Luthers Bild der Juden – die Schattenseite seines Rechtfertigungsglaubens
von Thomas Kaufmann

In der breiteren Öffentlichkeit wird kein Thema im Zusammenhang mit dem Reformator häufiger genannt und debattiert, als das Thema „Luther und die Juden“. Die Gründe dafür liegen vornehmlich in Luthers Rezeptionsgeschichte während des 20. Jahrhunderts, als er einerseits von seiten nationalsozialistischer Christen als Gewährsmann in Anspruch genommen wurde und andererseits vor allem nach dem 2. Weltkrieg von seiten der Kritiker der nationalsozialistischen Judenvernichtung als eine wesentliche Ursache dieser barbarischsten aller barbarischen Greueltaten in Anspruch genommen wurde. 1

Diese Umstände machen die Besonderheit von Luthers Äußerungen über die Juden aus, etwa im Unterschied zu seinen Meinungen über die Türken und die „türkische Religion“. Letztere waren einerseits im höchsten Maße aktualitätsbezogen und von den militärischen Vorstößen der Osmanen unter Suleiman dem Prächtigen bestimmt und griffen in reichem Maße auf vorreformatorische Turcica – den oft gedruckten Tractatus des Georgius genannten Siebenbürgeners etwa, Ricoldus’ de Montecrucis Confutatio Alcorani, auch Nikolaus von Kues’ Cribration Alcorani u.a. zurück. 2 Was Luther über die Türken und die „türkische Religion“ zu sagen hatte, war primär durch externe Herausforderungen veranlasst, auch wenn er seine Ausführungen exzessiv dazu nutze, gegen die innerchristlichen Gegner, insbesondere die „Papisten“, zu polemisieren und die Werkheiligheit der Türken gegenüber der der Papisten als überlegen darzustellen. Bei den Juden aber war es anders: Luther sprach hier durchweg ohne besonderen Anlass, sondern aus eigenem Antrieb. Er sprach bei den Juden nicht über ferne Feinde, sondern bedrohlich Nahe, die den angesprochenen Christen auf den Pelz rücken konnten. Er sprach nicht über eine gesammelte, übermächtig sichtbare geschichtliche Macht, sondern über eine weit verstreute, geheimnisvoll-unsichtbare Bedrohung. Er sprach nicht über eine Wirklichkeit, die in der Bibel eigentlich nicht vorkam bzw. die man dort erst nach vielen Mühen im „kleinen Horn“ in Dan 7 entdeckte, sondern über jenes Volk, an das die heilige Schrift der Christen gerichtet war, dem ihr Heiland entstammte, auf das die Weissagungen des Alten Testaments gerichtet waren und das von alledem seit Jahrhunderten nichts wissen wollte.

Angesichts des herausragenden Gewichtes der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Themas „Luther und die Juden“ halte ich es nicht für sinnvoll, im 16. Jahrhundert einzusetzen. Deshalb vorab einige Bemerkungen zur Rezeptionsgeschichte dieser sogenannten „Judenschriften“ Luthers und zu der Frage ihres Zusammenhangs mit der eliminatorischen Judenpolitik des NS- Staates. Nach allem, was wir aufgrund des bisherigen Forschungsstandes über die Rezeption von Luthers Judenschriften zwischen dem 16. und dem späten 19. Jahrhundert sagen können, vollzog sich diese primär innerhalb der lutherischen Konfession. Katholische Bezugnahmen auf Luthers Haltung gegenüber den Juden unterlagen erheblichen Konjunkturen: Während in der Reformationszeit die Polemik gegen Luthers frühere Äußerungen insbesondere in seiner Schrift Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei überwog, lassen sich distanzierende Stellungnahmen zu Luthers später Schrift Von den Juden und ihren Lügen noch im Kontext der Dreyfuss-Affäre nachweisen, als der Osservatore Romano feststellte: im Unterschied zum „hohen Priester des Protestantismus, Martin Luther“, der gefordert habe „alle Synagogen den Flammen zu überantworten“ hätten die Päpste stets „Barmherzigkeit, Toleranz und Liebe“ gegenüber den Juden walten lassen. 3

Für das frühneuzeitliche Luthertum war auch im Verhältnis zu den Juden aufs Ganze gesehen eine stärkere Orientierung an Luthers literarischem Spätwerk charakteristisch. Einzelne rezeptionsgeschichtliche Beispiele aus Magdeburg, Leipzig oder Braunschweig zeigen, dass einflussreiche lutherische Theologen und Kirchenführer unter Rekurs vor allem auf Luthers Von den Juden und ihren Lügen dafür eintraten, eine von den politischen Obrigkeiten betriebene befristete Duldung von Juden zu bekämpfen. Dies schloss allerdings nicht aus, dass auch ein orthodoxer Theologe wie Johann Gerhard gelegentlich unter Rekurs auf Luthers Frühschrift von 1523 zu Gunsten der Duldung portugiesischer Juden in Hamburg eintreten konnte. Die lutherischen Konfessionsgesellschaften der Vormoderne schwankten in Bezug auf die Juden also zwischen „Abwehr und Bekehrung“ 4; das wechselvolle Geschick der Juden, bald befristet geduldet zu sein, bald ausgetrieben zu werden, unterlag auch in den protestantischen Städten und Territorien jeweils spezifischen Konjunkturen, die von den Interessen der Obrigkeiten, der Bürgerschaften, auch der Theologen abhingen. In dieser Hinsicht hat sich auf die Dauer gegenüber den Verhältnissen vor der Reformation nichts Wesentliches geändert.

