Antijudaismus im 19. Jahrhundert: der Liberalismus
von Klaus-Peter Lehmann

Das frühliberale Gesellschaftsmodell
Ausgehend von der Aufklärung als Befreiung des Menschen aus Unmündigkeit steht in der Mitte der Philosophie des Liberalismus das Individuum. Die liberale politische Ordnung soll so aussehen, dass  alle Menschen von unterdrückerischer und bevormundender Herrschaft und Abhängigkeit frei sind. Deshalb fanden die jüdischen Emanzipationsbestrebungen beim Liberalismus die stärkste Unterstützung. Die politische Leitidee der Liberalen war die Angleichung aller Gesellschaftskreise an das Ideal des ökonomisch freien und kulturell eigenständigen Mittelstandsbürgers mit christlicher Prägung.
Diese Leitlinie gestaltete den Einsatz der Liberalen für die Emanzipation der Juden widersprüchlich und ambivalent. Denn fast alle Liberalen gingen davon aus, das Judentum müsse sich für seine Emanzipation zum freien Bürger von seiner angeblich antiquierten Religion trennen. Die Grenzen des Liberalismus lagen in seinem assimilatorischen Fortschrittsoptimismus. Man glaubte, im Laufe der Geschichte würde sich das Judenproblem durch ihre allmähliche Amalgamierung quasi von selbst lösen, so wie die Armutsfrage durch Verbürgerlichung des Proletariats.
Mit den Reichstagswahlen 1878 verlor der Liberalismus sein machtpolitisches Übergewicht. Schon nach dem Börsenkrach 1873 hatten plötzlich der Konservatismus und der völkische Antisemitismus ideologisches Oberwasser gewonnen. Der Liberalismus wurde als jüdisch diffamiert. Liberaler Freihandel und jüdisches Finanzkapital würden die Grundlagen der Gesellschaft angreifen.

Gewährte und verweigerte Grundrechte
Die Jahrzehnte nach den Emanzipationsedikten der napoleonischen Ära, vom Wiener Kongress über die Restaurationsphase, von der 48er Revolution über folgenden Reaktionsjahre bis zur Reichseinigung unter Bismarck zeitigten ein Auf und Ab, was die Diskussion über die Rechtsstellung der Juden angeht, und eine ambivalente Gesetzgebung.
Die Sache der Emancipation der Juden… ist die Sache der Menschheit. Die Emancipation der Juden ist die Erstattung unbestreitbarer Menschenrechte… Alle Angehörigen des Staates muß ein Band umschließen… darum gleiche Rechte, aber auch gleiche Pflichten für jeden, der den Schutz des Staates genießt.  (1)
Mit diesen Worten bekannte sich der sächsische Landtag 1834 zu den Grundsätzen liberaler Weltanschauung. Dennoch lehnte derselbe Landtag die Forderung nach sofortiger rechtlicher und politischer Gleichstellung ab. Im Prinzip bejahten die Liberalen die sofortige Judenemanzipation, es solle nur die kulturelle Assimilation der vollen rechtlichen Gleichstellung vorausgehen.
Erst die Reichsverfassung der Frankfurter Paulskirche vom 21.12.1848 löste die Staatsbürgerrechte vom religiösen Bekenntnis. Damit fanden die Grundrechte, die Emanzipation der Juden, Eingang in die Gesetze der meisten deutschen Bundesstaaten. In den Jahren nach der Revolution jedoch kam es zu vielfältigen Revisionen. In Österreich und in den Ländern des Norddeutschen Bundes dauerte es noch zwei Jahrzehnte bis zur völligen Gleichstellung der Juden. In Österreich-Ungarn verschaffte das Staatsgrundgesetz von 1867, das die Doppelmonarchie begründete, allen Landesbewohnern unabhängig von Nationalität und Glaubensbekenntnis das volle Bürgerrecht. Im Norddeutschen Bund wurden mit dem Bundesgesetz vom 3.7.1869 alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte aufgehoben. Eingeschlossen war ausdrücklich die Bekleidung öffentlicher Ämter.  (2)  Nach der Reichsgründung erhielt das Bundesgesetz Gültigkeit in allen Staaten des Deutschen Reiches.

