Antijudaismus im 20. Jahrhundert: Der Rasseantisemitismus
von Klaus-Peter Lehmann

Die Verbreitung von Rassismus und Antisemitismus
Die antisemitische Bewegung in Deutschland erstarkte in den 80er Jahren. In den Parlamenten setzte sie sich zwar nicht durch, umso mehr drang ihr Ungeist immer tiefer in die Strukturen und Zellen des gesellschaftlichen Lebens ein und erfasste große Teile des Volkes. Nur die Arbeiterklasse blieb weitgehend frei davon. Seit 1879 beherrschte die sog. Judenfrage ausgehend von den Universitäten (Treitschke, Burschenschaften) immer mehr das öffentliche Gespräch in den Städten. Später prägte ausgrenzende Judenfeindlichkeit das Verbands- und Vereinsleben in den Provinzen.

Es entstand eine neue „Wissenschaft“, die sog. Rassenkunde oder Rassetheorie. Ihr Geschichts- und Menschenbild formte eine politische Weltanschauung, die – jeder Rationalität bar – von starken Distinktionsgefühlen wie Überlegenheit, Angst, Feindschaft und Hass getragen war. Das zur Mode gewordene Wort Antisemitismus ersetzte Bezeichnungen wie Judenfeind  und Judenfresser. Das nahm der Judenfeindschaft ihr Vulgäres und gab ihr einen gediegenen, wissenschaftlichen Anstrich. Wie sehr der Antisemitismus sich zur Selbstverständlichkeit im Alltag entwickelte, zeigt die Unzahl judenfeindlicher Bildmotive auf dem Medium der Postkarte, die gegen die Jahrhundertwende zum Massenkommunikationsmittel wurde. Hier waren die Juden wie selbstverständlich abgestempelt – als Verpackung im Massenverkehr.  (1) 

Eine gesellschaftliche Institution, die rassistische Gesinnung und antisemitische Gefühle verbreitete, war der Alldeutsche Verband, dem über 5000 Akademiker, Ärzte, Geistliche, Wirtschaftsleute und Professoren angehörten, die durch ihren sozialen Status öffentliche Medien prägten und breite Schichten beeinflussten. Der Verband widmete sich der Pflege des Bewusstseins der rassenmäßigen und kulturellen Zusammengehörigkeit der deutschen Volksteile. Vorsitzender war der nationalliberale Reichstagsabgeordnete Prof. E. Hasse.
Eine Reihe von Autoren machte sich mit systematischen Veröffentlichungen zur Rassetheorie einen Namen. Es gab viele gedankliche Ansätze, die einander ausschlossen. Denn hier war alles Ausgeburt reiner, irrational getriebener Spekulation. Dem grauenhaften Erfolg des Antisemitismus tat das keinen Abbruch, weil es ja nicht um die Richtigkeit einer Theorie ging, sondern um die Legitimation von Hass und Gewalt durch sie. Wir haben es beim Antisemitismus wie schon beim pogromhaften Antijudaismus des Mittelalters und der Neuzeit mit einem kollektiven Wahn zu tun, der nun in Gestalt des pseudowissenschaftlichen Rasseantisemitismus sich selbst den Freispruch und Schulterschlag für seine mörderischen Phantasien erteilte.  (2)

Arthur de Gobineau
Alle Rasseideologen beriefen sich auf das Werk des französischen Adligen Gobineau (1816-1882) Essai sur l’Inégalité des Races Humaines (Abhandlung über die Ungleichheit der Rassen, 1855). Er sah in der weißen Rasse der Arier oder Germanen die einzigen Kulturschaffenden. Wenn die historische Chemie nicht mehr stimme und sich durch Rassenmischung die Rassekraft erschöpft habe, werde eine Kultur an der demagogischen Idee zugrunde gehen. In Frankreich z.B. hätten die Kelten die germanische Herrenrasse besiegt und aufgrund totaler Rassenmischung einen Staat mit den dekadenten Ideen von Gleichheit und Brüderlichkeit ausgerufen. Gobineau ging es um die aristokratische Elite und ihren Stolz. Nationalismus fehlt bei ihm. Weltanschaulich entscheidend ist der Totalitarismus des Rasseprinzips. Die Welterklärung ist monoman, deterministisch, Ethik spielt keine Rolle, alles ist eine Gabe des Blutes.Die Juden sind für ihn charakterlose Schädlinge, die ihren germanischen oder slawischen Gastgebern durch die Bedenkenlosigkeit in der Wahl ihrer Mittel bedrohlich überlegen sind.

