Kabbala und Kritische Theorie – Denker in jüdischer Tradition:
Zum 85. Geburtstag von Jürgen Habermas
von Micha Brumlik

In einem Aufsatz zum Deutschen Idealismus der jüdischen Philosophen schreibt ein nichtjüdischer Autor im Jahr 1961: »Darum kann es bei unserem Bemühen nicht mehr um Leben und Überleben von Juden gehen, um Einflüsse hin und her; es geht nur noch um uns selbst. Nämlich für das eigene Leben und Überleben ist das jüdische Erbe aus deutschem Geist unentbehrlich geworden.«

Der Autor dieser Zeilen, Jürgen Habermas, wird heute 85 Jahre alt. Bei Erscheinen des zitierten Aufsatzes war er gerade dabei, sich bei Wolfgang Abendroth, einem linken Professor der Politikwissenschaft in Marburg, mit einer schnell berühmt gewordenen Arbeit über den Strukturwandel der Öffentlichkeit zu habilitieren – nach Jahren als Adornos Assistent am Frankfurter Institut für Sozialforschung.

Habermas war schon früh ein bekannter, provokativer Intellektueller: 1953, im Alter von 24 Jahren, hatte er als Erster die nationalsozialistischen Motive im Werk des Meisterdenkers der frühen Bundesrepublik, Martin Heidegger, skandalisiert.

Nach einer akademischen Zwischenstation in Heidelberg wurde er 1964 Professor für Soziologie und Philosophie in Frankfurt, wo er mit den maßgeblichen Vertretern der freudomarxistischen Kritischen Theorie, den vertriebenen und nach dem Krieg nach Frankfurt zurückgekehrten Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno spannungsreich kooperierte. Seine daraus resultierenden sozialphilosophischen und gesellschaftstheoretischen Arbeiten fanden schnell internationale Anerkennung.

Seiner 1961 geäußerten Überzeugung aber sollte Habermas Zeit seines Lebens treu bleiben: Die jüdische Tradition, das Schicksal der Juden und des Staates Israel beschäftigen ihn bis heute. So hielt er im Mai 2012 an der Hebräischen Universität Jerusalem die »Martin Buber Vorlesung«, erinnerte in der liberalen Tageszeitung Haaretz behutsam an Bubers Programm eines binationalen Staates und setzte sich entschieden für die humanitäre Behandlung nach Israel geflüchteter nichtjüdischer, meist afrikanischer Immigranten ein. Bei alledem war und ist Habermas sich der deutschen Verantwortung gegenüber dem Staat Israel ob der Schoa stets bewusst.

Als Philosoph, der sich bewundernd und doch kritisch mit den Arbeiten von Adorno, Horkheimer, Hannah Arendt und Walter Benjamin auseinandersetzte, wurde ihm zumal der Jugendfreund Benjamins, der in Jerusalem lehrende Kabbalaforscher Gershom Scholem, zu einer prägenden Gestalt, ja zu einem Freund.

In einer 1977 in Jerusalem gehaltenen Rede zu Scholems 80. Geburtstag nahm Habermas Scholems Polemik gegen den Begriff der »deutsch-jüdischen Symbiose« zum Anlass, über sich selbst als Deutschen zu sprechen: »Lassen Sie mich einen Augenblick von ›uns‹, das heißt, von der Generation sprechen, deren geistige Entwicklung nach dem Kriege mit der Erinnerung an die Katastrophe eingesetzt hat. Für uns war Ihre Rede von 1966, in der Sie die tiefen Asymmetrien in den deutsch-jüdischen Beziehungen aufgedeckt haben, ein Schock. Hatten wir nicht soeben in den besten Traditionen, den einzigen, die die Korruption überdauerten, Ströme jüdischer Produktivität erkannt, hatten wir diese nicht zum ersten Mal ohne Vorbehalte anerkannt?«

In dieser Rede deutete Habermas eine Genealogie der eigenen intellektuellen Entwicklung an, die überraschenderweise auf die jüdische Mystik, die Kabbala, verweist. Habermas war 1954 in Bonn mit einer Arbeit über Schelling von Erich Rothacker promoviert worden, der zwischen 1933 und 1945 als überzeugter Nationalsozialist aufgetreten war. Habermas publizierte die Substanz seiner Dissertation acht Jahre später unter dem Titel Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus – Geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes.

