Neve Hanna, 10.7.2014

Liebe Freundinnen und Freunde des Kinderheimes Neve Hanna,

Sie werden die Nachrichten aus unserer Region mit wachsender Sorge wahrnehmen, weshalb es allerhöchste Zeit ist, dass wir uns endlich bei Ihnen melden. Aufgrund zusätzlicher, nicht aufschiebbarer Arbeiten insbesondere in den letzten Tagen, die u.a. mit der eskalierenden Sicherheitslage in Zusammenhang standen, kam ich nicht dazu, mich früher zu melden. Ich weiß jedoch, dass viele von Ihnen dringend auf eine Meldung von uns warten und somit ...

... das Wichtigste vorweg: Trotz Raketenangriffen auf die Stadt Kiryat Gat, geht es unseren Kindern entsprechend der gegebenen Umstände soweit gut. Ich war gestern im Kinderheim und konnte mich erneut davon überzeugen, dass die Schutzräume ein wahrer Segen sind. Während meiner Stunden in Neve Hanna hatten wir mehrmals Raketenalarm. Die Kinder halten sich gegenwärtig in ihren Wohngruppen oder in der absolut unmittelbaren Umgebung – also mehr oder weniger direkt vor der Haustür – auf. Sie wissen, was sie zu tun haben, wenn man die Sirene hört. Doch sie halten sich nicht nur an die Anweisungen, sondern tun dies auch in einer vorbildlich geordneten Weise, was sehr zur Bewältigung der Verhaltensabläufe während eines Alarms beiträgt. Zwar befinden sich die Schutzräume in der Nähe der Wohngruppen, aber dennoch muss diese Distanz innerhalb von weniger als 40 Sekunden bewältig werden, dazu noch von vielen Kindern gleichzeitig. Während der Zeit, in der man sich in dem Schutzraum aufzuhalten hat, nach einem Alarm mindestens zehn Minuten, singen einige Gruppen, um die Spannung abzubauen und nicht nur bange auf den zu erwartenden Knall draußen zu warten.

Seit dem vergangenen Wochenende hat es mehrere Male Alarm in Kiryat Gat gegeben. Es sind Raketen in der Umgebung in offenen Feldern eingeschlagen. Die anderen Raketen, die im Anflug auf bewohnte Gebiete waren, wurden glücklicherweise dank des Raketenabwehrsystems „Eisenkuppel“ noch im Anflug unschädlich gemacht.

Grundsätzlich kann man sagen, dass es den Kindern in Neve Hanna soweit gut geht, aber die Aussage, dass alles in bester Ordnung ist, wäre verfehlt. Man merkt nicht nur, dass der massiv geänderte Tagesablauf und der extrem eingeschränkte Aktionsradius Auswirkungen haben, sondern auch die andauernde Alarmbereitschaft. Man hat immer ein Ohr sozusagen draußen und ist auf dem Sprung, die Konzentration ist daher mäßig bzw. geteilt, man ist schreckhaft und angespannt. Tagsüber kann man die Kinder ablenken, wozu sehr nachhaltig die viele Extrastunden arbeitenden Mitarbeiter, die Freiwilligen aus Israel sowie aus Deutschland und der Schweiz – diese jungen Leute schlafen zudem mit den Kindern in unmittelbarer Reichweite oder aber sogar grundsätzlich in den Schutzräumen – und andere beitragen. Soweit es geht, versucht man den Rahmen einer Routine aufrecht zu halten. Das ist vor allem ebenfalls wichtig, wenn man möchte, dass die Kinder zumindest nachts zur Ruhe kommen. Schlaf ist besonders wichtig, um den Herausforderungen des neuen Tages gestärkt begegnen zu können. Routine ist wichtig für das persönliche Sicherheitsgefühl erst recht in einer Zeit der Ungewissheit.

Wie gesagt war ich gestern länger in Neve Hanna. Man spürt die Anspannung, ohne Frage. Man merkt zudem, dass einige Kinder damit weniger und andere etwas besser damit zurecht kommen. Man merkt den Mitarbeitern – den professionellen wie den ehrenamtlichen – an, dass auch sie unter Stress stehen. Dennoch konnte man wie immer viel Lachen hören. Man merkt den Neve-Hanna-Zusammenhalt, der viel Rückversicherung, Balance und Stärke gibt; Kindern wie Erwachsenen gleichermaßen.

Somit verläuft unser Sommerferiencamp, das diese Woche angelaufen ist, sehr viel anders als geplant. Keine Schwimmbadbesuche, kein Verweilen und Klettern auf dem Spielplatz, kein Toben und Energie abbauen auf dem Sportplatz, keine Ausflüge in der Region. Ihre großen Sommerferien und ihr Sommerferiencamp, das Neve Hanna traditionell im Juli veranstaltet, haben sich die Kindern anders vorgestellt. Das gilt nicht nur für die 80 Kinder, die in Neve Hanna leben, sondern auch für die 40 Kinder, die unsere Tageshorte besuchen.

