von der Verantwortung der „Ältesten einer Stadt“ gegenüber einem Fremden - sie bekunden: „Wir haben ihn (d.h. den Armen auf der Wanderschaft), nachdem er zu uns kam, nicht ohne Speise wieder ziehen lassen, und wir haben ihn nicht gesehen und ohne Begleitung gelassen.“ tsedaqa wird neu qualifiziert als Gegenstand kommunaler Verantwortung; sie ist jenseits individueller Zuwendung eben gerade auch Sache der Gemeinde.
Alle öffentlichen und sozialen Belange eines jüdischen Gemeinwesens talmudischer Zeit liegen im Verantwortungsbereich der sogenannten Gemeindeverwalter - wörtlich: Ernährer, also solcher, die - wie in obiger Mischna - weder den Fremden noch den Einheimischen „ohne Speise ziehen lassen“. Jede Gemeinde stellt drei parnasin an, die als ausführendes Organ der kommunalen Administration hohe Wertschätzung genießen, kontinuierlich ihr „Amt“ wahrnehmen und die sozialen Dienste organisieren. Die talmudische Formel unterscheidet die „Sieben einer Stadt“ und die „Drei einer Synagogengemeinde“.
Beauftragte insbesondere für die Armenversorgung gibt es schon früh in rabbinischer Zeit. Die tannaitischen Traditionen, z.B. in Mischna pea 8,7 oder die Baraita in bava batra 8b, belegen, dass jede Gemeinde tsedaqa-Einnehmer  bestellt. Von ihnen spricht als hochgeehrte öffentliche „Amts“träger bereits die weit in die Tempelzeit zurückreichende Tradition in Mischna qidduschin 4,5. Sie müssen von untadeligem Charakter sein, sind immer zu zweien mit der Einziehung der tsedaqa-Gelder betraut und sammeln wöchentlich für die quppa, Büchse, Kasten. Die Verteilung erfolgt wöchentlich freitags zum Sabbat. Die quppa stellt die wöchentliche Lebensgrundlage sicher; sie sorgt für Nahrung, d.h. vierzehn Mahlzeiten in der Woche. Überdies stellt sie den Fonds dar für die Ausübung weiterer Liebeswerke, wie Bekleidung Bedürftiger oder Auslösung Gefangener. Die Bürger der Stadt bzw. die anerkannte rabbinische Lehrautorität einer Gemeinde geben Direktiven zum Modus der Verteilung und entscheiden über spezifische Bereiche für vordringliche Hilfen. Die organisierte quppa ist geradezu konstitutiv für das gesellschaftliche Zusammenleben; sie definiert sozusagen den Status der Stadt in nicht geringerem Maße als die Synagoge oder das Gerichtshaus; kein Toraschüler soll sich an einem Ort niederlassen, an dem sich keine quppa und damit keine organisierte tsedaqa befindet. Maimonides rühmt - in der Tendenz sicherlich zu recht - den Umstand, dass keine jüdische Gemeinde je ohne sie existiert habe.
Komplementär zur Einrichtung der quppa erheben jeweils drei Einsammler Tag für Tag Naturalgaben und Spendengelder für die sogenannte Schüssel, tamchui. Die Regel heißt nun:
Die Schüssel für die Armen der Welt, und zwar täglich je nach Bedarf an alle; die Büchse für die Armen der Stadt, und zwar einmal wöchentlich freitags für die Ortsansässigen.
tsedaqa ist die Transformation menschlicher Grundbedürfnisse in Formen verlässlicher Interaktion sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiv-institutionalisierten Ebene. Der Verlässlichkeit sozialer Hilfe dienen auch die Ansätze der „Institutionalisierung“ in sogenannten „Genossenschaften“:
Ebenso wie die Grundämter des jüdischen Fürsorgewesens bis in die frührabbinische Zeit zurückreichen, lassen sich auch die sozial-karitativen Gemeinschaften und Genossenschaften bereits in der Periode des Zweiten Tempels nachweisen. In das 1. Jahrhundert gehört beispielsweise folgende Überlieferung aus Tosefta megilla 4,15:
Rabbi El‘azar ben Tsadoq hat gesagt: So war es Brauch der Genossenschaften in Jerusalem: die einen kümmerten sich um das Verlobungsmahl, andere um das Hochzeitsmahl, andere um das Beschneidungsfest eines achttägigen Sohnes, andere um das Einsammeln der Totengebeine.
