„Wenn Frauen mitmischen, werden andere Fragen gestellt“
Ein Interview mit Rabbinerin Gesa Ederberg

Das Büro von Gesa Ederberg befindet sich im jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße in Charlottenburg. Die Synagoge, die einst an diesem Ort stand, wurde während der Novemberpogrome 1938 in Brand gesteckt. Man betritt das 1960 schmucklos wieder errichtete Gebäude durch ein erhalten gebliebenes Portal. Das Büro der Rabbinerin liegt um mehrere Ecken und eine schmale Hintertreppe hinauf. Früher war es die Hausmeisterwohnung.

Frau Ederberg, wie jüdisch ist Berlin?

Es ist die einzige Stadt in Deutschland, in der ich leben möchte. Es ist ein jüdischer Ort, wo es eine Gemeinde gibt, die sehr vielfältig ist, wo man alles hat, was man für jüdisches Leben braucht. Wenn man woanders ist und sagt, man kommt aus Berlin, dann hört man inzwischen ,Oh echt? In Berlin war ich‘ oder ,Da will ich unbedingt mal hin‘. Sei es von Amerikanern oder Israelis. Berlin ist ein Ort auf der jüdischen Landkarte.

Was braucht man denn für ein jüdisches Leben?

Genügend verschiedene Synagogen. In Berlin kann man Gottesdienste je nach Geschmack haben. Es gibt Kindergärten, eine Grundschule, ein Gymnasium. Es geht bis zur Facebookgruppe für schwangere Israelis in Berlin. Man kann Baby-Yoga auf Hebräisch, auf Englisch, auf Russisch machen. Jüdischer Schachclub, Volkshochschule, es gibt alles. Es gibt kein Schwimmbad im jüdischen Gemeindehaus, das brauchen wir aber auch nicht wirklich. Alles andere ist da.

Bewegen sich die Gläubigen nur in dieser jüdischen Welt?

Nein. Die allermeisten bewegen sich in ihrem Kiez. Das Faszinierende ist aber, dass es so viele unterschiedliche Berlins gibt, die sich ganz oder auch gar nicht überlappen. Je nachdem, mit wem und wo man sich bewegt. Es gibt diese hippen israelischen Künstler, denen begegne ich nie.

Das sind auch nicht zwangsläufig gläubige Juden, oder?

Nein, gar nicht. Juden sind auch nicht frömmer als andere Leute. Die Synagogen sind das Jahr über nicht sehr voll und zu den Hohen Feiertagen zehnmal so voll.

Wie ist das in Ihrer Synagoge in der Oranienburger Straße?

An einem normalen Schabbat kommen etwa 60 Erwachsene und 30 Kinder. So viele Kinder sind etwas Besonderes. An den Hohen Feiertagen kommen 300 bis 350 Leute. Das ist schon ein Sprung, aber kein Riesensprung. In der Pestalozzistraße kommen dann 800 Leute.

Sitzen Männer und Frauen bei Ihnen getrennt?

Bei uns nicht, in anderen Synagogen in der Stadt schon. Es gibt zwei Synagogen, in denen man gemeinsam sitzt, uns und die Sukkat Shalom in der Herbartstraße. Dann gibt es ein paar, wo man getrennt sitzt und andere, da sitzen die Frauen abgetrennt, hinter einem Gitter oder oben auf der Empore.

Gleichberechtigung ist also ein großes Thema?

An sich nicht. Es ist für uns eine Selbstverständlichkeit. In unserer Synagogengemeinschaft diskutieren wir das nicht groß. Als wir Studierende angefangen haben, uns alternativ zu organisieren, haben wir überlegt, wer wir sein wollen. Der Gottesdienst sollte mehr zum Mitmachen sein, pfiffiger, und Männer und Frauen sollten gleichberechtigt sein. Das hat im Judentum noch eine andere Dimension als im Christentum. Im Christentum sieht man es daran, wer vorne steht. Bei uns fängt es mit dem Sitzen an, und im Gottesdienst ist nicht nur eine Person aktiv, sondern viele, die sichtbar mitwirken.

Als Sie berufen wurden, gab es aber einen ziemlichen Wirbel, weil Sie eine Frau sind.

Na ja, das war die Kehrseite dessen, dass wir eine Gemeinde sind mit vielen Strömungen: Stellen Sie sich mal vor, ein katholischer Kardinal hätte in der evangelischen Kirche was mitzureden, ob die nun eine Bischöfin anstellen sollen. Wir sind unter einem Dach.