Die Vorstellung, ein politisches Gemeinwesen bedürfe des integrierenden religiösen Einheitsbandes der Gesellschaft, war in allen religiösen Lagern in der Vormoderne weithin selbstverständlich. Nur die Randsiedler der europäischen Religionskultur, die Juden und die protestantischen Sekten, dachten hier anders. In Hinblick auf den Umgang der protestantischen Konfessionsgesellschaften mit den Juden ist ein widerspruchsfreies, einheitliches Bild allerdings nicht zu gewinnen. In Bezug auf Luther ist aber eines deutlich: Das entscheidende Ziel seiner späten Judenpublizistik, evangelische Städte und Territorien im Reich ‚judenfrei’ zu bekommen, erreichte der Wittenberger Reformator nicht. Im Pietismus des späteren 17. und des 18. Jahrhunderts trat ein theologisch begründetes Interesse an einer Judenbekehrung vor dem Ende der Zeiten in den Vordergrund, das auch institutionelle Anstrengungen einer Judenmission aus sich heraus setzte. Im Unterschied zu der heute üblichen Einschätzung förderten Appelle und Maßnahmen zur Judenmission in der Vormoderne in aller Regel eine Politik der befristeten Judenduldung. Einzelne Indizien deuten darauf hin, dass es Vorbehalte gegenüber der rechtlich-politischen Entwicklung hin zu grundrechtlich verbürgter Judenemanzipation auch in protestantischen Milieus gab und sich diese auf Luther beriefen. Allerdings ist auch klar, dass die Haltung gegenüber den Juden vor dem 20. Jahrhundert kein zentrales Thema des Lutherbildes gewesen ist.5 Eine nennenswerte Verbreitung seiner menschenverachtenden Hetzpublizistik der 1540er Jahre hat es vor der Zeit des Dritten Reiches nicht gegeben.

Die Ambivalenz der Rezeptionsgeschichte Luthers wird in einem Artikel, den der jüdische Gelehrte Gotthard Deutsch in der Jewish Encyclopedia (1902/06) verfasste, auf den Punkt gebracht. Deutsch formulierte: „Die völlig unterschiedlichen Einstellungen, die Luther zu verschiedenen Zeiten gegenüber den Juden an den Tag legte, machten ihn während der Kontroverse um den Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer von Freunden und Feinden der Juden gleichermaßen zitierten Autorität.“6 Mit dem ideologisch- politischen Triumph völkisch-rassistischer Ideologie im NS-Staat neigte sich die rezeptionsgeschichtliche Waagschale der Lutherdeutung in Bezug auf die Juden eindeutig auf die Seite der kämpferischen Judenfeindschaft. Evangelische Theologen und Kirchenführer suchten unter Rekurs auf Luthers späte Judenschriften den Nachweis zu führen, dass sich der Reformator auf der Höhe des eliminatorischen Rassenhasses befunden habe; der Kirchenhistoriker Erich Vogelsang leistete unter Rekurs auf Luther seinen Beitrag zum „heute volksnotwendigen Antisemitismus“7 und der thüringische Landesbischof Martin Sasse feierte die Reichspogromnacht des Jahres 1938 als Erfüllung Lutherscher Hoffnungen: „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. […] In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert aus Unkenntnis einst als Freund der Juden begann, der getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden.“8 Vor dem Hintergrund solcher Äußerungen nimmt es nicht wunder, dass der fränkische Antisemit Julius Streicher, der Spiritus rector des nationalsozialistischen Hetzblattes „Der Stürmer“, Luther auf die Anklagebank des Nürnberger Prozesses vor dem internationalen Militärgerichtshof zog: „Dr. Martin Luther säße heute an meiner Stelle auf der Anklagebank, wenn dieses Buch von der Anklagevertretung in Betracht gezogen würde. In dem Buch ‚Die Juden und ihre Lügen’ schreibt Dr. Martin Luther, sie seien ein Schlangengezücht, man solle ihre Synagogen niederbrennen, man solle sie vernichten …“9

Vor dem Hintergrund dieser Rezeptionsgeschichte nimmt es gleichfalls nicht wunder, dass sich Feinde des nationalsozialistischen Deutschland dieses Deutungsmodell zu eigen machten und in dem Judenfeind aus Wittenberg den Vorläufer Hitlers identifizierten. Eine Art Höhepunkt dieser genealogischen Konstruktion, die ja – dies ist im Bewusstsein zu halten!– eine ‚deutschchristlich’-nationalsozialistische Interpretationslinie unter invertierter Bewertung fortsetzte, stellt ein Pamphlet des deutschen Exulanten Peter F. Wiener mit dem Titel „Martin Luther. Hitler’s Spiritual Ancestor“10 dar. Die letzte mir bekannt Ausgabe dieser Schrift von 1985 zeigt auf dem Titelblatt einen Leichenberg vergaster Juden; Wiener stellt Luther als radikale Gegenfigur zu einem die Neuzeit heraufführenden Bahnbrecher dar. Luther ist für ihn ein Feind der Vernunft, ein Fürstenknecht und Apostel des Absolutismus, ein Begründer einer Gehorsamsmentalität sklavischer Unterwürfigkeit. Luther habe einer Judenvernichtung das Wort geredet, die „nicht einmal von Hitler übertroffen wurde“11. Auch wenn krasse Fehlurteile dieser Art eher Ausnahmen darstellen – die Vorstellung, Luther sei ein besonders „üble[r] Antisemit“12 gewesen, ist bis heute geläufig.

Die Rezeptionsgeschichte widerlegt die Vorstellung, dass sich direkte Linien einer kontinuierlichen Rezeption von Luthers Texten vor allem des Jahres 1543 zum rassischen Antisemitismus des frühen 20. Jahrhunderts ziehen ließen. Da, wo man sich auf Luther im Sinne einer Bestätigung nationalsozialistischer Judenpolitik berief, liegt eine ‚invention of tradition’ vor, eine retrospektivische Konstruktion von Übereinstimmungen nach Maßgabe leitender Gegenwartsinteressen. Die abgründige Rezeptionsgeschichte des Themas ‚Luther und die Juden’ nötigt dazu, die historischen Sachverhalte einer Rekonstruktion zu unterziehen. Dies ist das Anliegen meiner folgenden Überlegungen. Ich muss mich dabei allerdings auf die großen Linien beschränken; außerdem konzentriere ich mich auf die publizierten Äußerungen des Wittenbergers, deren wichtigsten eben die sogenannten Judenschriften sind.

