Nahostkonflikt und Judenhass
von Daniel Neumann

Seit Wochen werden die Topmeldungen der Tageszeitungen und Nachrichtensendungen von einem Thema dominiert: Dem Wiederaufflammen des Nahost-Konflikts.

Nun haben wir Juden mit all den internationalen, nationalen und lokalen antisemitischen Eruptionen, die uns mit steter Regemäßigkeit heimsuchen, eigentlich schon genug zu tun. Sei es die zumindest in Teilen durch bösartigen Antisemitismus bestimmte Beschneidungsdebatte oder die stets wiederkehrenden niederträchtigen Manifestationen hiesigen Judenhasses etwa durch die Schändung jüdischer Friedhöfe oder die körperlichen Übergriffe auf Rabbiner in Berlin und Offenbach. Sei es der kaltblütige Mord an jüdischen Schulkindern in Toulouse im Jahr 2012 oder der jüngste Anschlag in einem jüdischen Museum in Brüssel im Mai dieses Jahres, dem 4 Menschen zum Opfer fielen.

Obwohl es sich dabei nur um einige ausgewählte Beispiele handelt, vermögen sie doch einen Eindruck davon zu vermitteln, welchen Gefahren jüdisches Leben im Jahr 2014 ausgesetzt ist.

Und als ob diese Bedrohungen durch rechte, linke und muslimische Antisemiten nicht schon genug wären, erleben wir alle Jahre wieder eine schlagartige Zunahme antiisraelischer und antijüdischer Ausfälle, nämlich immer dann, wenn der Nahostkonflikt eskaliert.

Es ist, um es mit den Worten unserer christlichen Mitstreiter zu sagen, so sicher wie das Amen in der Kirche: Sobald der Dauerkonflikt zwischen Israel und den Palästinensern oder genauer, der Terrororganisation Hamas, eskaliert, stürzen sich die hiesigen Medien mit einer irritierenden Obsession darauf. Doch nicht nur die Medien scheinen von dieser Krise regelmäßig wie elektrisiert: Bei keiner anderen Konfrontation treibt es so viele Demonstranten auf die Straße, wie bei dem Aufwallen des Nahostkonflikts. Und bei keiner anderen Auseinandersetzung wird der Schuldige so schnell ausgemacht, so hart attackiert und so drastisch geschmäht, wie der Staat Israel, sobald dieser militärisch agiert.

Was allerdings seit dem aktuellen Ausbruch des Gazakonflikts auf europäischen und deutschen Straßen vor sich geht, lässt selbst Hartgesottene blass werden.

Landauf, landab wurden sogenannte Friedensdemonstrationen dazu missbraucht, gegen Juden zu hetzen. In einer Form und einer Deutlichkeit, die auch dem letzten Wohlmeinenden unmissverständlich klar machen musste, dass die Begriffe Israel, Zionist und Jude in vielen Fällen synonym verwandt wurden. Denn während man sich bei früheren Demonstrationen wenigstens noch pro forma bemühte, Abneigung und Hass nur gegen Israel und die sogenannten Zionisten zu artikulieren und mühsam eine Abgrenzung zu den in aller Welt lebenden Juden zu konstruieren, kämpfte man diesmal mit offenem Visier, brachen diesmal alle Dämme.

Zwar gab es hier und da sicher gute Absichten. Gab es bestimmt auch aufrichtige Demonstranten, die für Frieden in der Region auf die Straße gingen und die Stimme erhoben, um dem Sterben Unschuldiger ein Ende zu bereiten. Und selbst dann, wenn die Sehnsucht nach Frieden nicht die wahre Motivation war, sondern die Kritik an Israel im Vordergrund stand, ist in einer Demokratie auch der unreflektierte und einseitige Vorwurf an eine Konfliktpartei, also meist Israel, im Rahmen der grundgesetzlich gewährleisteten Meinungsfreiheit selbstverständlich zulässig. Die oft undifferenzierte und maßregelnde Kritik an Israel mag uns zwar schmerzen, sie ist aber nicht unbedingt und automatisch als antisemitisch einzustufen und muss in einem demokratischen Rechtsstaat nun einmal hingenommen werden.