Die Genossenschaft zur Gebotsausübung - ist in talmudischer Zeit eine feste Größe und weist auf das organisierte kollektive Ausüben der Pflicht zur Wohltätigkeit. Was sich dann im frühen Mittelalter als chevra qaddischa formieren wird, hat mithin in rabbinischer Zeit seinen Ursprung.
Zweites Praxisfeld: Die festliche Begleitung der Brautleute ist chässäd-Dienst, der selbst das Torastudium überflügelt – unmessbar, spontan; kraft tsedaqa erfahren gerade die Bräute weitreichende Sicherheiten für den Lebensunterhalt – vorausblickend auch auf einen möglichen Witwenstand.
Das heißt also wieder ein Doppeltes: Die rabbinische Bibelauslegung nimmt zunächst wahr, dass der erste Erweis von chässäd in der Bibel das Vorbereiten der Braut auf die Hochzeit darstellt. Gott selbst zeigt sich als das große Vorbild im Ausstatten der Braut, im Hineinführen zur Hochzeit und im Segnen der Brautleute: „Und Gott der HERR baute die Rippe, die er vom Menschen nahm zu einer Frau und brachte sie zum Menschen“ (Gen 2,22) – das will nach rabbinischer Auffassung lehren, dass der Heilige, gepriesen sei er, Eva das Haar geflochten, dass er sie zu Adam gebracht hat und ihr Brautführer geworden ist. Das Hineinführen der Braut unter großem Jubel ist spontaner Liebesdienst, der sogar das Torastudium zurücktreten lässt.
Diese Hochschätzung wird dann aber auch unter dem Stichwort tsedaqa in konkretes Sozialrecht übersetzt: Die rabbinische Regelung betreffs der Mitgift für die Braut sucht die jungen Eheleute am Anfang ihres gemeinsamen Weges wenigstens einigermaßen abzusichern. Das bedeutet im Einzelnen, dass der Brautvater seiner Tochter den Mindestbetrag von 50 durchschnittlichen Tageslöhnen als Mitgift überlässt. Das soziale Sicherungssystem im Zeichen der tsedaqa greift nun dort ein, wo diese Summe nicht aufgebracht werden kann, insbesondere bei der Heirat armer Bräute und Waisen. Der Mindestbeitrag zur Aussteuer ist also aus dem öffentlichen Sozialfonds zu garantieren.
Das Aufkommen für eine Mindestaussteuer ist nur einer der Bausteine im Eherecht. Das tsedaqa-System in rabbinischer Zeit hat grundsätzlich so etwas wie eine Armutsgrenze definiert. Ein Vermögensstand von weniger als 200 durchschnittlichen Tageslöhnen berechtigt nach talmudischer Regelung zum Bezug aus dem Armenzehnten und dem tsedaqa-Fonds. 200 Tageslöhne beträgt nun auch der Mindestbetrag, den ein Mann seiner Frau bei der Eheschließung in der ketubba, dem Ehevertrag, als Grundsicherung zu überschreiben hat (Mischna ketubbot 1,2). Der Frau werden diese 200 Tageslöhne gutgeschrieben. Das öffentliche tsedaqa-System wird insofern dann auch zur indirekten Witwenversorgung, als es die Mindestsumme einer ketubba absichert. Modern gesprochen sorgt die tsedaqa für eine Grundrente der Frau deutlich über der Armutsgrenze für den Falle der Verwitwung. Ist übrigens ein Mann nicht bereit, seiner Frau bei der Eheschließung die vorgeschriebene Summe zu überschreiben, so brandmarken die Rabbinen solches Verhalten als „Unzucht“! Über diesen Betrag – zuzüglich der mit in die Ehe eingebrachten Mitgift sowie der vom Ehemann geleisteten Zulage zur Mitgift – hat die Frau gerade auch im Falle einer Scheidung oder nach dem Tod des Ehegatten das Verfügungsrecht. In der Addition dieser Teilsummen ergibt sich als rechtlich verbriefter Mindestanspruch für die Frau bei Scheidung oder Verwitwung rund gerechnet ein Betrag in Höhe eines bescheidenen Jahresgehalts. Von diesen Ansprüchen ist die Frau unter keinen Umständen – auch nicht durch testamentarische Verfügung – zu entheben. Hinterlässt der Ehemann Schulden, haben andere Gläubiger gegenüber den Rechten der Witwe zurückzustehen.