Keine der Schriften Luthers, die sich ausführlich mit der jüdischen Religion beschäftigen, waren an jüdische Zeitgenossen gerichtet. Luther redete gegenüber christlichen Zeitgenossen über die Juden, nicht zu ihnen. Dass er von sich aus Kontakte zu gelehrten Juden gesucht hätte, ist nicht bezeugt. In keiner der Städte, in denen Luther gelebt hat, waren Juden geduldet. Die Vertreibung der Juden aus Luthers Geburtstagstadt Eisleben im Jahre 1547 ist als posthumes Ergebnis seiner entsprechenden Bemühungen zu bewerten, die er bei seiner letzten Reise dorthin unternahm.13 Eine ‚judenfreie’ Stadt war in Luthers Erfahrungskontext der Normalfall. In Eisenach, wo Luther seine letzte Schulzeit verbrachte, war den Juden 1510 der Handel, aber keine Niederlassung gestattet worden,14 in der Stadt Mansfeld, wo Luther seit seinem zweiten Lebensjahr herangewachsen war, gab es seit 1434 keinerlei Spuren jüdischen Lebens15 mehr; aus Magdeburg, einem Schulort Luthers, waren die Juden aufgrund eines erzbischöflichen Mandates seit 1493 vertrieben16; in Erfurt ist zwischen 1453/4 und dem 18. Jahrhundert kein Jude bezeugt17. Auch in Wittenberg sind in Spätmittelalter und Reformationszeit keine Juden aktenkundig. Außer dem Luther offenbar aufwühlenden Besuch von zwei oder drei Rabbinern in Wittenberg, der 1525/6 stattgefunden hat18 und ihm bestätigte, dass die Juden Christus unablässig schmähten, ist kein weiterer persönlicher Kontakt zwischen Luther und einzelnen Juden belegt. Die in Luthers Umgebung, etwa bei seiner Frau, begegnende Vorstellung, Juden versuchten ihm durch geheimnisvolle Praktiken Schaden zuzufügen19, dürften ihn in seiner Überzeugung bestätigt haben, dass die Juden ihm nach dem Leben trachteten20. Außer seinem Wittenberger Kollegen Justus Jonas, der auch in den 1540er Jahren noch an Luthers frühreformatorischer Hoffnung auf eine Hinwendung der Juden zum

evangelischen Christusbekenntnis festhielt, ist mir keine Person in seinem Wittenberger Umfeld bekannt, die in nennenswerter Weise anders über Juden gedacht hätte als Luther selbst, auch Melanchthon nicht – letzterer war übrigens der eifrigste Verbreiter der berüchtigten Schrift Von den Juden und ihren Lügen.

Luther äußerte sich als Schriftausleger zur Judenfrage; nennenswerte Impulse zu missionarischen Aktivitäten gegenüber Juden lagen außerhalb seiner Absichten, auch wenn einige Flugschriften zum frühreformatorischen Judendiskurs nach dem Erscheinen seiner Erstlingsschrift dialogische Beziehungen zwischen Anhängern der Reformation und einzelnen Juden beschrieben oder imaginierten.21 Seine 1523 gegenüber dem getauften Juden Bernhard ausgesprochene Hoffnung, „dass sich künftig viele der Juden ernsthaft und getreulich bekehrten“22, basierte auf der endzeitlichen Euphorie eines Siegeslaufs des Evangeliums, wie sie der Erfahrung der expansiven Ausbreitungsdynamik seiner Botschaft in den frühen 1520er Jahren entsprach. In publizistischer Hinsicht ist kein Autor des 16. Jahrhunderts wirkungsvoller für die Forderung eingetreten, Juden zu dulden und ihnen das Recht einzuräumen, „unter uns tzu arbeythen, hantieren und andere menschliche gemeynschafft zzu haben“23 als der Luther der Schrift Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei, der verbreitetsten seiner einschlägigen Texte. Die Mehrheit seiner urteilsfähigen Zeitgenossen der 1520er Jahre dürfte den Wittenberger Reformator in größter Nähe zu dem als ‚Judenfreund’ geltenden Hebraisten Johannes Reuchlin gesehen haben. Auch wenn Luther dessen Interesse an der jüdischen Kabbala nicht teilte und seiner juristischen Argumentation gegenüber der Judenduldung nicht folgte, vertrat er hinsichtlich der Frage der Judenduldung zunächst eine diesem vergleichbare Position.