Das Judenbild des Liberalismus
Der Einsatz der Liberalen für die Emanzipation der Juden führte zu den gesetzgeberischen Erfolgen der Jahre 1848 und 1869. Deshalb bildeten der Liberalismus und die Juden im Urteil der Zeitgenossen eine feste Symbiose. Dennoch war das Judenbild der Liberalen vom Antijudaismus gezeichnet. Es war unter den Liberalen ungeklärt, was Emanzipation bedeutet, primär rechtliche Gleichstellung oder primär kulturelle Angleichung. Entsprechend dem Ideal des christlich geprägten Bürgers, dem sich die Juden zu amalgamieren hätten, kam es für die Mehrheit der Liberalen darauf an, dass der Jude entjudet werde und das Judentum mit den Waffen der Liebe zu vernichten und dass der jüdische Glaube allmählich verschwinde.  (3)  Deshalb stand für viele die Aufklärung der Juden vor ihrer vollen Emanzipation. Dem lag ein von fast allen Liberalen geteiltes Judenbild zugrunde. Auch wer für die sofortige Gleichstellung eintrat, teilte es.
Selbst ihre energischen Fürsprecher sprachen von Mißständen, die dem Judenthum seit Jahrtausenden ankleben und nicht in einer Generation untergehen können…. Meiner Überzeugung nach bleibt also nichts übrig als die Israeliten in die Masse der christlichen Bevölkerung mit gleichen Rechten hinein zu werfen, damit sie von dem Strome fortgerissen, gleich dem in einem Flußbett hinwallenden Kiesel sich abrunden und dem Bestehenden sich fügen.  (4) 
Zu den angeblichen Missständen des Judentums gehörten nicht nur ihre religiöse Praxis, sondern auch die Lehren aus Thora und Talmud. Sogar die Beschneidung hielt der liberale Theologe H. E. Paulus für eine unanständige Operation, die nur den grobschlächtigen vergangenen Zeiten gemäß sei. Weil das Judentum sich an seinen rabbinischen Lehren, seinem national beschränkten Messiasglauben und seinem Land festklammere, bedürfe es für alle Juden einer ungeheuren Anstrengung, um die Geschmacklosigkeit, die ihm von Jugend an anhaftet, abzulegen. Ihnen sei deshalb ein starker Hang zur Isolation eigen. Schon der göttliche Gründer des Christentums habe vergeblich versucht, die Juden aus ihrem Partikularismus zu befreien. Das Christentum sei die Religion der universalen Liebe, das Judentum würde sich von den gemeinsamen Idealen der Menschheit ausschließen. Sie würden aufgrund ihrer selbstbezogenen Beschränktheit, von dem Volk, in dessen Land sie lebten, sich grundsätzlich getrennt halten. Sie seien die ewigen Fremden, ja durch ihren unangenehmen Charakter, ihrer Neigung zum Spekulationsgeist, die Konzentration all ihrer geistigen Kräfte auf Gewinn, eine fremde Macht, wie eine parasitäre Pflanze, die dem gesunden Stamm seinen Lebenssaft aussaugt. Manche Liberale meinten deshalb, die Verleihung des Bürgerrechts an die Juden habe mit einer Zwangsumerziehung einherzugehen.  (5) 
Wie der Graben zwischen dem aktuellen und dem für die Anerkennung der Bürgerrechte notwendigen kulturellen Stand der Juden sich schließen werde, darüber gingen die Meinungen auseinander. Aber seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es schon so viele assimilierte Juden, das sich für die meisten die Frage nicht mehr stellte. Deshalb konnten die Gleichstellungsgesetze in den 60er Jahren mit deutlicher Mehrheit Landesparlamente, das Bundesparlament und später den Reichstag passieren.

Säkularisierter Antijudaismus: Verhaftung und Ablösung vom christlichen Glauben
Dem Judenbild der >Romantik folgend löste sich auch der Antijudaismus der Liberalen aus dem spezifischen Zusammenhang der christlichen Theologie. Das Interesse an den theologischen Wahrheitsfragen war weitgehend erloschen. Eine jede Religion wird nach ihrem Nutzen für die Nation befragt, nach ihrem Beitrag für eine emanzipierte Bürgergesellschaft. Der jüdische Glaube galt auch in dieser Hinsicht als völlig nutzlos und minderwertig. Das Urteil der sozialen Minderwertigkeit ergibt sich dabei konsequent aus der vernichtenden Bewertung der jüdischen Religion. In Konsequenz galt Toleranz nur den Juden, die sich von ihrem Judentum emanzipiert haben. Letztlich meint das: Selbstvernichtung durch Assimilation.
Wie sieht die Ablösung des Antijudaismus von der christlichen Theologie aus? Wie seine bleibende Verhaftung mit ihr? Ohne Blick auf die Fragen nach der Wahrheit des Glaubens interessieren nur och geistige oder charakterliche Eigenschaften, die mit bestimmten Glaubensinhalten angeblich verbunden seien. Beim Messianismus z.B. besteht kein Interesse an der jüdischen oder christlichen Messiaslehre. Der diesbezügliche Agnostizismus behauptet aber, dass die Liebe für alle Menschen vom christlichen Messias verkündet wurde, während die Juden der geschichtlich überholten Hoffnung auf Palästina anhingen, mit der sie sich von den Völkern isolieren, weil sie sich nicht dem Land, in dem sie leben, und seinen Sitten assimilieren wollen. Ähnlich verhält es sich bei der Gesetzeslehre. Es interessiert nicht die Frage der richtigen Auslegung der Thora, sondern man übernimmt vom alten Vorurteil der blinden Verhaftung des jüdischen Glaubens an Lohn und Werkgerechtigkeit die Charaktermaske des egoistisch auf seinen Vorteil auf seinen Vorteil bedachten Gesetzesjuden (religiösen Lohn, weltlichen Profit).
Die Säkularisierung entledigt sich der Frage nach dem Glauben, übernimmt aber von ihm das antijüdische Vorurteil und konzentriert sich auf seine neue Begründung in Charakter, Sitte oder Rasse.

 

  1. D. Langewiesche, Liberalismus und Judenemanzipation in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Freimark u.a., Juden in Deutschland, Hamburg 1991, S. 148
  2. P. W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt 1986, S. 2
  3. Graf York 1847 im preußischen Vereinigten Landtag; alle Zitate Freimark, S. 149
  4. Der Abgeordnete des badischen Landtags Merk 1833, Freimark, S. 156
  5. J. Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700-1933,  Berlin 1990, S. 146-158

 

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