Erbarmen und Recht im Zusammenspiel. Nur noch kurz skizziert:
– Die Aufnahme der Waisenkinder sieht in chässäd das Tor des HERRN geöffnet und verbürgt ihnen kraft tsedaqa umfassenden Rechtsschutz.
– Der Besuch von Kranken kennt in chässäd kein Maß, ist aber in Gestalt gesundheitlicher Grundversorgung kraft tsedaqa ein „Muss“ für jedes Gemeinwesen; kein Stadtrecht ohne Gesundheitswesen!
– Der Dienst am Toten ist in chässäd wahre Liebe um ihrer selbst willen, kraft tsedaqa und der sich auf diesem Felde bildenden „Genossenschaften“ aber auch auf Verlässlichkeit und Dauer gestellt.
Beide Kreise – chässäd und tsedaqa – beschreiben jeweils zusammen, was gemeint ist. Beide zusammen machen das aus, was in jüdischen Begriffen Diakonie heißt. Keiner der beiden ist verzichtbar, keiner auf den anderen reduzierbar. Modell gegenseitiger Konzentration. Wieder und wieder findet sich das talmudische Leitwort zitiert: „Die tsedaqa nimmt Maß bei der Liebe (chässäd), die in ihr ist“ (sukka 49b). Die Dimension des Rechtlichen bezieht ihre innere Kraft aus der Liebe; die Liebe ihrerseits wird darstellbar in Formen erwartbarer Solidarität.

