Ich schäme mich
von David Bollag

Letzte Woche war ich sehr stolz, jüdisch zu sein. Doch jetzt schäme ich mich.

Nach der Entführung von Eyal, Gilad und Naftali hat sich ganz Israel vereint. Wir haben hier alle zusammen gehofft, gebetet und erwartet, dass diese drei Jugendlichen lebend gefunden werden und gesund zu ihren Familien zurückkehren können. Die Eltern sind ruhig und überlegt aufgetreten, haben ein beeindruckendes Mass an innerer Kraft ausgestrahlt und sind von allen Teilen der Bevölkerung unterstützt und bewundert worden. Wir waren stolz auf uns selbst, wie wir mit einer derart schwierigen und herausfordernden Situation umgehen können. Wie wir zusammenhalten. Wie sich Tausende – Soldaten und Freiwillige – an der Suche beteiligen. Wie überlegt und besonnen wir reagieren. Wie wir uns nicht zu impulsiven Reaktionen hinreissen lassen. Welch hohe ethische Werte wir haben. Wie wir zusammen für unser Leben sorgen. Ich war sehr stolz, jüdisch zu sein und in diesem Israel zu leben.

Doch heute, heute sieht es ganz anders aus. Nach der Entführung und brutalen Ermordung von Mohammed Abu Chder schäme ich mich, jüdisch zu sein und in Israel zu wohnen. Ich schäme mich und bin enttäuscht, dass ich gezwungen bin zu realisieren und akzeptieren, dass jüdische Jugendliche fähig sind, einen unschuldigen Menschen auf grausamste Art umzubringen.

Bis heute haben wir angenommen, dass die jüdische Ethik es nicht zulässt, dass Juden so morden. Doch jetzt müssen wir zugeben, dass wir uns getäuscht haben. Wir haben da offensichtlich versagt. Wir als Eltern, als Lehrer wie auch als Rabbiner. Deshalb müssen wir schnellstens etwas ändern.

Wir müssen uns selbst und unseren Kindern – wie auch unserer Umwelt – gegenüber wie von Neuem beibringen und erklären, dass es aus jüdischer Sicht absolut falsch ist, aus Rachsucht und Hass einen anderen Menschen umzubringen. Es ist total falsch. Aus einer Fülle unterschiedlichster Gründe.

Das jüdische Religionsgesetz (die Halacha) verbietet es auf unmissverständliche Art und Weise, einen anderen Menschen grundlos zu töten. 
Dieses Verbot ist Teil der zehn Gebote und ist 
nach Auffassung des Judentums auch eines 
der noachidischen Gebote, die für die ganze Menschheit gelten.

Wer als Jude einen anderen Menschen grundlos umbringt, entweiht zudem den Namen Gottes, er begeht einen «chilul haschem». Der Mord an Mohammed ist ein «chilul haschem». Die ganze Welt zeigt nun auf uns Juden und klagt uns an: «Seht, auch die Juden mit ihrer göttlichen Thora sind grausame Mörder.»

Für die jüdische Ethik steht der Wert des menschlichen Lebens an höchster Stelle. Alle anderen Vorschriften müssen missachtet werden, wenn es darum geht, das Leben eines Menschen zu retten. Menschliches Leben ist wichtiger als Schabbat, als alle Speisevorschriften und als alle anderen rituellen Gebote und Verbote.

Menschliches Zusammenleben ist nicht möglich, wenn wir uns gegenseitig töten. In einer Gesellschaft, in welcher Mord und Totschlag Teil des Verhaltens sind, gehen Ordnung und Sicherheit verloren, macht sich Angst breit und wird jede Möglichkeit zerstört, gemeinsame Ziele zu erreichen.

In den letzten Jahren ist Gewaltanwendung ein zunehmend grösseres Problem in der israelischen Gesellschaft geworden. Die Gewaltbereitschaft hat in vielen Bereichen, von der Schule über Sport und Diskotheken bis in Spitäler, sehr zugenommen. Zahlreiche Soziologen sind der Ansicht, dass diese Gewaltbereitschaft ein direktes Resultat der ständigen Konfliktsituation mit den Palästinensern sei. Sowohl der ständige Konflikt wie auch die Gewaltanwendung widersprechen direkt den Werten und Zielen der jüdischen Weltanschauung.

Die Bestrafung für die Missachtung staatlicher Gesetze liegt in der Hand des Rechtssystems, nicht in der Hand einzelner Individuen. Ein Land, in welchem die einzelnen Bürger das Recht in ihre eigene Hand nehmen, ist nicht überlebensfähig und wird sich selbst zerstören.

Integraler Bestandteil – eine Conditio sine qua non – aller zwischenmenschlichen Beziehungen ist die Fähigkeit, nicht jedem Gefühl sofort nachzugeben. Es ist verständlich und berechtigt, manchmal sogar unvermeidlich, Gefühle von Hass und Rache zu empfinden. Dennoch haben wir Menschen die schwierige Aufgabe, diese Gefühle kontrollieren zu lernen. Wir müssen die Bereitschaft entwickeln, mit diesen Gefühlen anders umzugehen als durch Mord an unschuldigen Menschen.

Jede Gesellschaft hat die Verantwortung, ihre Kinder zu Respekt vor dem menschlichen Leben zu erziehen. Die Kinder lernen so den Wert des Lebens kennen und es wird ihnen so beigebracht, menschliches Leben zu schätzen und zu schützen. Das ist Ziel und Inhalt jeder Erziehung, sicher auch der jüdischen.

Bis jetzt haben wir angenommen, dass es der jüdischen Erziehung gelungen ist, dieses Ziel zu erreichen. Wir sind davon ausgegangen, dass jedes jüdische Kind den unendlichen Wert des Lebens jedes Menschen kennt und respektiert. Bis gestern haben wir es nicht für möglich gehalten, dass jüdische Jugendliche einen Menschen aus Hass und Rache brutal ermorden werden. Doch wir haben uns leider sehr getäuscht.

Jetzt müssen wir zugeben, dass wir ein riesiges Problem haben. Wir müssen sofort handeln und überlegen, was wir falsch gemacht haben, und was geändert und verbessert werden muss.

Ich hoffe, dass es uns sehr bald gelingen wird. Denn ich möchte wieder stolz sein, Jude und Israeli zu sein.

David Bollag ist Rabbiner der Gemeinde Semer 
hasajit in Efrat bei Jerusalem und Dozent für Judaistik an den Universitäten Zürich und Luzern.

aus: www.tachles.ch, 11.7.2014

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