„Man hat gewaltbereite Antisemiten gewähren lassen“
Ein Interview mit Daniel Neumann

ECHO: Herr Neumann, gibt es in Deutschland einen neuen Antisemitismus?
Daniel Neumann: Der Antisemitismus, der sich zurzeit explosionsartig entlädt, ist nicht neu. Das Gedankengut, die Vorurteile und der Hass dahinter sind schon lange da. Aber es gibt eine neue Qualität des Antisemitismus.

ECHO: Worin besteht diese?
Neumann: Darin, dass Antisemitismus unverblümter geäußert wird. Wir werden nicht mehr unter dem Deckmantel "Israeli" oder "Zionist" angegriffen, sondern eindeutig als Juden. Zudem entlädt sich der Antisemitismus viel schneller als bisher in Gewalt. Ob es bei den Demonstrationen zurzeit bei antisemitischen Parolen bleibt oder Gewalt angewendet wird, hängt oft nur davon ab, ob Menschen in der Nähe sind, die als jüdisch identifiziert werden, etwa, indem sie eine Kippa tragen. Wenn das der Fall war, gab es gewalttätige Übergriffe oder zumindest den Versuch dazu. Das ist eine neue Qualität, die wir in diesem Ausmaß noch nicht erlebt haben.

ECHO: Erleben Mitglieder der jüdischen Gemeinden hier in der Region Bedrohungen oder Gewalt?
Neumann: Außerhalb von Demonstrationen hat es noch keine körperlichen Bedrohungen gegeben. Ich führe das darauf zurück, dass Juden nicht immer als Juden erkennbar sind. Ich hätte mich nicht getraut, an der Demonstration in Darmstadt am Freitag vor einer Woche vorbeizulaufen, wenn ich als Jude erkennbar gewesen wäre. Volksverhetzende Äußerungen und eine entsprechend aufgeheizte Stimmung gab es auch bei dieser Veranstaltung. Rabbiner jedenfalls haben momentan Sorge, auf die Straße zu gehen.

ECHO: Ist der Schutz jüdischer Einrichtungen verstärkt worden?
Neumann: In Frankfurt hat die Polizei den Schutz der jüdischen Einrichtungen verstärkt. Aber erst, nachdem sie bei der Demonstration am 12. Juli komplett versagt hatte.

ECHO: Damals standen rund 50 Polizisten etwa 2500 Demonstranten gegenüber, die offenbar überforderte Polizei hat den Anheizern sogar noch das Megafon überlassen.
Neumann: Und die haben dann Parolen wie "Kindermörder Israel" gebrüllt. Bei einer weiteren Demonstration hat die Polizei dann nicht erlaubt, dass sie in der Nähe der Westend-Synagoge stattfindet. In Kassel hat die jüdische Gemeinde kürzlich den Religionsunterricht ausfallen lassen, weil in unmittelbarer Nähe eine Demonstration stattfand.

ECHO: Wie erklären Sie sich die aktuelle Entwicklung?
Neumann: Sie hat mit einer verbalen Enthemmung von Führern in der islamischen Welt zu tun, des türkischen Premiers Erdogan zum Beispiel oder des ehemaligen Präsidenten Ahmadine-dschad in Iran. Arabische Sender transportieren das via Satellit auch nach Deutschland. Man kann sich hier gar nicht vorstellen, welche Propaganda da betrieben wird: Juden als Kindermörder, Israel als Krebsgeschwür dieser Welt. Das heizt auch hier die Stimmung an. Ein weiterer Grund: Der ganze Nahe Osten ist in Bewegung, die arabischen Länder geraten untereinander zunehmend in Konflikte, es gibt Bürgerkriege. In einer solch unübersichtlichen Situation sucht man sich verlässliche Feindbilder. Und das klassische Feindbild waren eben schon immer die Juden.

ECHO: Welche Rolle spielt die Situation von vielen Migranten in europäischen Ländern? Mangelnde Integration, keine guten Chancen auf Bildung und zu wenige qualifizierte Jobs?
Neumann: Auch das ist eine von vielen Ursachen für die jetzige Situation. Man kommt mit den eigenen Problemen, vielleicht auch dem eigenen Versagen, nicht zurecht und sucht nach einem Sündenbock. Dafür sind Jugendliche auch hier anfällig, insbesondere wenn sie merken, dass sie hier noch nicht so gut Fuß gefasst haben und keine ausreichende Anerkennung erfahren.

ECHO: Yakov Hadas-Handelsman, Israels Botschafter in Deutschland, hat die aktuelle Situation mit 1938 verglichen. Sehen Sie diese Parallele auch?
Neumann: Ich halte mich mit Vergleichen, die die Nazi-Zeit betreffen, gerne zurück. Für mich sind das Ereignisse, die man nicht vergleichen kann. Wir leben in einer aufgeklärten Gesellschaft mit ganz anderen Einstellungen als damals. Fakt ist aber: In Deutschland ist es im Jahr 2014 wieder möglich, dass Judenhass und antisemitische Parolen auf den Straßen verbreitet werden, ohne dass Polizei und Politik entsprechend eingreifen.

