Antijudaismus im 19. Jahrhundert:
Konservatismus und völkischer Antisemitismus

von Klaus-Peter Lehmann

Allgemeines
Als konservativ gelten die Einstellungen zum Judentum, welche den Juden die Gleichberechtigung verweigern und sie von der Gesellschaft weiterhin segregieren wollen, obwohl Emanzipationsgesetze überall eine neue Rechtslage geschaffen hatten. Die Konservativen strebten danach, für die jüdischen Bürger eine Art neuzeitliches Ghetto zu errichten. Die verschiedenen Facetten konservativer antijüdischer Ideologien zeigten sich schon bei der ersten Abwehrreaktion gegen die Emanzipationsedikte zurzeit der Romantik. Sie kamen im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit zunehmender Aggressivität zum Tragen. Zunächst war es die Idee einer christlichen Nation, in die sich die Juden nie hereinfinden würden. Dann der völkische Wahn, demzufolge Germanen und Juden unmöglich zusammenleben können, weil ihre Charaktereigenschaften sich nicht vertragen. Der aggressiver werdende Antisemitismus steigerte sich gegen Ende des Jahrhunderts zum Rassismus, dessen Handlungsoptionen auf Vertreibung oder Vernichtung hinausliefen und politisch in den rechtsextremen Nationalismus bzw.  in den Nationalsozialismus übergingen.  (1)

Die Idee vom christlichen Staat
Seit der Romantik herrschte im Bürgertum Deutschlands ein Staatsbegriff, der sich dem Republikanismus des revolutionären Frankreich bewusst entgegensetzte. Nicht eine gerecht verfasste Bürgergesellschaft galt als Ziel und Inhalt staatlichen Wirkens, sondern die Formung der Gesellschaft nach moralischen Gesichtspunkten. Das Christentum wurde weithin als der höchste Ausdruck moralischer Lebensform angesehen. Demnach konnte der Staat ohne die Kirche nicht sein. In dieser Grundanschauung von Gesellschaft, die Liberale und Konservative teilten, waren Juden nicht vorgesehen.
Die Liberalen jedoch hielten am Gedanken menschheitlicher Gleichheit und gesellschaftlicher Gleichberechtigung fest und meinten, Juden müssten sich aus ihrer primitiven Religion emanzipieren und langsam zu vollwertigen Bürgern reifen. (So sahen es auch viele assimilierte Juden.) Die Konservativen gingen von der Ungleichheit unter den Menschen aus und hielten eine mindere gesellschaftliche Stellung der Juden für angemessen.
In den 1840er Jahren mehrten sich Publikationen, die sich mit dem Status der Juden in einem christlichen Staat befassten. H. E. Marcard schrieb Über die Möglichkeit der Juden-Emancipation im christlich-germanischen Staat. Für ihn bildeten christliche Religion und germanische Herkunft eine geschlossene Einheit, zu der es für die Juden wegen ihrer fremden Herkunft und Religion keine Brücke geben könne.
Eine typisch konservative vertrat auch der jüdische Konvertit Friedrich Julius Stahl (1802-1861). Er war ein einflussreicher politischer Philosoph, Mitglied des preußischen Oberhauses und Vordenker der Konservativen Partei. Als überzeugter Protestant betrachtete er das Christentum als unabdingbare Grundlage der deutschen Kultur. Sein Werk Der christliche Staat und sein Verhältnis zu Deismus und Judenthum erschien im Jahr 1847. Stahl reagierte damit auf die Debatten des Vereinigten Landtages über den Status der Juden. Es ging darum, die uneinheitliche und gegensätzliche Gesetzgebung in den preußischen Provinzen zu beenden. Die Liberalen schlugen vor, den Juden nicht mehr bestimmte Rechte zuzuteilen, sondern dass die Bürgerrechte für alle unbeschadet ihrer Religionszugehörigkeit gültig sind. Damit wurde aus konservativer Sicht die Idee des christlichen Staates angegriffen. Um sie zu verteidigen schrieb Stahl sein Buch. Er erachtete es als übereinstimmend mit der Vernunft, wenn der Staat durch das Christentum geformt werde. Dieses sei der göttliche Ausdruck moralischer Ideen. Juden und Deisten könnten demzufolge keine obrigkeitlichen Funktionen übertragen werden. Aktives staatliches Handeln dürfe nur Christen zukommen. Als Teil der passiven Bevölkerung aber hätten Juden und Deisten dieselben Rechte wie Christen.
Diese und ähnliche Auffassungen dienten als Rechtfertigung dafür, die Juden weiterhin als Bürger zweiter Klasse zu betrachten. Mit dem Schlagwort vom christlichen Staat stellte sich ein Großteil der christlich-bürgerlichen Eliten gegen die politische und soziale Gleichberechtigung der Juden.