Schon Ernst Cassirer (1874-1945) hatte darauf hingewiesen, dass diese Rasseideologie Ethik und Humanismus zerstört, Kulturpessimismus fördert, auf den vollkommenen Nihilismus hinauslaufe und eine totalitäre Staatsideologie vorbereite.

Ernest Renan
Einen anderen Ansatz vertrat der französische Orientalist Renan (1823-1892). Er forschte über die semitische Sprachengemeinschaft, als deren Träger er die semitische Rasse sah. Infolge des jüdischen Monotheismus präge Intoleranz und Hass ihre Kultur. Den Monotheismus hätten sie den ursprünglich polytheistischen Ariern übergestülpt. Ihr arrogantes Erwählungsbewusstseins habe den Hass gegen sie erzeugt. Sprachvergleiche zwischen Hebräisch und Sanskrit führten Renan zu dem Schluss, dass die schreckliche Einfalt des semitischen Geistes das menschliche Hirn zum Schrumpfen bringe und es jeder höheren Leistung gegenüber verschließe.

Eugen Dühring
Deutlich von Hass gezeichnet war die wahnhafte Gedankenwelt des Berliner Nationalökonomen und Philosophen Dühring (1833-1921). Er verband einen von den französischen Enzyklopädisten inspirierten Materialismus mit politischem Radikalismus (Ablehnung des kapitalistischen Lohnsystems, Unterstützung der Pariser Kommune) und der Vorstellung von einem germanischen Rassegeist, dessen Mission es sei, die Religion abzuschaffen und das Judentum auszuscheiden.  (3)  Die Juden waren für ihn eine inneres Karthago. Das zu ergänzende esse delendam sprach er nicht aus, legte aber so dem Leser die Vernichtungsoption als unausweichliche Konsequenz in den Mund.  (4) 

Paul de Lagarde
Der Orientalist und Kulturpolitiker Lagarde lehrte semitische Sprachen und alttestamentliche Exegese. Er beschäftigte sich mit der Entstehung des Christentums und wollte es wie Marcion von seiner paulinisch-jüdischen Verfälschung lösen und mit dem deutschen Glauben zusammenführen, dem angeblichen Geist des unverbildeten, arbeitsamen und wehrhaften Volkes: Hinter dem Pfluge und im Walde, am Amboss der einsamen Schmiede ist es zu finden, es schlägt unsere Schlachten und baut unser Korn.

Lagarde zerschnitt das Band zwischen Altem und Neuem Testament vollkommen. Der Monotheismus Israels sei eine aus der Negation lebende Verstandesreligion, die zu Erwählungsglaube, Absonderung und Rassenhochmut führe. In Europa würden die Juden als geschichtsloser Haufen mit atavistischen Riten als asiatische Heiden inmitten des Christentums leben. Dieses habe sich durch Jesus von Nazareth höher entwickelt und die germanische Innerlichkeit in sich aufgenommen. Es sei dem Untergang preisgegeben, sofern es sich nicht von der jüdischen Entstellung vollständig befreie.

Wo eine solche Masse der Verwesung angehäuft ist wie in dem Israel Europas, da kommt man mit innerlicher Arznei erst zum Ziele, nachdem man durch einen chirurgischen Eingriff den angesammelten Eiter entfernt hat. Nicht nur das Judentum selber gehörte für Lagarde zum Kulturverfall, sondern auch alles was aus Frankreich kam, die Ideen der französischen Revolution und der Aufklärung. Die jüdisch-keltischen Theoreme der Gleichmacherei seien dem aristokratischen Geist der Deutschen fremd. Lagardes Verteufelung des Alten Testamentes und sein antisemitisches Vernichtungsvokabular machten ihn zum Vater der nationalsozialistischen Deutschen Christen: Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet… Frömmigkeit ist das Bewusstsein höchster Gesundheit.

Houston Steward Chamberlain
Der Engländer Chamberlain, der Deutschland zu seiner Wahlheimat gemacht hatte und später im Umkreis der Familie Richard Wagners in Bayreuth lebte, beeinflusste mit seinem fragmentarischen Buch Die Grundlagen des Jahrhunderts die deutsche Bildungsgeschichte entscheidend.