Doch das, was wir in diesen Wochen im Rahmen von Pro-Gaza, Anti-Israel oder sogenannten Friedensdemonstrationen erleben mussten, war weit entfernt von Äußerungen, die noch von dem Grundrecht der Meinungsfreiheit hätten gedeckt werden können. Es war schauderhaft und verstörend. Die meist arabisch- oder türkischstämmigen Demonstranten sahen sich in ihrer Aversion gegen Israel und Juden in vielen Fällen von Links- und Rechtsextremen flankiert. Zahlreiche Demonstranten in den unterschiedlichsten deutschen Städten waren von abgrundtiefem Judenhass getrieben und scheuten auch vor gewalttätigen Übergriffen nicht zurück. Volksverhetzende Parolen wie „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“, Vernichtungsaufrufe gegen Israel, judenfeindliche Transparente und antijüdische Hetze begleiteten fast jede Demonstration in den letzten Wochen.
Ein paar Beispiele gefällig? Bitte schön:

In Frankfurt am Main standen etwa 2500 Demonstranten 50 Polizisten gegenüber, die dem aufgebrachten und aggressiven Mob, der durch antiisraelische und antijüdische Hetze aufgefallen war, schließlich zur Deeskalation das Mikrofon eines Einsatzfahrzeugs zur Verfügung stellten,

woraufhin dieses zur Verbreitung von Hetzparolen missbraucht wurde. Zuvor war die Lage bereits eskaliert und die Polizeibeamten waren mit Steinen und Flaschen attackiert worden. Eine Synagoge wurde außerdem mit antijüdischen Sprüchen beschmiert.

In Kassel musste die Jüdische Gemeinde aus Angst um die Sicherheit der Kinder den Religionsunterricht absagen, da ein Demonstrationszug von 2000 Personen in unmittelbarer Nähe der Synagoge startete und die angeblich hehren Absichten der Veranstalter bereits entlarvt wurden, wenn man sich nur die antijüdischen Einträge auf der begleitenden Internetseite angeschaut hatte. Auch dort hatten die personell unterrepräsentierten Sicherheitskräfte große Mühe, die wegen einer Gruppe von 90 Pro-Israel-Demonstranten aufgebrachte und aggressive antisemitische Meute von körperlichen Übergriffen abzuhalten. So blieb es bei massiven verbalen Beschimpfungen, Schmähungen und Bedrohungen.

In Göttingen spielten sich regelrechte Jagdszenen ab, als die Teilnehmer einer Pro-Gaza-Demo auf eine kleine Gruppe von Menschen traf, die ihre Solidarität mit Israel ausdrücken wollten. Nachdem die Israelfreunde als „Kindermörder“ und „Judenschweine“ beschimpft worden waren, durchbrachen Gaza-Demonstranten die Polizeikette und attackierten die friedliche Gruppe mit Faustschlägen und Fußtritten. Als diese versuchten der Gewalteskalation zu entkommen, verfolgten die Gaza-Demonstranten sie quer durch die Fußgängerzone.

In Bremen wurde während eines Spontanprotestes von 150 Personen ein Fotograf der Tageszeitung TAZ attackiert. Bei dem Versuch, sich schützend vor ihn zu stellen, wurde ein Passant niedergeschlagen und so schwer verletzt, dass er mehrere Tage auf der Intensivstation verbringen musste. Aus der Menge waren Rufe wie „Scheiss Juden“ zu hören.

In Essen wurden 14 Personen festgenommen, die verdächtigt wurden, einen Anschlag auf die alte Synagoge geplant zu haben.