Äußerlich war Luthers Schrift Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei durch Gerüchte veranlasst, die auf dem Nürnberger Reichstag über seine Lehre kursierten. Er habe die immerwährende Jungfrauenschaft Mariens geleugnet und die Meinung vertreten, dass Jesus aus dem Samen Josephs empfangen, also nicht durch den Heiligen Geist gezeugt sei.24 Daneben wurde in Nürnberg auch verbreitet, dass Luther die leibliche Gegenwart Christi im Abendmahl leugne. Obwohl Luther diese Vorwürfe für abwegig hielt, sah er es dennoch als nötig an, sich ausführlich mit ihnen auseinanderzusetzen, und zwar vor allem deshalb, weil die kursächsische Administration sie für politisch gefährlich hielt. Auf den Vorwurf eines christologischen Lehrirrtums antwortete Luther mit der Schrift Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei, auf den abendmahlstheologischen Häresieverdacht ging er in einer gleichfalls im Frühjahr 1523 erschienenen Schrift an die Böhmen – Vom Anbeten des Sakraments – ein. In beiden Fällen waren konkrete persönliche Verbindungen zu einzelnen Personengruppen für die literarische Gestalt der entsprechenden Schrift ausschlaggebend; im Falle der Judenschrift war der Kontakt zu dem ehemaligen Rabbiner Jakob Gipher, der den Taufnamen Bernhard angenommen hatte, entscheidend. Die christologische Irrlehre, die man Luther vorwarf, dürfte sich auf eine etwas kompliziertere Passage seiner Magnifikatauslegung25 bezogen haben, in der Luther in einem äquivoken Sinne den Begriff des Samens auf Christus angewandt hatte, und zwar einerseits in Bezug auf die menschliche Natur, also als ‚Josephs Same’, andererseits allegorisch im Sinne einer christologischen Interpretation der ‚Abrahams Samen’ geltenden Verheißung. Wahrscheinlich hat Luther die entsprechende Passage, als er von der Nürnberger Aufregung über die kursächsischen Korrespondenten erfuhr, noch einmal nachgelesen und sich dabei seine einstmalige Bezugnahme auf die Juden abermals vergegenwärtigt. In der Abrahamsverheißung sei die Erlösung Christi bereits enthalten gewesen; die dem Samen Abrahams geltende Heilszusage handle von Christus, dem ‚Samen Abrahams’. Doch die Juden hätten dieses christologische Zeugnis nicht erfasst und sich so „selb die thur zuthan / das der same (sc. Christus) hat mussen furuber gehen / und blyben noch also / Got gebe nit lange Amen.“26 Über der Interpretation des Magnificat war Luther zu dem Ergebnis gelangt, dass die Verheißung „Abrahamsz geblute <welchs da sind die Juden>“27 bis zum Jüngsten Tage gelte. Daraus ergebe sich die sittliche Verpflichtung der Christen, die Juden „nit so unfrundtlich [zu] handeln / denn es sind noch Christen unter yhn zukunftig“28. Aus Anlass des Kontaktes mit Bernhard, der seinen Sohn Anfang März im nahe Wittenberg gelegenen Örtchen Schweinitz in Gegenwart Luthers und anderer Wittenberger Universitätsangehöriger taufen ließ, dürfte Luther auf den Gedanken gekommen sein, die ihm vorgeworfene christologische Häresie dadurch zurückzuweisen, dass er den christologischen Gehalt einschlägiger Stellen des Alten Testaments entfaltete. Die Beziehung zu dem getauften Juden Bernhard lieferte Luther also den äußeren Anlass, um eine ihm vorgeworfene Irrlehre so darzulegen, dass er das christologische Zeugnis des Alten Testaments in einer – wie er meinte – auch Juden zum Glauben an Christus reizenden Weise präsentierte. Der wahrhaft bekehrte Jude Bernhard lieferte zugleich ein sprechendes Beispiel dafür, dass Luther etwas gelungen war, was die altgläubige Glaubenspropaganda in der Regel kaum oder gar nicht vermocht hatte: Juden zum Christusglauben zu führen.

Die literarische Idee zu der Schrift Das Jesus Christus ein geborener Jude sei ist in der Schlusspassage der Magnificat-Auslegung in nuce enthalten: Sie wurde aber erst eineinhalb Jahre später realisiert. Der einzige historisch-kontextuelle Hinweis, den Luthers Schrift neben den erwähnten Anschuldigungen wegen Häresieverdachts enthält, bezieht sich auf ein Gespräch mit einem „frummen getaufften Juden“29, der ihm gesagt habe, dass die getauften Juden dann, wenn sie nicht „bey unser tzeyt das Evangelium gehort hetten, sie wern yhr leben lang Juden under dem Christen mantel blieben.“30 Die reformatorische Glaubensverkündigung, wie sie von Wittenberg ausging – so war Luthers durch den ‚Fall Bernhard’ gleichsam bestätigte Überzeugung –, bot den Juden erstmals seit Jahrhunderten einen Zugang zum Christusbekenntnis, wie er unter dem Papsttum undenkbar gewesen war. Die in der lateinischen Ausgabe von Dass Jesus Christus ein geborenen Jude sei mit abgedruckte lateinische Dedikationsepistel an den christlichen Bruder Bernhard ließ Luthers Reformation vor der internationalen Öffentlichkeit als eine Unternehmung erscheinen, die zu Judenbekehrungen führte. Einen deutlicheren Beweis für die Wahrheit der eigenen Lehre konnte es eigentlich nicht geben. Luther demonstrierte also seine theologische Überzeugung, dass den Juden eine Treue zum Glauben ihrer Väter nur vermittels der Bekehrung zu Christus möglich sei, anhand eines Exemplums, aus dem sich eindeutige Verhaltensregeln der Christen ableiten ließen: Man solle den „lugen teydingen“31 vom Ritualmord keinen Glauben schenken, die Juden durch freundliche Alltagskontakte den Reiz des Christentums nahe bringen und jede Zwangsmaßnahme, wie sie die Papstkirche praktiziert habe, ablegen.

Luther erwähnte in dieser Schrift nicht, dass er die Juden zur Taufe führen wollte; er wolle sie zu „rechten Christen“32 machen, die nicht unter dem „Christenmantel“33 Juden blieben. Gegenüber den Verhältnissen in der Papstkirche steigerte er also das religiöse Anspruchsniveau. Das Versagen der Papstkirche war schließlich auch dafür verantwortlich, dass die abendländische Christenheit nur spärliche oder fragwürdige Erfolge in der Judenbekehrung vorzuweisen hatte. Durch die mit der Verkündigung des Evangeliums von Gott heraufgeführte Zeitenwende in der eigenen Gegenwart werde sich dies ändern. Die Christen, die seine Schrift läsen, würden, so war Luther sicher, das Ihre dazu beitragen, Juden in offenen und freundlichen Gesprächen von der Wahrheit des christlichen Glaubens, die im Christuszeugnis des Alten Testaments, also der heiligen Schriften Israels enthalten sei, überzeugen.