Chamberlain glaubte an die germanische Rasse. Ihr allein gehöre die Zukunft, man müsse sie von allem, nicht germanisch ist, befreien. Seit dem Völkerchaos zum Ende der Antike hätten sich die Germanen gegen das Judentum, die katholische Kirche und die Aufklärung, die als antigermanisches Prinzip wirken, behaupten müssen. Nur die Germanen seien fähig, die agonisierende Menschheit aus den Krallen des Ewigbestialischen zu retten. Dieses geschichtliche Rettungswerk des germanischen Volkes zeichnet sich durch schrankenlose Immoralität aus. Nicht durch Tugenden, sondern nur durch Grausamkeit, Gier und Rechtsbruch hätten sie ihre Siege erringen können: Doch wird jeder zugeben müssen, dass sie gerade dort, wo sie am grausamsten waren, dadurch die sicherste Grundlage zum Höchsten und Sittlichen legten. Als Beispiel nennt Chamberlain den Deutschen Orden in Preußen und die Europäer in Nordamerika. Aber auch nach innen gegen sich selber galt für ihn die Härte der auslesenden Zucht, um den hohen Rassecharakter rein zu halten. Das Aussetzen schwächlicher Kinder sei ein segensreiches Gesetz bei Griechen, Römern und Germanen gewesen.

Chamberlains Rassismus wurzelt in einer fanatisierten religiösen Inbrunst, mit der er den wahren Rassecharakter unmittelbar zu erkennen meinte. Er widmete sich keinen pseudowissenschaftlichen Forschungen. Der Wahrheitsbeweis liegt für ihn im Erlebnis, im Tief-Gefühlten. Die wegweisende Wahrheit fand er in Wagners Musik. In den Tönen des Schwertmotivs hörte er Wotans Willen, durch Heldenmut die Welt zu besiegen. Einer der größten Helden sei Christus gewesen, der, ein geborener Arier, die jüdische Rassenseele, den rachsüchtigen Gott des Alten Testamentes, strikt abgelehnt habe. In der Nachfolge des lichtvollen Helden, des arischen Christus, gehe es darum das irreligiöse Judentum, die Mestizengesinnung der römischen Kirche, die Phrasendrescherei von den Menschenrechten und den seelenlosen Materialismus zu bekämpfen.

Chamberlains Buch wurde viel gelesen und war einer der bedeutendsten Anreger für den modernen Antisemitismus der bürgerlichen Kreise. Weil Chamberlain Goethe, Kant und Schiller in seinem Mythos vom Germanentum verrührte und für den Antisemitismus Gewährsleute wie Voltaire, Herder und Fichte anführte, hat er mit einer Art von frommem Rassismus und einer kruden Gesamtsicht der abendländischen Geschichte das Bildungsbedürfnis der intellektuellen Schicht bedient. Kaiser Wilhelm II. verehrte Chamberlain und Lagarde. Seine Reden speisten sich bis in die Diktion aus ihrem aggressiven Antisemitismus und Rassismus. Die preußischen Schulbibliotheken  erwarben sich auf Wunsch des Kaisers ein Exemplar von Chamberlains Grundlagen. Ein Großteil der deutschen Bildungsschicht verstieg sich mit solcher Literatur in einen rigorosen, fanatischen Rassismus und Immoralismus, der wie eine ideologische Vorbereitung auf den NS-Völkermord an den Juden wirkte. Chamberlain, der die Weimarer Republik verabscheute, lernte Hitler kennen, als der ihn 1923 am Krankenbett besuchte. Auf ihn setzte er seine Hoffnung für die Zukunft der germanischen Rasse.  (5)

  1. Abgestempelt, Judenfeindliche Postkarten, Hrg.  H. Gold, G. Heuberger, Frankfurt a.M. 1999
  2. …inwiefern die Weigerung, im Menschen das Ebenbild Gottes zu sehen, der deterministischen und rassistischen Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts zugrunde liegt  (L. Poliakov  Der arische Mythos, Hamburg 1993, S. 246). Das wäre eine theologische Erklärung für den vollständigen Verlust der ethischen Dimension im Laufe des 19. Jh. Allerdings war die auch schon im Mittalter verloren, als die Juden für Kinder des Teufels erachtet wurden.
  3. E. Dühring, Der Ersatz der Religion durch Vollkommeneres und Ausscheidung alles Judentums durch den modernen Völkergeist, 1883
  4. In der Zeit vor dem 3. Punischen Krieg (149-146 a.C.) soll der römische Staatsmann Censorius Cato (234-149 a.C.) seine Reden im Senat mit dem Ausspruch beendet haben: Ceterum censeo Carthaginem esse delendam / Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.
  5. Für die meisten Angaben in diesem Artikel vgl. W. Kampmann, Deutsche und Juden, Frankfurt a.M. 1981, S. 293ff

 

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