Die Wirtschaftskrise 1873
Als der vom siegreichen Krieg gegen Frankreich ausgelöste Wachstums- und Spekulationsboom der deutschen Wirtschaft (1871-73) zusammenbrach und die große Depression der Bismarckjahre, die bis 1896 dauerte, begann, waren große Teile der Gesellschaft sich ganz plötzlich darin einig, in den Juden die Schuldigen für die Misere gefunden zu haben. Quasi über Nacht waren die Juden zu Sündenböcken abgestempelt. Ein Schlagwort ging um: 90% der Gründer und Makler sind Juden. Auch die Liberalen wurden als „jüdisch“ beschimpft. Die Konservativen gingen mit einem völkisch grundierten Antisemitismus in die politische Offensive, suchten beim enttäuschten Kleinbürgertum nach Verbündeten und machten Front gegen Bismarcks Zusammenarbeit mit den liberalen Parteien, gegen seine Judenpolitik und gegen den jüdischen Liberalismus. In diesem Ungeist diffamierte auch die katholische Presse den Kulturkampf stereotyp als Krieg des Judentums gegen das Christentum.
Solange wie Graf Bismarck das einzig mächtige Idol bleibt, solange wird das deutsche Volk dem Reich geopfert werden und das Reich dem Kanzler – und der Kanzler gehört den Juden und Spekulanten. Darum gibt es für unsere Politik nur den einzigen unvermeidlichen Weg: die Auslöschung des jetzigen Systems und seiner Träger.  (2)

Die Wahnidee vom Judentum als Weltmacht
Die neue antisemitische Bewegung griff nicht nur „Bismarcks Judenregiment“ an, sondern sie nahm auch das Judentum als ganzes ins Visier. Hier war die Wahnvorstellung vom Judentum als alle Kultur bedrohende Finanz-Weltmacht leitend. Zwei viel gelesene Autoren taten sich besonders hervor.
Der eine ist Otto Glagau: Nicht länger dürfen wir’s dulden, daß die Juden sich überall in den Vordergrund, an die Spitze drängen, überall die Führung, das große Wort an sich reißen. Sie schieben uns Christen stets beiseite, sie drücken uns an die Wand, sie benehmen uns die Luft und den Atem. Sie führen tatsächlich die Herrschaft über uns… Die ganze Weltgeschichte kennt kein zweites Beispiel, daß ein heimatloses Volk, eine physisch wie psychisch entschieden degenerirte Race blos durch List und Schlauheit, durch Wucher und Schacher über den Erdkreis gebietet.  (3) 
Der andere Autor ist Wilhelm Marr. Ihm geht es darum, mit einem angeblichen Vorurteil aufzuräumen. Die Juden seien nämlich keine schwache Minderheit, sondern eine Weltmacht, die es nach 1800 Jahre langem Kampf mithilfe ihrer rassischen Eigenschaften dazu gebracht habe, im 19. Jahrhundert die erste Großmacht des Abendlandes und der sozialpolitische Diktator Deutschlands zu sein. Es sei unsinnig Juden zu hassen. Ein weltgeschichtliches Fatum habe es gemacht, dass Juden und Germanen gleich Gladiatoren der Kulturgeschichte einander in der Arena gegenüberstehen. Diesen Kampf auf Leben und Tod hätten die Juden als Sieger ohne Schwertstreich schon quasi gewonnen. Nur ein letzter mit aller Macht geführter Gegenstoß könne noch eine Wende bringen. In Deutschland müsse es zu einer Katastrophe kommen, weil die empörte Volksleidenschaft, der Ingrimm gegen die Verjudung der Gesellschaft, zu einer Explosion dränge. Die von Marr begründete Publikation Deutsche Wache begann 1879 mit ihrem Feldzug gegen die Juden. Sie rief die Rede vom Antisemitismus ins Leben. Im selben Jahr eröffnete die Antisemiten-Liga, später in Deutscher Reformverein umbenannt, ihre Agitation. Das deutsche Volk müsse sich von der Unterwerfung unter das jüdische Börsen- und Pressemonopol befreien. Das Bismarck-reich nannte Marr Neu-Palästina. Bismarck und die Nationalliberalen hätten mit den Emanzipationsgesetzen die jüdische Fremdherrschaft zementiert.