Wie viele Rabbinerinnen gibt es eigentlich in Deutschland?

Vier: Berlin, Oldenburg, Frankfurt am Main und Bamberg. Weltweit sind es weit über 1 000. Jedes Jahr steigt die Zahl.

Sie sind in Tübingen groß geworden und waren evangelisch. Wie sind Sie zum Judentum gekommen?

Das war ein ganz langes Hineinwachsen. Zuerst hatte ich Interesse aus der deutschen Geschichte heraus. Ich habe dann Judaistik studiert. Mit dem Studium hat sich mein Umfeld verändert, mein Freundeskreis hat gewechselt.

Wie hat Ihre Familie reagiert, als Sie erfuhr, dass Sie konvertieren?

Mein Vater hat gefragt: Bist du sicher, dass es gut für dich ist?

Als Sie dann Rabbinerin wurden, gab es auch einen riesigen Aufruhr, weil Sie Konvertitin sind.

Ja, ganz erstaunlich. Bei konvertierten Männern, die Rabbiner wurden, gab es diese Aufregung nie.

Sie tragen eine Kippa. Ist das nicht ungewöhnlich für eine Frau?

Kippa heißt grundsätzlich, ich bin mir bewusst, dass es über mir noch etwas Höheres gibt. Früher liefen Männer wie Frauen auf der Straße mit Hut. Der männliche Hut ist irgendwann verschwunden, stattdessen trugen die Männer Kippa. Später, als die Frauen ihre Hüte auch ablegten, haben sie vergessen, dass sie damit ihre Kopfbedeckung abgesetzt haben. Wir haben zu Hause einen Korb mit ganz vielen Kippot, wo mein Mann, meine Kinder und ich reingreifen.

Und wer trägt Perücke?

Jüdinnen, die eine Perücke über ihren Haaren tragen, sind ultraorthodox. In Berlin gab es das früher kaum. Wenn sie vor 20 Jahren vier Jüdinnen mit Perücke getroffen haben, war das viel. Das hat sich geändert, weil mit Chabad Lubawitsch und der Lauder Foundation zwei sehr lebendige ultraorthodoxe Gemeinden entstanden sind, in denen viele junge Menschen ein sehr traditionelles Judentum für sich entdeckt haben.

Bewegt sich das Judentum in Berlin also insgesamt in eine traditionellere Richtung?

Es ist sicher richtig, dass Jüdinnen und Juden in dieser Stadt sich mehr für Religion interessieren und diese in ihrem Alltag leben als früher. Aber das kann in ganz unterschiedliche Richtungen gehen. Von der Westküste der USA kommen auch Dinge wie Tora-Yoga oder ,Wir atmen unser Gebet‘. Wir stehen da eher in der Mitte. Wir sind das, was in den USA konservativ heißt und im Rest der Welt Masorti. Masorti ist hebräisch und heißt traditionell. Aber ich sage, wir sind einfach mit uns selbst authentisch. Frauen werden seit 1984 ordiniert und inzwischen werden auch schwule und lesbische Rabbiner akzeptiert. Manche Leute mögen sagen, dass wir nach links driften, aber das stimmt nicht, weil es noch andere Aspekte gibt. Die Leute essen mehr koscher und halten mehr Schabbat, als es vor fünfzig Jahren der Fall war.

Wann sind Sie nach Berlin gekommen?

Als Studentin 1992.

Was haben Sie damals an jüdischem Leben in der Stadt vorgefunden?

Etwas völlig anderes als heute. Das war eine etablierte West-Berliner Gemeinde, die seit dem Kriegsende ihr Ding gemacht hat. Man hat gerade angefangen, sich zu freuen, dass es Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion gibt, sprich die Gemeinde wächst. Man hat angefangen, sich zu freuen, dass jüdische Touristen auftauchen, dass Deutschland für Juden als Reiseziel wieder anfängt möglich zu werden. Heute haben wir eine Vielfalt von jüdischem Leben, wo man jedes Mal neu nachzählen muss, wie viele Synagogen es gerade gibt und wie viele Kindergärten, weil sich das permanent ändert. Über die Studentenorganisationen und Kulturvereine hat, glaube ich, niemand mehr einen Überblick.

Von außen nimmt man überwiegend Konflikte wahr.