In Berlin eskalierte eine pro-palästinensische Kundgebung. Nachdem man dort zunächst mit dem Hitler-Gruß und den Rufen „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“ auf sich aufmerksam gemacht hatte, drohte die Lage gänzlich außer Kontrolle zu geraten, nachdem der aufgestachelte Mob einen Mann mit Kippa und dessen Frau erblickte,

die demzufolge also jüdisch sein mussten. Einige Demonstranten durchbrachen die zum Schutz des Ehepaars gebildete Menschenkette der Polizei und versuchten das Ehepaar mit Rufen wie „Scheißjuden, wir kriegen Euch“ oder „Wir bringen Euch um!“ zu attackieren. Schließlich gelang es den Polizeibeamten, das jüdische Paar in Sicherheit zu bringen. Auch ein Angriff auf drei Fotografen einer Presseagentur konnte von der Polizei nur mit Mühe verhindert werden. Und nur wenige Tage später wurde einem jungen Juden unter Beschimpfungen die Brille von der Nase geschlagen und beschädigt. Er floh in eine nahegelegene Synagoge.

In Darmstadt brachte der Veranstalter einer Solidaritätsdemonstration für Israel die derzeitige Lage mit seinen Schlussworten unabsichtlich auf den Punkt, indem er anmerkte, dass die Teilnehmer mit Blick auf eine in der Nähe stattfindende Pro-Palästina-Demonstration bitte alle Fahnen, Davidsterne oder Kippot, also jüdische Kopfbedeckungen, einpacken sollten, um ihre eigene Sicherheit nicht zu gefährden und nicht angegriffen zu werden.

Das ist die deutsch-jüdische Realität im Sommer 2014.
Dabei kann es nur wenig trösten, dass die Übergriffe etwa in Frankreich noch gewalttätiger verliefen als hier zu Lande.
Fest steht, dass der aufflammende Nahostkonflikt eben jener Tropfen war, der die antisemitische Giftmischung, die bereits die Hirne zahlloser muslimischer sowie rechter oder linker Radikaler vernebelt hatte, zum Überlaufen brachte.
Und obwohl inzwischen neben der Bundeskanzlerin und dem Bundespräsidenten auch zahlreiche weitere Politiker klar gegen die judenfeindlichen Ausfälle Stellung bezogen haben; und obwohl dies ein unmissverständliches Zeichen zum Widerstand gegen Antisemiten und zugunsten der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ist, bleiben doch erhebliche Zweifel über die Reichweite und die Durchschlagskraft solcher Erklärungen.

Wir werden sehen, ob den gebetsmühlenartig wiederholten Warnungen jüdischer Spitzenorganisationen endlich Gehör geschenkt wird. Ob die Sicherheitsbehörden in Zukunft besser auf gewalttätigen Antisemitismus aus der Mitte unserer Gesellschaft vorbereitet sind. Ob Judenhass, ganz gleich ob er sich als rechter, linker oder muslimischer Antisemitismus offenbart und der uns Juden kollektiv ins Visier nimmt, konsequent bekämpft wird.

Ob volksverhetzende und strafwürdige Hassparolen aus der Mitte derartiger Demonstrationen und Kundgebungen tatsächlich unterbunden werden und die Möglichkeiten des Straf- und Versammlungsrechts auch kompromisslos eingesetzt werden. Und ob die Ursachen dieser judenfeindlichen Einstellungen endlich klar benannt und schonungslos aufgedeckt werden, selbst wenn dadurch manch romantische, multikulturelle Träumerei Risse bekommt.
Erst und nur dann wird es möglich sein, sinnvolle Gegenstrategien zu entwickeln und dem Judenhass in unserer Gesellschaft Einhalt zu gebieten.

Andernfalls steht zu befürchten, dass das, was wir in den letzten Wochen auf unseren Straßen erleben mussten, erst der Anfang war. Und an diesen Gedanken, möchte ich mich jedenfalls nicht gewöhnen müssen.

Der Autor ist Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen

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