Das Zusammenspiel von Erbarmen und Recht –
vertieft in 3 Hinsichten:

1. „Dass Erbarmen zum Recht komme“ ist Gott gemäß
Dass das Erbarmen zum Recht komme, ist nicht einfach nur sozialarbeiterische Faustregel; es steht hier die Erkenntnis Gottes (!) auf dem Spiel. Gott zu erkennen, heißt mit dem Propheten Jeremia gesprochen:
zu erkennen, „dass ich der HERR bin, der Erbarmen (chässäd), Recht (mischpat) und Gerechtigkeit (tsedaqa) übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der HERR“ (Jer 9,23).
Dass Gott chässäd, mischpat und tsedaqa liebt, ist theologisches Reden, welches die Dimension des ethischen Anspruchs mit umgreift. Woran Gott Gefallen hat, soll sich auch im Handeln des Menschen abbilden.
Sprechendes Beispiel für die rabbinische Anschauung von der gegenseitigen Durchdringung der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit Gottes ist das kurze Gleichnis im Midrasch, d.h. in der rabbinischen Bibelauslegung, zu Gen 2,4b: „Am Tag, da JHWH, Gott, Erde und Himmel machte“. An diesen Halbvers mit seiner doppelten Gottesbezeichnung knüpfen die Rabbinen folgende Überlegung:
„JHWH, Gott“ – es ist wie mit einem König, der leere Gefäße hatte und sprach: Schütte ich Heißes hinein, so springen sie; schütte ich Kaltes hinein, so bersten sie.
Was machte der König? Er mengte das Heiße mit dem Kalten, schüttete es dann in die Gefäße, und sie blieben bestehen.
Ebenso sprach der Heilige, gepriesen sei er: Erschaffe ich die Welt mit dem Maß des Erbarmens, so werden ihre Sünden sich häufen; erschaffe ich sie dagegen mit dem Maß des Rechts, kann die Welt nicht bestehen.
Vielmehr werde ich sie mit dem Maße des Rechts und mit dem Maße des Erbarmens erschaffen – und hoffentlich wird sie bestehen!
Gottes Schöpfungshandeln ist „zusammengesetztes“ Tun. Die Welt könnte nach Maßgabe des Erbarmens allein nicht existieren; Orientierungslosigkeit und Unverbindlichkeit würden die Schöpfung alsbald im Chaos versinken lassen. Dem Anspruch strengen Rechts allein könnte die Welt ebenso wenig genügen. Das Maß des Geschöpflichen bedarf beider Dimensionen, nur so findet die Welt ihre Konsistenz. Erbarmen und Recht – beide gehören zusammen zur Grundlage der Schöpfung, in der Diktion der Rabbinen: zu den Dingen, in denen die Welt erschaffen wurde.
Aufregend ist der Ausdruck des Wunsches, mit dem nach rabbinischer Anschauung der Schöpfer sein Werk bedenkt: „hoffentlich!“ Dieser „Hoffnungsseufzer“ Gottes. Die Verbindung beider Grundmotive des Erbarmens und des Rechtsspruchs ist nicht so etwas wie eine „Weltformel“; sie ist keine unproblematische Synthese und birgt in sich keine Garantie auf „Erfolg“. Positiv gewendet tut sich im „hoffentlich!“ Gottes die Eröffnung eines Verantwortungsbereiches für den Menschen kund. Der Schöpfer gibt zu erkennen, daß er den Schlüssel zum Gelingen des Weltgeschehens, zum Bestehen seiner Schöpfung nicht einzig und allein in seiner Hand behält. Der Mensch ist durch Gottes „hoffentlich!“ angesprochen und in Pflicht genommen, die Welt nach Maßgabe des Erbarmens und des Rechts erhalten zu helfen.
Ein Ausblick in das Neue Testament: Dass Erbarmen zum Recht komme, ist Gott gemäß. Wie im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, in jenem wunderbaren Gleichnis von der Diakonie Gottes, die das Leben austeilt. Ein Gleichnis vom Reich Gottes, ein Gleichnis dafür, wie es ist, wenn sich der Dienst Gottes für die Welt vollendet.
Denar ist Leben. Das ist wohlbekannt aus der Zeit Jesu: Ein Denar ist ein Tageslohn, den eine Familie braucht zum Lebensunterhalt für einen Tag. Denar ist Leben. Das teilt er aus.
Es gibt eine Entdeckung zu machen am Bibeltext: Die Abmachung mit der ersten Gruppe, den Ganztagsarbeitern, ist klar: „Arbeitet bei mir, ich gebe euch am Abend den Denar zum Leben!“ Und was sagt er zu den Nächsten, die Stunden später hinzukommen in den Weinberg? „Geht auch ihr hin, ich werde euch geben, was recht, was gerecht ist!“ Und was kriegen sie? Auch einen Denar. Und die zum Schluss Angestellten, aber zu Anfang Entlohnten, die Kurzarbeiter? Auch einen Denar, weil Gott doch daran interessiert ist, dass jeder das Leben bekomme. Und Gott fragt den zurück, der – unweigerlich und fast zwangsläufig – murrt über die „Ungerechtigkeit“: „Verdrehst du darum so böse und unsolidarisch die Augen, weil ich so gütig, so gut bin?“
Diese beiden Worte im Munde Gottes als wären sie austauschbar: „gerecht“ und „gut“. Von hier aus erschließt sich noch einmal der geradezu fundamentale biblische Zusammenhang: Gott lässt seine Gerechtigkeit durch Güte bestimmt sein. Was für das Leben gut ist, ist Gott recht.
Der gerechte Gott ergreift Partei für das Leben: "Ich will euch geben, was recht ist. Leben will ich euch zuteilen. Das Recht auf Leben will ich dir einräumen, Leben, von dem zu sagen sein wird wie am Schöpfungstag: Und siehe, es war sehr gut."