In der jahrhundertelangen Beziehungsgeschichte zwischen Christentum und Judentum stellt Luthers Schrift von 1523 eine tiefgreifende Wende dar und wurde von einigen Zeitgenossen auch als eine solche empfunden. Zugleich steigerte Luther die Erwartungen an nennenswerte Judenbekehrungen. Die grundlegenden Selbstkorrekturen, die er später vornehmen sollte, sind eine Folge dessen, dass sich die euphorische Hoffnung auf Judenbekehrungen nicht erfüllte.

Hinzu kommt, und dies ist für die Interpretation der seit 1538 erschienenen Judenschriften entscheidend, dass die im Laufe der späteren 1520er und der 1530er Jahre einsetzenden städtischen und territorialen Reformationsprozesse die verantwortlichen Akteure dazu nötigten, ihrerseits konkrete judenpolitische Maßnahmen vorzuschlagen. Der Hinweis auf das Versagen der alten Autoritäten in Bezug auf die Judenfrage, mit dem man in den frühen 1520er Jahren noch Eindruck schinden mochte, verfing nun nicht mehr. Wie, wenn nicht durch die Verstockungstheorie, konnte man erklären, dass auch die lebhafteste evangelische Glaubensverkündigung keine Vermehrung der jüdischen Bekehrungen zur Folge hatte?!

Das chronologisch früheste literarische Zeugnis einer deutlich gewandelten Denkungsart in Bezug auf die Juden stellt Luthers Schrift Wider die Sabbather dar. Luther selbst ließ in einem Brief an Josel von Rosheim, den wichtigsten Sprecher der Judenheit im Reich, der ihn ohne Erfolg um Unterstützung gebeten hatte, als er versuchte, ein Durchzugsrecht der Juden durch Kursachsen zu erwirken, anklingen, dass er sich von den Juden getäuscht fühlte: Er habe für Freundlichkeit im Umgang mit ihnen plädiert, aber dann die Erfahrung gemacht, dass sie sich durch sein „Gunst und Forderung“34 in ihrem Irrtum bestärkt fühlten. Luther setzte nun also voraus, dass – entgegen der Erwartungen der frühen 1520er Jahre – jüdische Bekehrungen zum Christentum weitgehend ausgeblieben waren bzw. dass sich die Juden durch die Freundlichkeit, mit der ihnen begegnet würde, in ihrer Existenz bestätigt fühlten.

Für das Verständnis von Luthers später Judenpublizistik ist es wesentlich, dass er die enttäuschte Erwartung jüdischer Konversionen zum Christentum den Juden anlastete. Die Schrift Wider die Sabbather bezieht sich auf die vermeintlichen Folgen jüdischer Glaubenpropaganda, die dazu geführt hätten, dass unter Christen in Böhmen das mosaische Kultgesetz gehalten werde. Die vermeintliche jüdische Proselytenmacherei ist für Luther ein Beweis dafür, dass die Juden die ihnen gewährten Freiheiten schamlos missbrauchten, um den Glauben an Christus auf alle denkbare Weise zu unterminieren und zu schädigen. Die jüdische Mission ist für ihn ein Indiz, dass die seit 1536 verschärfte sächsische Judenpolitik im Recht ist.35

Als Anlass der Schrift Wider die Sabbather an einen guten Freund gibt Luther an, dass ihm durch einen ungenannten Adressaten eine Schrift zugegangen sei, aus der hervorgehe, dass Juden Christen verführten, so dass sich diese beschneiden ließen und glaubten, dass der Messias noch nicht gekommen sei. Gegen die Plausibilität von Luthers Behauptung, es sei der jüdisch infiltrierte täuferische Sabbatarismus in Mähren gewesen, der ihn zu der Schrift veranlasst habe, lassen sich gewichtige Einwände vortragen. Über die Sabbater erfährt man in der Schrift nichts, und seine Behauptung, diese ließen sich beschneiden, steht in einem direkten Widerspruch zu einer Aussage, die er selbst in den Tischreden über sie gemacht hat.36 Ein direkter Kontakt der Gruppe um den Chiliasten Oswald Glaidt zu Juden ist überdies nicht bezeugt. Mit dem Phänomen des Sabbatarismus war Luther schon seit 1532 bekannt, und zwar aufgrund einer Schrift Kaspar von Schwenckfeldts. Durchschlagende Indizien dafür, dass die Nachricht über die Sabbater ein realer Anlass für die Schrift gewesen ist, gibt es also nicht. Vielmehr spricht manches dafür, dass die eigentlichen Gründe für die Abfassung der Schrift, die vor allem den Nachweis zu führen versucht, dass der Messias schon vor 1500 Jahren, in Christus, gekommen sei und dass auf den Juden die Schuld seiner Verleugnung liege und das Gesetz außer Kraft gesetzt sei, im unmittelbaren historischen Umkreis ihrer Abfassung, dem Frühjahr 1538, zu suchen sind.

Luthers anonymer ‚guter Freund’ hat eine auffällige Parallele in einem ungenannten Adressaten, den Martin Bucer in einer Judenschrift desselben Jahres anführt.37 Die beiden Reformatoren, die sich gegen Ende der 1530er Jahre

publizistisch am deutlichsten zur ‚Judenfrage’ äußerten, Luther und Bucer, arbeiteten also mit demselben literarischen Mittel, einen anonym bleibenden Informanten, der sie angeblich mit belastenden Informationen über jüdische Umtriebe versorgt hatte, mit Argumenten gegen die Duldung von Juden zu versorgen. Nichts war bekanntlich für Juden gefährlicher, als sie der Proselytenmacherei zu bezichtigen. Genau dieses Mittels aber bediente sich Luther, um zu erreichen, dass protestantische Obrigkeiten von der von ihm einst selbst mit Nachdruck und Erfolg geforderten Judenduldung Abschied nahmen.