Wir wissen nicht, was die nächsten Tage bringen werden. Die Leitung und der Mitarbeiterstab von Neve Hanna stellen sich einstweilen auf eine länger anhaltende Eskalation ein, denn wir sind es den Kindern schuldig, im Voraus zu denken und zu planen, um ihnen dennoch trotz der gegebenen Umstände Kurzweil, Zerstreuung, Spiel und auch Entspannung bieten zu können.

Ich werde mir erlauben, Sie weiterhin auf dem Laufenden zu halten. Dennoch möchte ich diese Zeilen nicht ohne die Weitergabe einer sehr traurigen Nachricht abschließen, auch wenn viele von Ihnen bereits informiert sein mögen. Vor wenigen Tagen verstarb die Vorsitzende unseres deutschen Freundesvereins „Neve Hanna Kinderhilfe e.V.“ Pfarrerin Ruth-Maria Oettinger. Ich füge Ihnen den Nachruf des deutschen Freundeskreises an.

Frau Oettinger war häufig bei uns in Neve Hanna. Sie war kein Gast, sondern bei uns Zuhause, denn sie gehörte von den Anfängen des Kinderheims an und somit seit vier Jahrzehnten zur Neve-Hanna-Familie. Sie engagierte sich nachhaltig für das Wohl unserer Kinder. Wir verlieren eine langjährige Freundin, die uns sehr ans Herz gewachsen ist. Die Kinder, die MitarbeiterInnen und die Leitung von Neve Hanna werden sie schmerzlich vermissen.

Mit freundlichen Grüssen im Namen aller in Neve Hanna,
Antje C. Naujoks
Beauftragte für Öffentlichkeitsarbeit

Neve Hanna, 13.7.2014

Liebe Freundinnen und Freunde des Kinderheimes Neve Hanna,

seit meinem letzten Rundschreiben vom 10.7. hat sich viel getan. Die Ereignisse, die Du/Sie in den Nachrichten verfolgst/en, überschlagenden sich teilweise.

Nun jedoch möchte ich mir die Zeit nehmen, um etwas ausführlicher über die Lage in Neve Hanna zu berichten. Vorweg: Alle sind den Umständen entsprechend in Ordnung. Wenn ich das letzte Mal schrieb, dass die Schutzräume, die wir gebaut haben, ein wahrer Segen sind, so kann ich das nur nochmals wiederholen!
Wir hatten in der Vergangenheit leider mehrmals erleben müssen, dass ohne gut erreichbare Schutzräume für unsere Kinder die Ungewissheit, die mit einer solchen Situation der Eskalation einhergeht, emotional schlichtweg nicht zu bewältigen ist. Daher haben unsere neuen Schutzräume mit ausreichend Platz für alle, die zudem jederzeit gut und einfach zu erreichen sind, eine enorm wichtige Funktion im Hinblick auf das seelische Wohl der Kinder. Den Unterschied zu unserer Lage zum Jahresübergang 2008/2009 vor dem Bau der Schutzräume und nach dem Bau konnten wir bereits während der Eskalationsrunde 2012 deutlich bemerken.

Seit November 2012 haben sich jedoch die äußeren Bedingungen gewandelt. Mittlerweile wird unsere Region wesentlich häufiger von Raketen angegriffen als in der Vergangenheit. Dass das „Eisendom“-System die meisten Raketen, die in bewohnten Gebieten eingeschlagen wären, rechtzeitig vom Himmel geholt hat, ist eine große Erleichterung. Doch: Früher gab es in Kiryat Gat lediglich ab und zu Alarm. Eher selten – zumindest im Vergleich zu anderen Orten unserer Region – schlugen tatsächlich Raketen in unserer Stadt ein. Inzwischen hat sich das grundlegend gewandelt, denn Kiryat Gat hört sehr viel häufiger den ohrenbetäubenden Sirenenalarm, und immer wieder kommt es zum direkten Beschuss der Stadt. Somit ertönen nicht nur unvergleichlich häufiger die Sirenen, sondern man bekommt zugleich akustisch sehr viel von den Kampfhandlungen mit. Wir können die Kinder nicht davor bewahren, dass sie mitbekommen, was sich draußen tut: Raketen wie auch Abwehrraketen machen eine Menge Lärm. Mit anderen Worten: Trotz der Schutzräume haben wir vor Ort eine veränderte Situation, die für die Kinder viel Unruhe, Aufregung und auch Ungewissheit schafft.

