Dieses Votum hat der Theologische Ausschuss der Elften Kirchensynode der EKHN am 10. Oktober 2014 beschlossen. Er legte es am 21.11.2014 der Kirchensynode zur Beratung, Annahme und zum weiteren Bedenken auf dem Weg zu einem Jubiläum „25 Jahre nach der Erweiterung des Grundartikels unserer Kirchenordnung“ vor. Die EKHN-Synode nahm dieses Votum einstimmig an.

Martin Luthers sogenannte „Judenschriften“ im Horizont des EKHN-Grundartikels (1991) und des Reformationsjubiläums (2017)

[1] Martin Luther und seine Theologie haben nicht nur die lutherischen Kirchen, sondern den Protestantismus insgesamt maßgeblich geprägt. Die evangelischen Kirchen in Deutschland können daher im Vorfeld des Reformationsjubiläums im Jahr 2017 nicht an Luthers Haltung zum zeitgenössischen Judentum (mit Zögern gebrauchen wir den Begriff des „Judentums“. Alternativ könnte man auch den Neologismus „Judenheit“ verwenden, vgl. z.B. Thomas Kaufmann.), wie sie sich insbesondere in seinen sogenannten „Judenschriften“ bekundet, vorbeigehen. Wir sind denjenigen in den evangelischen Kirchen dankbar, die dieses belastende Erbe insbesondere in den letzten Jahrzehnten kritisch beleuchtet haben.

[2] Die nachfolgenden Aussagen zu Luthers „Judenschriften“ wollen nicht die zentrale Bedeutung Luthers für die Geschichte und die Theologie des Protestantismus in Frage stellen. Sie wollen aber darauf aufmerksam machen, dass Luthers Verhältnis zum Judentum, wie es sich in seinen „Judenschriften“ spiegelt, weder ein zufälliges Ereignis, noch eine marginale Größe innerhalb seines reformatorischen Wirkens oder theologischen Denkens ist. Luthers Haltung nimmt vielmehr einen verbreiteten zeitgenössischen Antijudaismus auf, verknüpft ihn mit zentralen Einsichten seiner Theologie, insbesondere der Rechtfertigungslehre, und gibt Handlungsanleitungen, die der völkische Antisemitismus aufgreifen konnte.

Luthers sog. „Judenschriften“ in ihrem historischen und theologischen Kontext

[3] In allen gesellschaftlichen Schichten des 16. Jahrhunderts, bei Anhängern ebenso wie bei Gegnern der Reformation, war die Vorstellung verbreitet, „dass die Juden mit dem Teufel im Bunde seien, in ‚parasitärer‘ Weise, insbesondere durch den Wucher, ihre ‚Wirtsvölker‘ aussaugten, heimlich mit den Türken paktierten, ihnen als Spione dienten und durch magische Praktiken unablässig darauf hinwirkten, Christus und Maria zu schmähen, Proselyten zu machen und die christlichen Gemeinwesen zu unterminieren“ (Thomas Kaufmann, Handbuch des Antisemitismus 3 [2010], S. 286). Dies zeigt beispielhaft die sog „Reuchlin-Fehde“ in den Jahren vor der Reformation: Gegenüber dem zum Christentum konvertierten Juden Johannes Pfefferkorn widersprach der humanistische Hebraist Johannes Reuchlin (1455-1522) in seinem „Augenspiegel“ (1511) der Forderung nach Verbrennung der jüdischen Schriften und fand dabei die vehemente Unterstützung der Humanisten und breiter Teile der Öffentlichkeit, unter ihnen viele spätere Anhänger der Reformation. Ihre Sympathie war jedoch begrenzt und wesentlich dem Interesse an der antiken Philologie geschuldet. An der Forderung nach einer Taufe der Juden und der Anerkenntnis Jesu als Messias hielt man fest. Dies konnte sich auch unter den Humanisten wie bei Erasmus von Rotterdam zu einem expliziten Antijudaismus
steigern.

[4] Martin Luther hat seine „Judenschriften“ ohne engere Kontakte zur jüdischen Bevölkerung verfasst und sich auch nicht um ein solches Kennenlernen bemüht. Die Juden interessierten ihn als Zeugnis des göttlichen Geschichtshandelns und dienten ihm zugleich als Spiegel der christlichen Selbsterkenntnis für eine Religion, die sich aus seiner Sicht ähnlich wie „Papsttum“ und Islam von Selbstrechtfertigung und der Verdienstlichkeit der Werke leiten lässt.

[5] Die von vielen Anhängern der reformatorischen Ideen in den frühen Jahren der Reformation gesehene „eschatologische Wende“ beinhaltete – insbesondere nach Luthers Schrift „Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei“ (1523) – auch die Erwartung, dass der „Durchbruch des Wortes Gottes“ auch Teile der jüdischen Bevölkerung einschließen werde. Luther forderte, dass man die traditionellen Vorwürfe des Judenhasses aufgebe, welche die verfehlte Lehre der römischen Kirche begleitet hätten, und die christliche Lehre rein und unverfälscht darbiete. Solche Erwartungen trugen zumindest dazu bei, dass die protestantischen Haltungen zum Judentum in den frühen Jahren der Reformation vielstimmig wurden und sich judenfreundlichere Töne unter sie mischten. Gleichwohl besteht zwischen Luthers im Tenor freundlicherer Schrift von 1523 und den späten Schriften zwischen 1538 und 1543 („Wider die Sabbather“ [1538]; „Von den Juden und ihren Lügen“ [1543]; „Vom Schem Hamphoras“ [1543]; „Von den letzten Worten Davids“ [1543]) mit ihrer Vehemenz und ihrem unverhüllten Judenhass eine deutliche Kontinuität: das Verhältnis zu Christus und der Glaube an die Rechtfertigung des Sünders schlossen für ihn eine eigene und bleibende jüdische Erwählung durch Gott aus. Dies sah Luther in der jüdischen Geschichte (seit der Kreuzigung Jesu) bestätigt, die er als Strafe für die Verwerfung des Messias Jesus durch die Juden deutete.