2. „Dass Erbarmen zum Recht kommt“ ist dem Menschen gemäß

In zweiter Hinsicht – nach der Gott-gemäßheit des Dienstes – findet die Liebestätigkeit ihre Orientierung am Menschen selbst. "Den Menschen sehend erbarmte er sich" – das ist vielleicht die Schlüsselstelle in der für uns alle so wichtigen Beispielgeschichte vom barmherzigen Samariter. Den Menschen „sehend erbarmte er sich“ (Lk 10,33) – ist eine Grundbewegung der Diakonie, die sich motiviert weiß einzig durch die „Erinnerung daran, dass alle Menschen Geschöpfe Gottes sind.“ Schöpfungstheologisch recht verstanden gilt: Der Mensch ist das Maß aller Diakonie – die Diakonie nimmt Maß am Menschen.
Das beispielhafte „sehen“ des Samariters ist das differenzierte Sehen des Leidenden in seiner Situation, ist kritisches Durchschauen komplexer Phänomene und Problemkonstellationen. Die rabbinische Tradition unterscheidet „Sieben Namen hat der Arme“ – einer differenzierten Terminologie der Armut entspricht eine differenzierte Hilfeleistung. Diakonie weiß: „Armut ist nicht der große Gleichmacher“; Armut hat viele Gesichter und viele Namen. Dass der Mensch an Leib und Seele seine Integrität und Selbstbestimmung zurückgewinne, ist Anliegen einer die Schöpfung erinnernden Diakonie. Diakonie ist Augenzeugenschaft für das geschöpfliche Leben.
"Den Menschen sehend sich erbarmen". Ich zitiere dazu nun eine talmudische Quelle (bava metsia 33a):
Es lehrten die rabbinischen Meister (im 2.Jh.): „Wenn du den Esel deines Feindes unter seiner Last liegen siehst“ (Ex 23,5) – kann damit auch gemeint sein: weit aus der Ferne "siehst"? Nein, denn die Schrift sagt im vorhergehenden Vers: „Wenn du dem Stier deines Widersachers oder seinem Esel, der sich verirrt hat, begegnest“ (V.4).
Ist mit diesem „wenn du begegnest“ möglicherweise nur das direkte Aufeinandertreffen gemeint? Nein, denn die Schrift sagt: „Wenn du siehst“.
Sehen und Begegnen. Welches Sehen hat in sich ein Begegnen?
Die Rabbinen gaben als Näherung an: den siebeneinhalbten Teil von einem mil, gleich einem stadium.
Die Rabbinen reflektieren auf ein „Sehen“, das der Begegnung mit dem Konkreten nicht ausweicht, auf ein Sich-treffen-Lassen vom Individuellen, das sich den Blick über das direkt Vorfindliche hinaus nicht verstellen lässt. Beide Aspekte korrigieren sich gegenseitig: Das weitschweifende Auge wird dem je einzelnen nicht gerecht; das kurzsichtige Fixiertsein auf das Nächstliegende verfehlt die Komplexität der Problemlagen.