Die Berliner Bewegung
Innerhalb weniger Jahre wurde die sogen. Judenfrage vor allem in Berlin immer häufiger zum Thema in Zeitungen und Versammlungen. Man spricht von der Berliner Bewegung. Der Antisemitismus trat bis dahin vor allem als demagogische Waffe des sich bedroht fühlenden Kleinbürgertums auf. Nun aber äußerte er sich immer offener auch in Kreisen des konservativen und liberalen Bürgertums. Der Antisemitismus fand Einlass in alle bürgerlichen Parteien, die ihn im Kampf gegen die erstarkte Arbeiterbewegung einsetzten. In deren antisozialistischer Demagogie übernahm er die Funktion, von den realen Ursachen der ökonomischen Krisen und des sozialen Elends auf einen Sündenbock abzulenken, um die sozialdemokratische Aufklärung zu neutralisieren. Der Publizist Otto Glagau schrieb: Als fremder Stamm steht es (das Judentum) dem Deutschen Volk gegenüber und saugt es aus. Die soziale Frage ist wesentlich Gründer- und Judenfrage, alles Übrige ist Schwindel.
Besonders zwei Ereignisse im Herbst 1879 waren es, die aus der seit 1873 gärenden antijüdischen Stimmung eine Art Volksbewegung machten.

Adolf Stoecker
In diesem Sinne versuchte A. Stoecker, Hofprediger und Leiter der Berliner Stadtmission, mit seiner 1878 gegründeten Christlich-Sozialen Arbeiterpartei die sozialdemokratische Arbeiterschaft zu spalten und für Kirche, Kaiser und Reich zu gewinnen. Als dieses Vorhaben fehlschlug, orientierte Stoecker seine Partei auf die Mittelschichten und gliederte sie bald in die Deutsch-Konservative Partei ein.
Am 19. September 1879 sprach A. Stoecker über Unsere Forderungen an das moderne Judentum. Diese Rede verschlug dem politischen Leben Berlins den Atem.  (3)  In der Tat erscheint mir das Judentum eine große Gefahr für das deutsche Volksleben. Sie komme vom orthodoxen Judentum,  denn sie sei eine verkümmerte Form von Religion, eine niedrigere Offenbarung, ein überlebter Geist. Da sie sich erwählt glauben, beanspruchen sie gesellschaftliche Stellungen auf Kosten von Christen. Das sei aber nichts anderes als eine arrogante Usurpation. Der Erfolg von Stoeckers Reden, der Berliner Versammlungen, war aufsehenerregend. Immer wieder war ihr Thema Die Judenfrage.
Wir sind nicht schuld, die Nationen sind nicht schuld, wenn sie sich gegen die Juden erheben, sondern die Juden sind schuld, wenn sie die Nationen bis aufs Blut reizen. – Wir wollen die Judenfrage auf der Tagesordnung halten ganz ruhig, besonnen und maßvoll, aber mit der unbeugsamen Energie, welche jeder christliche Deutsche in seinem Innersten trägt, bis wir mit Gottes Hilfe unser Ziel erreicht haben. Stoeckers Versammlungen endeten regelmäßig mit: Deutschland, Christenvolk, ermanne dich, wach auf! Töne aus den Befreiungskriegen mischten sich hier mit national-christlicher Erweckungsromantik und wilhelminischem Nationalismus.
Stoeckers demagogische Reden malten immer wieder die Weltgefahr unter einem diabolischen Judenjoch an die Wand. Deshalb sei es unser gutes Recht, wenn wir den Juden den Kampf anbieten bis zum völligen Siege… und sie von ihrem Postament herunterstürzen in den Staub, wohin sie gehören. Im Vergleich zu diesen Bildern, die einen weltgeschichtlichen Endkampf gegen das Judentum heraufbeschwören, nehmen sich seine politischen Forderungen, wie der Ausschluss der Juden von staatlichen Ämtern, unverhältnismäßig bescheiden aus. Rudolf Virchow bemerkte dazu, man müsse vor dem Ende von Stoeckers starken Hetzreden immer glauben, er werde wirklich die Vernichtung der Juden fordern, bevor er am Schluss seine Zuhörer mit einer schwachen Forderung enttäusche.  (4) 