Daher haben wir unseren Freundeskreis „Neve Hanna Kinderhilfe e.V.“ am Wochenende um Hilfe gebeten. Die Kinder brauchen eine Verschnaufpause, müssen einmal wieder draußen frei toben und spielen können, durchschlafen wie auch ansonsten innerlich zur Entspannung kommen und wieder Kraft tanken. Wir haben um eine finanzielle Notfallhilfe gebeten, um mit den Kindern für einige Tage wegfahren zu können. Der Freundeskreis hat zu unserer großen Dankbarkeit eine größere Summe zur Verfügung gestellt, die einstweilen aus den Rücklagen zur Verfügung gestellt wurde, aber selbstverständlich eine Belastung für den Verein darstellt. Wir hoffen daher, diese Belastung durch außerordentliche Spenden wieder ausgleichen zu können.

Gestern haben wir einen Ausflug von ganz Neve Hanna – 80 Kinder und 25 Betreuer mitsamt Freiwilligen – gebucht, in den Norden des Landes. Als dann aber am späteren Abend die Meldungen vom Beschuss auch des Nordens kamen, hat Dudu Weger entschieden: Egal, wie sehr die Situation in Neve Hanna angespannt ist und egal, wie sehr den Kindern die Decke auf den Kopf fällt, in der gewohnten Umgebung, in der sie wissen, wohin rennen und wie sich verhalten, sind sie am besten aufgehoben. Dort ist ihre Sicherheit am besten gewährleistet, und die hat nun einmal absoluten Vorrang. Somit wollen wir einige Tage abwarten, um zu sehen, wie sich die Lage entwickelt. Dass wir aber mit den Kindern wegfahren müssen und auch werden, steht außer Frage, nur der Zeitpunkt und das Ziel dieser Verschnaufpause steht noch nicht fest.

Einstweilen haben wir somit die Aufgabe, für noch mehr Kurzweil zu sorgen, d.h. Spiele zu spielen, die möglichst interessant und herausfordernd sind, Geschichten vorzulesen und Filme zu zeigen, die ablenken und die Zeit verstreichen lassen, aber auch in unserer Halle physische Aktivitäten für kleinere Gruppen (um zu gewährleisten, dass alle rechtzeitig in den Schutzräumen sind) anzubieten, so dass ein Ausgleich für das Herumsitzen in den Wohngruppen geschaffen wird. Selbstverständlich kommen auch Clowns, Geschichtenerzähler, Sänger etc. zu kleineren Aufführungen als Ehrenamtliche in unsere Gruppen, aber wir nehmen zugleich auch die professionellen Dienstleistungen solcher und anderer Personen in Anspruch, um das Programm möglichst bunt und vielfältig zu gestalten. Zugleich macht sich in Neve Hanna bemerkbar, dass alle MitarbeiterInnen Überstunden leisten. Die Betreuung der Kinder ist nicht nur arbeitsintensiver als normal, hinzu kommen darüber hinaus die Nächte und auch die Tatsache, dass Betreuer in den Reservedienst berufen wurden. Erwähnen möchten wir auch explizit, dass die Freiwilligen aus Deutschland, die ohnehin vor dem Ende ihres Dienstjahres in Neve Hanna sind, alle wunderbar mit anpacken und nach besten Kräften helfen. Wenige sind bisher unmerklich früher als ohnehin geplant abgereist. Wir müssen anfangen, auch im Hinblick auf das Arbeitsaufkommen an Übergangslösungen zu denken, um unsere Mitarbeiter zu entlasten.

All das wird ins Budget schlagen, so wie auch beispielsweise die höheren Stormrechnungen (für permanent laufende Klimaanlagen, weil man nur drinnen sitzen kann) und massiv steigende Fahrtkosten, da Mitarbeiter vor Ort unabkömmlich sind und keine Fahrten mit unseren eigenen Autos übernehmen können. Hinzu kommt, dass die Bäckerei keine Produkte herstellt und vermarktet. Alle Angestellten haben Kinder, Zuhause keine Schutzräume und müssten gefährliche Wege bewältigen. Sie bleiben unterdessen Zuhause und bei ihren Familien, einmal ganz abgesehen davon, dass die Lieferfahrten uns u.a. ausgerechnet in Gebiete führen würden, die massiv von Raketeneinschlägen betroffen sind.

Wir werden Sie weiterhin auf dem Laufenden halten, bedanken uns für die vielen schriftlichen Zusprüche und Deine/Ihre Freundschaft,

Antje C. Naujoks
Beauftragte für Öffentlichkeitsarbeit

Neve Hanna Kinderhilfe e.V.
vorstand@nevehanna.de

Postbank Hamburg, IBAN: DE39200100200303600204, BIC: PBNKDEFF

 

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email