Welches „du siehst“ hat in sich ein „du begegnest?“, fragen die Rabbinen. Welches Sehen kommt dem anderen nahe genug, um Begegnung zu ermöglichen in einer Konkretheit, die gleichzeitig frei genug ist für die weitere Perspektive? Die auf den ersten Blick verblüffende Arithmetik der Rabbinen will kein abgezirkeltes Längenmaß liefern, sondern erinnert an das „Augenmaß“: der siebeneinhalbte Teil einer römischen Meile entspricht nach rabbinischer Zählung rund 150 Metern und heißt stadium. Wichtiger als die exakten absoluten Zahlen ist ihr relativer Erfahrungswert: stadium ist die Maßeinheit des Überschaubaren, des Naheliegenden und steckt die Sphäre des unmittelbar Einsehbaren ab; genauer noch: auf ein stadium kann sich – als Erfahrungswert aus der sozusagen nach innen gewandten Religionspraxis – die Anlage eines Toralehrhauses bemessen; nach außen gewandt auf das Tun der Welt ist das stadium das vertraute Ausmaß der Spiel- und Kampfbahn. Will heißen: „Sehen als Begegnung“ spielt sich für die Rabbinen im Horizont des Überschaubaren ab – nicht im weitschweifig Unverbindlichen, aber auch nicht fixiert auf das Punktuelle nur. stadium ist das Maß des Erreichbaren und des Pragmatisch-Realisierbaren, bemißt sich etwa durch den Bogenschuss des Jägers, ist also Chiffre für einen Aktionsradius, innerhalb dessen sich zielgerichtetes, unverzügliches und effektives Handeln vollziehen kann. So wird die Begegnung treffend. So kommt die Hilfe dort hin, wo sie hin soll.
"Den Menschen sehend sich erbarmen". Das Maß zwischenmenschlicher Zuwendung ist in dieser zweiten Hinsicht der Mensch, und zwar der mündige, partnerschaftlich vorgestellte Mensch selbst. Hier nur noch ein weiteres Beispiel für den Gerechtigkeitserweis. Wichtiger biblischer Bezug ist Dtn 15,8:
"Du sollst deine Hand nicht zuhalten gegenüber deinem armen Bruder, sondern sollst sie ihm auftun und ihm leihen, soviel er Mangel hat."
Dieses Bibelwort steht im Kontext ganz konkreter Kreditbestimmungen. Und dies hat Aussagewert. Dem Nächsten „die Hand aufzutun“, will nicht verstanden werden als gönnerhafte Geste des Stärkeren gegenüber dem Unterlegenen, sondern als Bereitschaft zum Kredit und damit zur Ermöglichung weiteren selbstbestimmten Existierens als eines potentiell Gleichgestellten – „die Hand aufzutun und ihm zu leihen, soviel er braucht und Mangel hat“. Darlehen sei allemal besser als Geschenk, votiert die talmudische Tradition. Kredit sieht den Menschen tiefer und intensiver und effektiver als jedes Almosen.
Nicht ein Akt außergewöhnlicher Generosität ist gemeint, sondern ein nüchternes, vorausschauendes Solidarverhalten. Der Erweis von Erbarmen und Recht entwickelt – jedenfalls in ihrer höchsten Stufe – ein Gegenkonzept zur Attitüde des „Euergetismus“ in der griechisch-römischen Umwelt, d.h. zu einer "Wohltätigkeit", die letztlich nur die eigene Macht- und Ehrenstellung untermauern will. Kurz: Wo Erbarmen und Recht dem Menschen dienen, soll nicht einfach das Geben und Nehmen kultiviert, sondern partnerschaftliche Kooperation initiiert werden. Hier knüpft die Diakonie an, wenn sie auf jüdische Impulse zu achten bereit ist. Dem Gefälle einseitiger „Hilfe“leistungen soll durch das gemeinsame Lasten-Tragen begegnet werden.