Weil wir die sehr öffentlich und sehr vehement austragen. Wir müssen sehen, dass wir das in den Griff kriegen. Ich persönlich hoffe, dass die Struktur bleibt: Wir sind in einer Gemeinde beieinander, wir lösen Probleme gemeinsam, für die die einzelnen Synagogen vielleicht auch zu klein wären, um sich darum zu kümmern. Da, wo wir unterschiedlich sind, sortieren wir uns in verschiedene Gruppen. Das ist ein tolles Modell.

Eigentlich ja. Aber sind die Probleme in den Griff zu kriegen?

Ich weiß das auch nicht. Aber wenn ich mir anschaue, wie vielfältig die jüdische Gemeinde vor der Naziherrschaft war und wie dort die Fetzen flogen, man aber andererseits zusammengeblieben ist, gibt mir das Hoffnung. Und auch da gab es das Denken: In diese oder jene Synagoge der anderen Gemeinde setze ich keinen Fuß.

Sie nennen sich traditionell. Gleichzeitig verkörpern Sie das Egalitäre. Warum ist das für sie vereinbar?

In den USA, im restlichen Europa, in Lateinamerika, in Israel, ist das eine der großen Strömungen. Jüdische Tradition hat sich immer verändert. Man sieht oft erst hundert Jahre später, was Mainstream ist und was versandet ist. In der Gleichberechtigung war am Anfang die Haltung: Wir sagen nicht grundsätzlich, dass Frauen gleichberechtigt sind, sie sind es dann, wenn sie auch die Pflichten auf sich nehmen.

Welche sind denn das?

Dreimal täglich beten. Alle religiösen Regeln einhalten, die an eine bestimmte Zeit gebunden sind. Es gibt die Tradition, dass Frauen davon befreit sind, damit sie sich um die Kinder kümmern können. Irgendwann hat man gesehen, dass es nicht mehr der Wirklichkeit entspricht, jede Frau einzeln zu fragen, ob sie wirklich diese Pflichten auf sich nehmen will. Weil sie es schon dadurch, dass sie zu einer Gemeinde kommt, implizit sagt.

Aber das heißt doch trotzdem, dass die Frau die Gesetze der Männer zu akzeptieren hat.

Wenn Frauen aktiver mitmischen, kommen andere Fragen aufs Tapet. Wie ist zum Beispiel der Umgang mit Fehlgeburten? Was können wir dazu für ein Ritual machen? Oder ist die Menopause ein ritueller Moment? So eine Frage stellt ein Mann nicht. Da muss eine Frau kommen, die dass rituelle Rüstzeug hat und das gestalten.

Ist jüdisches Leben in Berlin inzwischen eine Selbstverständlichkeit?

Dass Sie das fragen, zeigt schon, dass es noch nicht wirklich so ist! Im Alltag fühlt es sich aber immer mehr so an – wobei es noch viele Situationen gibt, wo Jüdischsein eben nicht selbstverständlich ist, angefangen bei den Sicherheitsvorkehrungen vor den Synagogen.

Wie sieht Ihre Synagogengemeinde aus, wen sehen Sie im Gottesdienst?

Etwas mehr Frauen als Männer, weil Frauen, die aktiv sein wollen, tendenziell eher bei uns landen. Viele junge Familien, wir haben durchschnittlich deutlich über zwei Kinder pro Familie.

Sind das Deutsche oder Zuwanderer?

Alles Mögliche. Deutsche, Israelis, Schotten, Mexikaner, Amerikaner, weniger russische Zuwanderer.

Empfinden Sie die jüdische Gemeinde als international?

Ja, und das ist wunderbar. Zu einer kosmopolitischen Stadt gehört auch eine kosmopolitische Jüdische Gemeinde.

Das Gespräch führten Julia Haak und Annett Heide.

Gesa Ederberg ist die einzige Rabbinerin Berlins und eine von vier Rabbinerinnen in Deutschland. Geboren wurde sie 1968 in Tübingen in eine evangelische Familie. Sie studierte Physik, Judaistik und Evangelische Theologie in Deutschland und in New York. 1995 konvertierte sie. 1998 bis 2002 absolvierte sie ihr Rabbinatsstudium in Jerusalem. Seit Februar 2007 ist sie Rabbinerin der Synagoge Oranienburger Straße. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder.

Berliner Zeitung, 21.1.2014

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