Der Berliner Antisemitismusstreit
Heinrich von Treitschke, angesehener Historiker an der Berliner Universität, veröffentlichte am 15.11.1879 in den Preußischen Jahrbüchern die Erklärung Ein Wort über unser Judentum. Darin charakterisierte er die Berliner Bewegung als ein brutale und gehässige, aber natürliche Reaktion des germanischen Volksgefühls gegen ein fremdes Element. Die ganze Hilf- und Haltlosigkeit der liberal-konservativen Position offenbart sich in diesen Worten. Treitschke war für die Emanzipationsgesetze, forderte von den Juden aber Dankbarkeit und bedingungslose Anpassung ans Deutschtum. Es werde jedoch, wie die Geschichte seit Tacitus zeige, immer eine Kluft bleiben. Das Problem sei, dass der jüdische Volkscharakter die anderen Völker reize, und deshalb seien sie schuld an dem berechtigten Hass, der im Volksgefühl gegen sie aufstehe. Die Emanzipation wird zu einer unlösbaren Crux: Die Juden sind unser Unglück. Dieser Satz wirkte wie ein Fanal und wird für immer mit Treitschkes Namen verbunden bleiben. Er selber unterschrieb die Antisemiten-Petition aber nicht und lehnte die politischen Parteibildungen des völkischen Antisemitismus ab. Trotzdem wurde sein Satz zur Kampfparole im völkischen und rassistischen Lager.
Der Historiker Theodor Mommsen antwortete Treitschke mit einer eigenen Flugschrift Auch ein Wort über unser Judentum. Er kritisierte insbesondere die Ambivalenz von Treitschkes Äußerungen. Sie habe den Ausbruch von Brutalität anständig gemacht, motiviere und legitimiere sie. Der Kappzaun der Scham war abgenommen. Jetzt schlagen die Wogen und spritzt der Schaum.

Jüdische Stimmen
Auch von jüdischer Seite gab es Einreden gegen Treitschke. Sie wandten sich vor allem gegen die vorurteilshafte Verzeichnung der jüdischen Religion. So entgegnete der Religionsphilosoph Hermann Cohen auf die Behauptung, das Judentum sei eine fremde Stammesreligion, die einem Christen nichts geben könne. Der Gott der alttestamentlichen Propheten, deren rigorose Ethik mit der von Kant sachlich übereinstimme, sei unerlässlich für eine reinere Form des Christentums. Auch Cohen bekannte sich als Deutscher, aber nicht im völkischen Sinne, sondern im Sinne der Übereinstimmung von jüdischer Gebotsreligion und deutscher philosophischer Ethik. Für die von Cohen angedeutete konfessionelle Verwandtschaft jüdischer und christlicher Religion gab es damals keinerlei Verständnis.
Gleiches gilt für die von Heinrich Graetz vertretene Einheit von Volk und Religion im Judentum, die er in seinem voluminösen Werk Die Geschichte des jüdischen Volkes darstellte. Graetz, der selber der frühzionistischen Chowewe-Zion-Bewegung anhing, erntete für sein jüdisch-religiöses Nationalbewusstsein auch von Mommsen nur Spott. Treitschke warf ihm Todhass gegen das Christentum und jüdisch-nationalistischen Hochmut vor. Die Anerkennung einer jüdischen Nation plus Emanzipationsgesetze wäre auf eine jüdische Doppelnationalität auf deutschem Boden hinausgelaufen. Eine im völkischen Klima unausdenkbare Idee.

Antisemiten-Petition und Landtagsdebatte
Das zur Parole gewordene Wort Treitschkes, Forderungen wie von Marr oder Moritz Busch, einem publizistischen Mitarbeiter Bismarcks, nach dem Zusammenschluss aller Antisemiten, um die semitischen Eindringlinge zurückzudrängen und die Emanzipationsgesetze zu annullieren sowie die unermüdliche Agitation der wachsenden völkischen Bewegung mündeten 1880 in einer Antisemiten-Petition an den Reichskanzler. Bernhard Förster, der Schwager Friedrich Nietzsches, und Leutnant Liebermann von Sonnenberg hatten sie in Umlauf gesetzt. Sie forderte, Juden von Staatsämtern auszuschließen, separat zu besteuern und ihren Zuzug einzuschränken, da sie wegen der gefährlichen jüdischen Rasseeigentümlichkeiten die Kultur des deutschen Volkes bedrohten.
Die von den Liberalen erwirkte Debatte im Abgeordnetenhaus verlief enttäuschend. Die Regierung erklärte lediglich, eine Änderung des Rechtszustandes sei nicht beabsichtigt. Sie distanzierte sich aber nicht von der antisemitischen Hetze. Auch die Landtagsdebatte zeigte, dass die Mehrheit des Hauses die Petition der Antisemiten nicht verurteilte, aber dennoch angab auf dem Boden der Gleichberechtigung gebietenden Verfassung zu stehen. Freikonservative, Nationalliberale und Sozialdemokraten bezogen keine Stellung. Nur wenige wandten sich gegen die vorherrschende Doppelzüngigkeit, wie Virchow und Heinrich Rickert, der betonte, die Juden seien deutsche Staatsbürger, woraufhin Zurufe ihn unterbrachen: „Juden sind keine Deutschen!“ „Was sind sie dann?“ Ruf: „Juden!“ Das Auftreten Stoeckers erregte peinliches Aufsehen. Auf die Petition angesprochen, antwortete er, er habe sie nicht unterschrieben. Woraufhin ihm seine Unterschrift in einer Zeitung vorgehalten wurde.
Für Berlin war 1880/81 ein Jahr der antisemitischen Volksverhetzung. 250.00 Unterschriften wurden für die Antisemiten-Petition gesammelt. In Russland wüteten Pogrome gegen die Juden und lösten eine Fluchtwelle nach Palästina aus. Gottfried Keller beschrieb hellseherisch das Klima der Zeit. Es sei nur eine dünne Kulturdecke, welche uns von den wühlenden und heulenden Tieren des Abgrunds noch notdürftig zu trennen scheint und die bei jeder gelegentlichen Erschütterung einbrechen kann.  (5) 