3. „Dass Erbarmen zum Recht kommt“ ist der Hoffnung auf das Gottesreich gemäß

"Dass Güte zum Recht komme" ist biblisches christlich-jüdisch gemeinsames Hoffnungsgut, ist die Aussicht auf eine geheilte Schöpfung – „dass Güte (chässäd) und Wahrheit einander begegnen, Gerechtigkeit (tsädäq) und Friede sich küssen“
Mit diesen Worten zeichnet der 85. Psalm unsere Welt – nicht einfach wie sie ist, sondern als eine Utopie, die Beine macht und Hände öffnet, dass auch wirklich werde, was der Möglichkeit nach schon ist: "dass Güte und Wahrheit einander begegnen, Gerechtigkeit und Frieden sich küssen".
Der Midrasch zum Buch Genesis verknüpft in subtiler Weise die Schöpfungsgeschichte und insbesondere die Erschaffung des Menschen mit Ps 85,11:
Rabbi Simon lehrte: In der Stunde, da der Heilige, gepriesen sei er, sich anschickte, den ersten Menschen zu erschaffen, teilten sich die Dienstengel in verschiedene Parteien und Lager. Einige sagten: Er soll nicht erschaffen werden; andere sagten: Er soll erschaffen werden. Das meint das Wort in Ps 85,11: „dass Güte und Wahrheit sich treffen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen“.
Die Güte (bzw. die Engel, die die Güte vertreten) spricht: Er soll geschaffen werden, denn er wird Güte und Erbarmen erweisen; die Wahrheit spricht: Er soll nicht erschaffen werden, denn er wird voller Lügen sein. Die Gerechtigkeit spricht: Er soll erschaffen werden, denn er wird Gerechtigkeit erweisen; der Friede (schalom) spricht: Er soll nicht erschaffen werden, denn er wird voll Zank und Streit sein.
Illusionslos zeichnet dieser Midrasch Schöpfungsrealität; unübersehbar legt er aber auch die Perspektive frei auf das Geheiltwerden der Widersprüche. In zweifacher Hinsicht gewinnen die Rabbinen Sprache aus Ps 85,11. Die rabbinische Auslegung spielt hier mit der Doppelbedeutung der beiden Verben „begegnen“ und „küssen“: "Begegnen" kann auch heißen "als Kriegsgegner sich begegnen" (2.Sam 2,13), und das selbe Wort für "küssen" kann auch bedeutet: "den Kriegsbogen führen" – beides liegt manchmal nahe beieinander. Also, in der Doppelbedeutung dieser Wörter liegt für die rabbinischen Ausleger das Verständnis sowohl des real Vorfindlichen als auch des zukünftig zu Erwartenden bereit. In unserem gegenwärtig erfahrbaren Leben, direkt in unserer täglichen Erfahrung vor Ort oder über die Medien vermittelt – da treffen Güte und Wahrheit noch feindlich aufeinander da stehen sich Gerechtigkeit und Friede noch nicht wie zwei Küssende, sondern wie bewaffnete Konfliktgegner gegenüber. Aber aus dem einen wird das andere werden, so wahr Gott der Erlöser lebt. Ps 85,11 vermag reale Schöpfung zukunftsoffen zu deuten: In das Schöpfungsgeschehen ist bereits der Keim des Gottesreiches gelegt. Gottes Zukunft bricht dort an, wo Güte und Gerechtigkeit keinen Widerpart mehr haben, sondern eins geworden sind mit Wahrheit und Frieden. Nicht anders als im Zusammenklang dieser vier will Zukunft Gottes Gestalt gewinnen, will Schöpfung zu ihrem Ziel kommen.
Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, Wahrheit und Schalom. Übrigens: Mitten im eben zitierten Streit der Engelwelt um die Berechtigung der Schöpfung des Menschen schafft der diakonische Gott Fakten und bildet den Menschen. Das Zueinanderkommen jener vier Begriffe mag auch für Gott selbst im Streit mit den Engeln noch un(ein)gelöst bleiben. Mitten im Streit um die großen Worte drängt es Gott zum diakonischen Urakt, zur Schöpfung des Menschen. Gott unterläuft die Theoriedebatte und tut etwas – in seiner großen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Gott sei Dank! Sonst gäbe es den Menschen nicht und die Diakonie auch nicht.

Schlussgedanken:
Diakonie und jüdische Sozialtraditionen – ein langer Weg zueinander