Im Zusammenhang von Schellings Schöpfungsphilosophie stieß Habermas durch die Lektüre Scholems auf Isaak Luria, den frühneuzeitlichen Kabbalisten aus Safed, der die Lehre vom »Zimzum« begründet hatte, die besagt, dass die Welt dadurch entsteht, dass sich Gott in sich selbst zurückzieht.

Die sich Scholems Studien zur Mystik verdankende Annahme, dass in der durch Gottes Rückzug frei gegebenen Schöpfung Splitter des göttlichen Lichts bleiben, sollte zu einem Grundmotiv von Habermas’ reifer Sprach- und Gesellschaftstheorie werden. Überzeugt davon, dass sich Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie zwar an empirischer Forschung zu orientieren, aber gleichwohl einen unaufgebbaren normativen Kern haben, zeigt Habermas, dass sich zumal in den normativen Vorgaben alltäglicher Rede ein nicht zu vermeidender Vorschein einer versöhnten Gesellschaft äußert: der »zwanglose Zwang des besseren Arguments« – eine Annahme, die zugleich zum Kerngedanken seines monumentalen systematischen Hauptwerks, der 1981 erschienenen und stets weiterentwickelten Theorie des kommunikativen Handelns werden sollte.

Im Unterschied zu anderen Sozialphilosophen und Gesellschaftstheoretikern hat Habermas das Thema der Religion niemals übergangen, sondern sich der Herausforderung gestellt, die Glaube und Religion historisch und in der Gegenwart »postsäkularer« Gesellschaften bedeuten. Das heißt nicht, dass Habermas theologisch argumentiert; was ihn jedoch fasziniert, sind die vielfach noch nicht entfalteten Gehalte, die die Religionen einer im instrumentellen Selbstlauf verstrickten Moderne zu ihrer Korrektur bieten können.

Der jüdische Glaube jedenfalls war von Anfang an, seit der sogenannten Achsenzeit vor 3000 Jahren, ein Glaube, dem es um die lebendige Weitergabe der göttlichen Offenbarung von Generation zu Generation ging. In der bereits erwähnten in Jerusalem gehaltenen Rede zu Scholems 80. Geburtstag – sie wurde unter dem Titel Die verkleidete Tora publiziert – sagte Habermas: »Nachdem die Stimme, die da sagt: ›Ich bin der Herr, Dein Gott‹, nicht mehr fraglos gilt, bleibt alleine eine ihrem Begriffe nach verwandelte Tradition, die kein Verbrechen kennt außer einem: Ein Verbrechen begeht, wer das lebendige Band zwischen den Generationen zerschneidet.«

Damit hat Habermas einen Gedanken artikuliert, der wie kein anderer zum Ausdruck bringen könnte, worum es einem recht verstandenen Judentum heute gehen müsste: »Unter den modernen Gesellschaften wird nur diejenige, die wesentliche Gehalte ihrer religiösen, über das bloß Humane hinausweisenden Überlieferung in die Bezirke der Profanität einbringen kann, auch die Substanz des Humanen retten können.«

Ritual Dass es dabei nicht nur um Worte, sondern vor allem um kulturelle Praxen geht, erweist eine erstaunliche Wende: In neuesten Überlegungen erkennt Habermas als wesentlichen Motor der Menschwerdung des Menschen nicht mehr nur die Sprache und ihre Bindekräfte, sondern auch das kultische, das zeichenhafte, das religiöse Ritual. »Immerhin«, so Habermas 2009, »ist der Ritus eine Quelle gesellschaftlicher Solidarität gewesen.«

Ein religiöses Judentum, das – ohne die Einsichten von Aufklärung und Wissenschaft preiszugeben – auf die rituelle Weitergabe seiner Traditionen von Generation zu Generation setzt, kann sich daher von dem großen Sozialphilosophen nur bestätigt sehen.

Auch veröffentlicht in Jüdischer Allgemeine, 19.6.2014

 

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