[6] Mit dem territorialen Auf- und Ausbau der Reformation sahen sich evangelische Theologen und Obrigkeiten – auch angesichts katholischer und antijüdischer Polemik, wie sie z.B. an der Schrift des Konvertiten Antonius Margaritha „Der gantz jüdisch glaub“ (1530) deutlich wird – zunehmend selbst verantwortlich für die geringen Bekehrungserfolge, welche die neue reformatorische Lehre unter der jüdischen Bevölkerung erzielte. Luther propagierte seit den späten 1530er Jahren eine dezidiert antijüdische Politik der Territorialherren. Mit seinen späten „Judenschriften“ wollte er sie zur Ausweisung der Juden drängen und schreckte nicht vor dem Aufruf zu einem gewaltsamen Vorgehen und übelsten sprachlichen Entgleisungen zurück. Die „Judenpolitik“ der reformatorischen Territorien kehrte mit den durch Luther und andere initiierten Maßnahmen weitgehend zur vorreformatorischen Praxis zurück, die sich zwischen begrenzter Duldung und Ausweisung bewegte und auch wechseln konnte.

Die Rezeption von Luthers sog. „Judenschriften“ im Protestantismus

[7] Luthers späte „Judenschriften“ wurden bis zum 19. Jahrhundert nicht in breiterem Umfang rezipiert. Insbesondere im Pietismus kam es nicht zuletzt unter den Vorzeichen einer neuen Eschatologie und der damit verbundenen Erwartung einer Judenbekehrung zu einer freundlicheren Haltung gegenüber den jüdischen Mitbürgern (Spener, Zinzendorf) und vereinzelt auch zu einer Kritik an Luthers judenfeindlichen Schriften (Gottfried Arnold). Für den im 19. Jahrhundert aufkommenden rassischen Antisemitismus spielten Luthers späte „Judenschriften“ noch eine geringe Rolle. Nach dem Ersten Weltkrieg aber und insbesondere unter den nationalsozialistischen Gegnern und Befürwortern des Christentums gewann der Rekurs auf diese Schriften an Bedeutung; sie beeinflussten auch die Bibelauslegung christlicher Kommentatoren, insbesondere im deutschen Kulturkreis. Noch in den Nürnberger Prozessen berief sich Julius Streicher auf Luther als Gewährsmann der antisemitischen Hetzpropaganda. Schon allein diese wechselvolle Rezeptionsgeschichte zeigt, dass sich die evangelischen Kirchen klar zu Luthers „Judenschriften“ positionieren müssen.

Kritik und Distanzierung von Luthers sog. „Judenschriften“

[8] Luthers reformatorischer Grundimpuls gründet in der Auslegung der Hl. Schrift. Dies verleiht Luthers Aufnahme der zeitüblichen christologischen Deutung des Alten Testaments und der unkritischen Auslegung der antijüdischen Passagen des Neuen Testaments ein besonderes Gewicht. Luthers Interpretation insbesondere der sog. messianischen Stellen des Alten Testaments hält heutiger historisch-kritischer Exegese und insbesondere der Mehrdeutigkeit biblischer Texte, wie sie die Rezeptionsästhetik sieht, nicht stand.

[9] In selbstkritischen Momenten war sich Luther der Begrenztheit seiner Theologie und seines kirchlichen Handelns durchaus bewusst. Spannungen innerhalb seiner Theologie sowie Widersprüche zwischen Theologie und praktischem Handeln traten bei ihm besonders dann zutage, wenn er sich mit Gegnern auseinandersetzte, die er als eschatologische Feinde identifizierte (Papsttum, Türken, Täufer, Judentum): Ähnlich wie seine Haltung zu den Täufern der Reformationszeit nur schwer mit seiner Berufung auf die Bindung des Gewissens an das Wort der Schrift harmonierte, ist im Zusammenhang mit seinen „Judenschriften“ seine Haltung gegenüber dem zeitgenössischen Judentum nicht mit dem Zeugnis der Schrift von der bleibenden Erwählung Israels vereinbar.

[10] Der Gedanke einer bleibenden Erwählung Israels und der Treue Gottes zu seinem Volk blieb Martin Luther unter Berufung auf alttestamentliche israelkritische Passagen verschlossen. In seinen späten „Judenschriften“ hat er dem Judentum den Status als Volk Gottes explizit abgesprochen, indem er auf den s. E. 1500 Jahre währenden Zorn Gottes über das jüdische Volk verweist. Dem widerspricht die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau mit ihrem 1991 erweiterten Grundartikel ihrer Kirchenordnung nachdrücklich: „Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen, bezeugt sie neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein“.

Quelle: EKHN

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email