In Bezug auf die Abfassungs- und Publikationsumstände von Luthers berühmtester und berüchtigster Judenschrift, Von den Juden und ihren Lügen, gibt es einige Ungereimtheiten. Die bisherige Forschung hat das Buch, das Luther in Von den Juden als Anlass erwähnt, mit einer Schrift identifiziert, die der Reformator nachweislich am 18. Mai 1541 gelesen hat und die ihm vom Grafen von Schlick zugesandt worden war.38 In dieser Schrift äußerten „rabbini ex Judeorum“ Zweifel an Luthers Traktat Wider die Sabbather. Diese jüdische Schrift kennen wir nicht. Aus einer Tischrede geht aber hervor, dass sie Luthers exegetischer Argumentation aus Wider die Sabbather entgegengetreten und seiner Behauptung, Juden stachelten Christen zur Beschneidung auf, widersprochen hatte. Diese jüdische Schrift kann nicht mit jener Luther zugesandten Schrift identisch sein, die angeblich den Anlass für Von den Juden und ihren Lügen geboten hat. Denn bei dieser muss es sich um einen Dialog zwischen einem Christen und einem Juden gehandelt haben. In diesem Dialog habe der jüdische Gesprächspartner einzelne Sprüche der Schrift ‚verkehrt’ und gegen die lectio christiana gedeutet; der christliche Gesprächspartner aber habe der jüdischen Exegese nichts Angemessenes entgegenzusetzen gehabt.39

Es besitzt einige Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei dem Dialog um ein „Colloquium“ handelte, das der Basler Hebraist Sebastian Münster im August 1539 unter dem Titel „Messias Christianorum et Iudaeorum Hebraicae et Latinae“ veröffentlicht hatte.40 Eine indirekte Bestätigung erfährt diese Zuschreibung aus einer Tischrede Luthers, die aus der Abfassungszeit der Schrift Von den Juden, Winter 1542/3, stammt. Luther kritisierte in dieser Tischrede die alttestamentliche Übersetzung Sebastian Münsters, die allzu sehr auf die philologischen Einzelheiten gerichtet sei und nicht auf den theologischen Zusammenhang der Schrift achte: „O, die Hebrei – ich sag auch von den unsern – judentzen sehr: drumb habe ich sie auch in eo libello, quem scripsi contra Iudaeos [sc. Von den Juden] auch gemeint.“41 Luther betonte, dass beim Übersetzen nicht nur auf die Worte, sondern auch auf die Sache zu achten sei; dies aber unterließen Hebräisten wie Münster ebenso wie die Juden.

Diese Bemerkungen lassen keinen Zweifel daran, dass Von den Juden nicht nur gegen die Juden, sondern auch gegen christliche Hebraisten gerichtet war, die nach Luthers Meinung das christologische Zeugnis des Alten Testaments nicht hinreichend zum Tragen brachten. Und in der Tat: In Münsters Dialog war dem jüdischen Gesprächspartner, dem der gelehrte Verfasser eine Reihe an Argumenten gegen die Erfüllung messianischer Verheißungen des Alten Testaments in der Person Christi in den Mund legte, ein so bemerkenswertes Übergewicht zugekommen, dass kaum noch deutlich war, inwiefern sich die Christen zu Recht auf das Zeugnis des Alten Testaments berufen könnten. Münster hatte in großem Umfang außerbiblische jüdische Messiasvorstellungen referiert und damit dem jüdischen Kolloquenten einen Vorrang eingeräumt, der Luther schlechterdings anstößig war. Der theologische Kampf, den der Wittenberger in Von den Juden führte, war also auch ein Kampf um die lectio christiana des Alten Testaments, um die Plausibilität der christologischen Weissagungen und damit um die Legitimität des heilsgeschichtlichen Überbietungsanspruches des Christentums gegenüber dem Judentum.

Der Umstand, dass Luther seinen Widerspruch gegen Münsters Dialog ohne Namensnennung führte, war wohl vor allem den intensiven religionsdiplomatischen Beziehungen zwischen Wittenberg und Basel in den Jahren 1542/3 geschuldet.

Der entscheidende Anlass für Luthers schärfste Judenschrift lag primär in der aktuellen Judenpolitik protestantischer Territorialstaaten, auf die er einzuwirken versuchte. War im Kurfürstentum Sachsen 1539 noch ein bedingtes Durchzugsrecht der Juden erlassen worden, so wurde dies im Frühjahr 1543, also nach dem Erscheinen von Von den Juden unter expliziter Berufung auf Luther durch ein scharfes Mandat abgelöst. Wahrscheinlich hatte die Ausweisung der Juden aus dem Gebiet der böhmischen Krone in den Jahren 1541/2 zu vermehrten Durchzügen von Juden durch das angrenzende Sachsen geführt. Luthers Schrift war also auch ein Beitrag zu einem akuten migrationspolitischen Problem. Das Engagement, das Melanchthon und Spalatin bei der Versendung von Luthers Schrift Von den Juden an den Tag legten, lässt keinen Zweifel daran, dass man versuchte, eine einheitliche protestantische Judenpolitik im Reich zu initiieren. Nicht zuletzt die unablässige altgläubige Polemik, die Luther und die Reformation für einen Aufschwung des Judentums verantwortlich machte, hat dazu beigetragen, dass der Abwehrkampf gegen die Juden zu einem zentralen Thema der Publizistik avancierte.

Luthers schärfste Judenschrift zielte darauf ab, die Grundlage jedes jüdischen Lebens in Deutschland zu vernichten. Zu diesem Zweck nahm er in einer erschütternden enzyklopädischen Fülle und ohne jede sittliche und intellektuelle Scham auf, was immer er an belastbaren Nachrichten und Ressentiments über Juden vorfand. Konvertitenberichte, etwa der besonders einflussreiche des Antonius Margaritha, flossen ebenso ein, wie manche andere vorreformatorische Quelle, die sich aus den trübsten Rinnsalen des Antijudaismus’ speiste. Zwanzig Jahre, nachdem Luther die vom Papsttum verführte Christenheit dafür kritisiert hatte, die Juden bisher wie „hunde nicht menschen“42 behandelt zu haben, forderte er nun seinerseits dazu auf, die Juden „wie die tollen hunde aus[zu]iagen“43.