Vom Volksfeind zum Rassefeind
Die antisemitische Bewegung erstarkte bis in die 90er Jahren und zog als Antisemitische Volkspartei (später Deutsche Reformpartei) in den Reichstag. Als parlamentarische Kraft versandete sie jedoch schnell, weil kein politisch gestalterisches Ziel sie einte. Wirkungsvoll erwies sich die Bewegung aber im Blick auf die wachsende Segregation der Juden aus dem gesellschaftlichen Leben. Burschenschaften, Verbände und Vereine schmückten sich mit Klauseln, die Juden von einer Mitgliedschaft ausschlossen. Auf diesem Wege sickerte der Antisemitismus als emotionale Grundhaltung quasi in die Adern des deutschen Volkes.
Keine politische Partei fühlte sich zur Bekämpfung des Antisemitismus berufen. Er war für Konservative das ideologische Mittel gegen den erstarkenden Sozialismus. Liberale und Sozialdemokraten meinten, er würde sich wegen seiner geistigen Dürftigkeit und seiner politischen Abwegigkeit sowieso verlaufen. Diese Haltungen waren überheblich und verständnislos. So konnte sich ein antisemitisch-nationalistisches Potential an aggressiven Meinungen und Haltungen ungehindert in der Bevölkerung ansammeln.  
Die nach der Bismarck-Ära immer imperialer werdende Weltpolitik des Kaiserreiches erhöhte nach innen den Druck zu nationaler Geschlossenheit und tendierte zur Unterdrückung und Stigmatisierung abweichender Minderheiten. Pseudowissenschaftliche rassistische Weltanschauungen, die die Völker in höher- und minderwertige Rassen einteilen, gewannen rasant an Boden. Das Judentum wurde für viele zur wurzellosen und parasitären Rasse im Kontrast zum germanischen Heldenmenschen und seiner Bodenständigkeit. So war die nationale Ideologie der Deutschen mit dem Antisemitismus untrennbar verbunden.
Nach dem Ersten Weltkrieg, als der aggressive Rasseantisemitismus gegen die angebliche Judenrepublik von Weimar hetzte und erfolgreich für eine Diktatur des germanischen Herrenmenschen mobilisierte, entlud sich der im 19. Jahrhundert aufgestaute und immer aggressivere Formen annehmende Antisemitismus in seiner mörderischen Destruktivität im deutschen Nationalsozialismus.

 

  1. Folgende Literatur wurde für diesen Aufsatz benutzt: H. Engelmann, Kirche am Abgrund. Adolf Stoecker und seine antijüdische Bewegung, Berlin 1984; W. Jochmann, Struktur und Funktion des deutschen Antisemitismus 1878-1914, in: H. Strauss, N. Kampe (Hrg.), Antisemitismus, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Bd. 213, Bonn 1984, S. 99-142; W. Kampmann, Deutsche und Juden. Die Geschichte der Juden in Deutschland vom Mittelalter bis zum Beginn des ersten Weltkrieges, Frankfurt a.M. 1979; J. Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700-1933, Berlin 1990; P. W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt a.M. 1986.
  2. R. Meyer, politische Gründer und die Corruption in Deutschland, 1877
  3. O. Glagau, Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin, in: Die Gartenlaube, Dezember 1874. Als Buch veröffentlicht 1876.
  4. Virchow bei der Novemberdebatte 1880 im preußischen Abgeordnetenhaus
  5. G. Keller, Brief an M. Lazarus, 20.12.1881

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