ECHO: Politiker haben inzwischen reagiert, etwa Bundespräsident Gauck und Kanzlerin Merkel.
Neumann: Ja, wenn auch etwas zeitverzögert. Der Zentralrat der Juden in Deutschland und andere jüdische Organisationen warnen seit Jahren. Vor dem riesigen Gewaltpotenzial unter Jugendlichen türkischer und arabischer Herkunft, vor dem ausgeprägten muslimischen Antisemitismus, vor dem großen Hetz- und Gewaltpotenzial bei Linksextremen, das sich jetzt mit muslimischem Antisemitismus verbindet, vor Rechtsextremen unter den Demonstranten. Hätte man auf diese Warnungen gehört, wäre man vielleicht auf solche Ausbrüche wie jetzt besser vorbereitet gewesen. Aber man hat die gewaltbereiten Antisemiten gewähren lassen und so ein falsches Signal gesendet.

ECHO: Die Politiker-Äußerungen der vergangenen Tage reichen also nicht aus?
Neumann: Nein, es reicht nicht aus, wenn man das, was man in Sonntagsreden ohnehin schon kundtut, jetzt wiederholt. Die Äußerungen von Politikern sind ein Signal an uns und auch an die Demonstranten, dass man Antisemitismus in Deutschland nicht mehr akzeptieren will. Und das ist auch wichtig. Aber es muss auch umgesetzt werden. Das heißt: Ich muss mich zum Beispiel darauf verlassen können, dass Polizei und Sicherheitsbehörden gewährleisten, dass bei Demonstrationen kein Hass verbreitet wird, dass keine volksverhetzenden Reden gehalten werden und dass es nicht zu Gewaltausbrüchen kommt.

ECHO: Was erwarten Sie von der Polizei?
Neumann: Sie müsste solche Demonstrationen im Notfall auflösen. Wenn die Veranstalter nicht in der Lage sind, sich eindeutig von Fundamentalisten und Extremisten zu distanzieren oder sie im Zaum zu halten, dann muss es die Polizei tun.

ECHO: Müssen sich muslimische Verbände stärker einmischen?
Neumann: Aiman Masyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, hat gesagt, dass Antisemitismus innerhalb dieser Demonstrationen und auf deutschen Straßen absolut nichts zu suchen hat. Das war für mich eine klare, eindeutige und positive Erklärung, auch wenn seine Organisation nur einen überschaubaren Teil der Muslime in Deutschland vertritt.

ECHO: Gibt es auf kommunaler oder auf Landesebene zurzeit Kontakte zwischen jüdischen und muslimischen Organisationen, die zur Deeskalation beitragen können?
Neumann: Es gibt Kontakte vor allem auf lokaler Ebene. Ich habe aber den Eindruck, dass sich die muslimischen Organisationen den Antisemitismus in ihren Reihen nicht eingestehen. Das wäre aber nötig, um zu deeskalieren und Gegenstrategien zu entwickeln. Stattdessen sagt man: Das sind nur einige Radikale, mit denen wir ohnehin nichts zu tun haben.

ECHO: Sind Kontakte geplant?
Neumann: Wir würden uns angesichts der aktuellen Ereignisse über ein positives Signal freuen. Wir wären auch durchaus bereit, gemeinsam auf die Straße zu gehen, wenn unsere Sicherheit gewährleistet wäre. Daran zweifle ich momentan allerdings. Wenn man eine aufrichtige Friedensdemonstration organisiert, kann man davon ausgehen, dass man die Juden an seiner Seite hat.

ECHO: Wie würde sich das mit der Position vertragen, Israel müsse sich verteidigen können, notfalls auch mit einer Offensive wie jetzt in Gaza?
Neumann: Ja, diese Position gibt es in der jüdischen Gemeinde. Es gibt eine starke Solidarität mit Israel. Es bricht uns aber genauso das Herz, wenn man die Bilder der Toten und der Familien in Gaza sieht, deren Häuser zerstört wurden und die jetzt mit ihren Kindern auf der Straße stehen. Dennoch dürfen Ursache und Wirkung nicht verkehrt werden: Aus meiner Sicht sind die Terroristen der Hamas die Ursache des Problems, die sich hinter Zivilisten verstecken und Israel mit einem Raketenhagel überziehen.

ECHO: Das klingt nicht so, als könne es gemeinsame Demonstrationen von Juden und Muslimen geben.
Neumann: Doch, das glaube ich schon. Wenn ich anderer Meinung bin, heißt das doch nicht, dass ich diesen Konflikt weiterführen möchte. Ich kann durchaus die Vision eines friedlichen Nahen Ostens haben und trotzdem der Meinung sein, dass Israel in der aktuellen Situation richtig handelt.

ECHO: Müsste die deutsche Zivilgesellschaft stärker auf die Demonstrationen reagieren?
Neumann: Ich würde es mir wünschen. Vor allem aber wäre wichtig zu begreifen: Antisemitismus ist nicht nur ein Problem der Juden. Eine Gesellschaft, die Antisemitismus zulässt, bietet Menschen ein Podium, die anti-demokratische, anti-rechtsstaatliche und verfassungsfeindliche Gesinnungen transportieren. Das kann zum Problem werden.

Daniel Neumann ist seit 2006 Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen und seit 2008 Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde in Darmstadt. Der vierzigjährige Rechtsanwalt ist in Jugenheim geboren.

Echo-Online, 26.7.2014

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