Luthers veränderte Haltung gegenüber den Juden, die jüdische Zeitgenossen besonders sensibel registrierten, ist als Ergebnis einer dramatischen Selbstkorrektur zu interpretieren. Einer Selbstkorrektur, die seines Erachtens deshalb erforderlich geworden war, weil die Existenz der Juden als Juden auf der Schmähung Christi basierte, sie keinerlei Neigung erkennen ließen, sich dem seines Erachtens durchschlagenden Weissagungsbeweis für Christus zu öffnen und die deshalb eine Gefährdung jedes christlichen Gemeinwesens darstellten. Juden sollten deshalb am besten dort leben, wo keine Christen sind, also beim Türken oder bei anderen Heiden.

Der Maßnahmenkatalog der „scharffen barmhertzigkeit“44, den Luther in Von den Juden entfaltete, war eigentlich die schlechtere Lösung und nichts anderes als ein Zugeständnis gegenüber weltlichen Obrigkeiten, die Juden wider alle Vernunft, allein aus finanziellen Interessen, in ihren Territorien dulden wollten. Darin, dass Luther die Austreibung der Juden für die beste Lösung hielt, unterschied er sich nicht etwa von der Auffassung einer von Bucer geleiteten hessischen Theologenkommission, die ähnlich votierte. Eine Ermordung von Juden lag außerhalb des Luther Vorstellbaren. Er wollte jüdischem Leben die Grundlage entziehen, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Der große Aufwand, den Luther betrieb, um zu diesem Ratschlag zu gelangen, war aber eine Folge dessen, dass er in dieser zentralen Frage eine nicht explizit gemachte Revision seiner frühreformatorischen judenpolitischen Position vortrug.

Über dieser Selbstkorrektur sollte man freilich die theologischen Kontinuitätsmomente in seiner Beurteilung des Judentums nicht übersehen. In keiner Phase seiner Entwicklung sah Luther im Judentum eine legitime Auslegungsgestalt der biblischen Überlieferung des Alten Testaments. Indem das Judentum die messianischen Aussagen des Alten Testaments verkannte, ging es in schuldhafter Weise in die Irre. Die jüdische Geschichte seit der Kreuzigung Christi galt Luther als ein einziger Beweis für Gottes Treue zu seinen alttestamentlichen Verheißungen und für die berechtigte Strafe, die Israel wegen seiner Verwerfung des Messias traf. Den ‚genealogischen Hochmut’ der sich auf ihre Abrahamssohnschaft berufenden Juden lehnte Luther 1523 genauso ab wie 1543. Seine Skepsis gegenüber einer bloß äußerlichen, durch die Taufe vermittelten Christianisierung der Juden hatte das religiöse Anspruchsniveau möglicher Konversionen in einer gegenüber der vorangehenden Kirchengeschichte dramatischen Weise gesteigert. Und die ausgebliebenen Missionserfolge, die Luther 1543 nicht mehr mit einer Schuldzuschreibung an die Papstkirche erklären konnte, reduzierten seine Frustrationstoleranz gegenüber jeder Form jüdischer Selbstbehauptung.

Durchgängig ist das Verhältnis zu Christus der Dreh- und Angelpunkt in Luthers Bewertung des Judentums geblieben. Den Talmud, ja alles jüdische Schrifttum, insbesondere die rabbinischen Exegetica, hat Luther scharf negativ bewertet. Das Judentum war für den Reformator durchgängig die Religion der menschlichen Selbsterhebung und Selbstrechtfertigung schlechthin; sie stand in einem kontradiktorischen Gegensatz zu seinem Verständnis des reformatorischen Rechtfertigungsglaubens. Insofern ist es zwar berechtigt, von einem judenpolitischen Paradigmenwechsel Luthers in Hinblick auf die Judenfrage, nicht aber von einer grundsätzlichen Veränderung seiner theologischen Position zu sprechen.

Luther hat seinen Appell zur Judentoleranz von 1523 als ein schwerwiegendes Versagen empfunden, für den er sich im Gericht würde verantworten müssen. Seine Erwartung, die Juden öffneten sich dem evangelischen Christusverständnis, das nach den langen Jahrhunderten der päpstlichen Dunkelheit nun wieder zu leuchten begonnen habe, hatte sich als folgenschwerer Irrtum erwiesen. Im Elend der Juden sah Luther den „Zorn Gottes über dis volck“45 konkretisiert, der den ewigen Zorn Gottes über die falschen Christen und die Heiden symbolisierte. Die Juden waren für Luther ein Mahnmal der göttlichen Verwerfung, weil sie Christus, den Heiland der Heiden und der Juden, verworfen hatten. Seine antijüdische Publizistik trieb Luther auch deshalb voran, weil er seine Selbstkorrektur öffentlich dokumentieren und nicht mehr dafür sein wollte, dass Juden in evangelischen Territorien geduldet wurden.