Jüdisches Verständnis sozialer Verantwortung bindet Erbarmen und Recht zusammen, wir sagten: lässt das Erbarmen zum Recht kommen. Der mittelalterliche Religionsphilosoph Maimonides hat in seinem religionsrechtlich verbindlichen Kodex Mischne Tora die rabbinischen Sozialtraditionen in ein System von acht Rangstufen der Wohltätigkeit gebracht. Bei Maimonides heißt es übersetzt so: „Die höchste Stufe von allen ist: Wenn jemand die Hand eines in Armut geratenen Israeliten festhält und ihm Unterstützung zukommen lässt bzw. einen Kredit gibt, ihn in eine Geschäftspartnerschaft aufnimmt oder ihm zu Arbeit verhilft mit dem Ziel, seine Hand zu stärken, so dass er nicht darauf angewiesen ist, von anderen Leuten etwas zu erbitten.“ Die Systematik bei Maimonides ist bis heute jüdischerseits wegweisend geblieben und sieht die „Hilfe zur Selbsthilfe“ als vornehmste Form solidarischen Handelns. Starthilfe für eine selbstverantwortete Existenz statt Almosen!
Eine Diakonie, die sich von Tzedaka affizieren lässt, prüft, wo sie steht auf der Stufenleiter des Maimonides; lernt, dass Nächstendienst Nächstenrecht ist.
Beginnend mit dem Armenrecht der Tora, über die rabbinischen Dynamisierungen der biblischen Grundlagen bis hin zur gegenwärtigen jüdischen Sozialarbeit lautet die programmatische Tendenz: „From Charity to social Justice“ . Im heutigen hebräischen Sprachgebrauch ist gemilut chassadim (der Erweis von Güte und Erbarmen) das Angebot eines zinsgünstigen Darlehens zum Zwecke der Existenzgründung! Pointiert gesprochen: Liebe wird konkret im Zinsverzicht!
Erbarmen ins Recht gesetzt! Von höchster praktisch-theologischer Relevanz ist nun der traditions- und begriffsgeschichtliche Befund, welcher lautet: Das urchristliche Verständnis von Diakonia knüpft an beim Zusammenspiel von chässäd und tsedaqa.
Wo wir insbesondere „Nachholbedarf“ haben ist auf dem Felde der Tsedaqa. Es geht hierbei nicht um eine Verrechtlichung der Diakonie, sondern um eine Neuqualifizierung der Diakonie als Nächstenrecht.
Die Diakonik heute schickt sich an, das Selbstverständnis der Diakonie neu zu konturieren in Hinsicht auf die Interrelation von Recht und Erbarmen. Einsichten in diese Richtung sind unverkennbar formuliert etwa in der Diakonie-Denkschrift von 1998. Derlei positive Rezeptionen jüdischer Ansätze haben zur Voraussetzung, dass die seiner Zeit vom Altmeister der Diakoniegeschichte Gerhard Uhlhorn formulierte These, die vor- und außerchristliche Welt sei eine Welt ohne Liebe, gründlich verabschiedet worden ist – zugegebenermaßen ein Abschied auf Raten.  
Ausgehend von der Wiederentdeckung gemeinsamer begrifflicher Grundlagen steht indes der jüdischen und der christlichen Religionsgemeinschaft noch ein weiter Weg bevor, bis tatsächlich von einer beiderseits theologisch verantworteten cooperatio vitae causa gesprochen werden kann.

Einleitungsreferat auf der Jahrestagung der Lutherischen Europäischen Kommission Kirche und Judentum am 24. Mai 2013 in Bratislava. Prof. Dr. Klaus Müller ist Beauftragter der Ev. Landeskirche in Baden für das Christlich-Jüdische Gespräch und Dozent für biblische und systematisch-theologische Grundlagen der Diakonie am Diakoniewissenschaftlichen Institut der Universität Heidelberg

So der Titel des Sammelbandes über neuere Ergebnisse zeitgeschichtlicher Forschung, hg. v. Th. Strohm/J. Thierfelder, Heidelberg 1990; vgl. unter diesem Titel auch die Publikation von J. Klieme.

Vgl. die Auszüge aus der CA-Akte „Büro Grüber“ bei H.Chr. von Hase, Sozialpolitik und Diakonie unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, in: M. Schick (Hg.), Diakonie und Sozialstaat, Gütersloh 1986, 130f.

Vgl. M. Brocke, Art.: Armenfürsorge, in: TRE 4, 10-14.

Jerusalemer Talmud megilla III,2,74a.

sanhedrin 17b.

hilchot matnot aniim 9,3.

Baraita in bava batra 8b.

Bereschit Rabba 12,15 zu Gen 2,4b.

G. Theissen, Die Bibel diakonisch lesen: Die Legitimitätskrise des Helfens und der barmherzige Samariter, in: Diakonie - biblische Grundlagen, hg. von G.K. Schäfer/Th. Strohm, Heidelberg 1990, 383.

Bereschit Rabba 8,5 zu Gen 1,26.

So der Titel der Monographie von Frank M. Loewenberg, New Jersey 2001.

„Herz und Mund und Tat und Leben. Grundlagen, Aufgaben und Zukunftsperspektiven der Diakonie“, hg. vom Kirchenamt der EKD, Gütersloh 1998, Abs. 13; Abs. 65ff u.ö.

 

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