Luthers Bild der Juden ist kein Nebenthema seiner Theologie; es ist die Schattenseite seiner Christusliebe, seines Rechtfertigungsglaubens. Gerade deshalb ist Luthers Haltung gegenüber den Juden kein Thema, dessen sich die evangelische Christenheit kurzerhand, und sei es durch Distanzierungsformeln, entledigen kann. In Bezug auf die konkrete Judenpolitik endete Luther da, wo schon die vorreformatorische Theologie in ihrer Mehrheit gestanden hatte und die altgläubige Theologie immer noch stand. In dem, was ihn für unsere Zeit in Bezug auf den Umgang mit den Juden so verachtungswürdig macht, fällt Luther aus seiner Zeit nicht heraus. Eine Entschuldigung kann dies bei einem Mann vom Format Luthers nicht sein. Denn er ist eben Luther. Doch als dieser war er – und niemand wusste dies wie er – eben auch nur ein „verdammter armer, unwürdiger, elender Sünder“.46

Für unseren Umgang mit Luther kann dies nur bedeuten, dass es eine andere als eine historisch–distanzierende Umgangsweise mit ihm nicht geben kann. Luther ist eine Gestalt einer fremden Zeit, einer fernen Welt; ich denke, jede Form der identifikatorischen Umgangsweise mit ihm hat beendet zu werden. Genauso wenig wie sich ein zurechnungsfähiger Zeitgenosse unserer Tage den Heilkünsten eines Baders, Barbiers oder Arztes des 16. Jahrhunderts anvertrauen würde, können wir uns in Bezug auf wesentliche Grundfragen unseres christlichen Glaubens einfach mit der ungeprüften Wiedergabe theologischer Aussagen Luthers oder anderer Gestalten der

Reformationszeit zufriedengeben. Unsere eigene Erfahrung, unsere eigene Vernunft ist gefordert; auf die Stimmen der Alten zu hören, kann nicht bedeuten, sie nachzusprechen oder ihrem Sirenenklang zu folgen.

Unter seinen Zeitgenossen war Luther in Bezug auf seine Haltung gegenüber den Juden darin eine Ausnahmeerscheinung , dass er nachdrücklicher und erfolgreicher als andere zunächst für die Judenduldung, dann für ihre Austreibung eintrat. Sein Positionswechsel deckt also ein einzigartig dramatisches Spektrum ab; auch in der Intensität, mit der er um eine christologische Lesart des Alten Testaments rang, sucht man Seinesgleichen. Alles andere fügt sich in seine Zeit und seine Welt ein.

Durch die erschütternde, beschämende, aufwühlende, deprimierende und aufrüttelnde Geschichte des christlichen Antisemitismus, in die Luther hineingehört und die auf ihre Weise dazu beigetragen hat, dass Auschwitz möglich war, blicken wir anders auf das Verhältnis zur Judenheit als Luther es tat. Der Zivilisationsbruch, der sich mit dem Namen Auschwitz verbindet, lässt jede Apologetik, auch gegenüber Luther, unangemessen erscheinen. Das ist unsere Verantwortung; seine war eine andere.

 

1 Vgl. Johannes Brosseder, Luthers Stellung zu den Juden im Spiegel seiner Interpreten [Beiträge zur Ökumenischen Theologie 8], München 1972; Andreas Späth, Luther und die Juden [Biblia et simbiotica 18], Bonn 2001.
2 Thomas Kaufmann, „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation [Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 97], Göttingen 2008; Johannes Ehmann, Luther, Türken und Islam. Eine Untersuchung zum Türken- und Islambild Martin Luthers (1515-1546) [Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 80], Gütersloh 2008; Adam S. Francisco, Martin Luther and Islam. A Study in Sixteenth-Century Polemics abd Apologetics [History of Christian-Muslim Relations 8], Leiden, Boston 2007.
3 Vgl. David I. Kertzer, Die Päpste gegen die Juden. Der Vatikan und die Entstehung des modernen Antisemitismus, München 2004, S. 249 (L’Osservatore Romano 16.9.1899, S. 1). Zum Thema Luther und die Juden gibt es eine Fülle an Literatur. An neueren Arbeitern sei lediglich verwiesen auf: Rolf Decot / Matthieu Arnold (Hg.), Christen und Juden im Reformationszeitalter, Mainz 2007; Achim Detmers, Reformation und Judentum. Israel- Lehren und Einstellungen zum Judentum von Luther bis zum frühen Calvin, Stuttgart 2001; Dean Phillipp Bell / Steven G. Burnett (Hg.), Jews, Judaism and the Reformation in the Sixteenth-Century Germany, Leiden u.a. 2006; Thomas Kaufmann, Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualsierung, Tübingen 2. Aufl. Tübingen 2013; Peter von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden – neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31), Stuttgart 2002; Volkmar Joestel / Friedrich Schorlemmer (Hg.), Dass Jesus Christus ein geborner Jude sei. Martin Luther und die Juden, eine Textsammlung, Wittenberg 2007.
4 Vgl. Martin Friedrich, Zwischen Abwehr und Bekehrung. Die Stellung der deutschen evangelischen Theologie zum Judentum im 19. Jahrhundert, Tübingen 1988.
5 Vgl. Johannes Wallmann, The Reception of Luther’s Writings on the Jews from the Reformation tot he end of the 19th Century, in: Lutheran Quarterly 1, 1987, S. 49-60.
6 Zit. nach Christian Wiese, „Unheilsspuren“. Zur Rezeption von Martin Luthers „Judenschriften“ im Kontext antisemitischen Denkens in den Jahrzehnten vor der Shoah, in: Peter von der Osten-Sacken (Hg.), Das missbrauchte Evangelium. Studien zur Theologie und Praxis der Thüringer Deutschen Christen, Berlin 2002, S. 91-135, hier: S. 98.
7 Erich Vogelsang, Luthers Kampf gegen die Juden, Tübingen 1933, S. 6.
8 Martin Sasse, Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen! Freiburg/B. 1938, S. 2.
9 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgericht. Nürnberg 14.11.1945-1.10.1946, Bd. 12, Nürnberg 1947, S. 346.
10 Erschienen im Verlag Gustav Broukal Press in Austin, Texas.
11 So die Wiedergabe Uwe Simon Nettos, Luther als Wegbereiter Hitlers. Zur Geschichte eines Vorurteils, Gütersloh 1993, S. 34.
12 So: Der Spiegel 51, 15.12.2003, S. 76.
13 Vgl. WABr 11, Nr. 4195, S. 275-277; vgl. 287, 17ff; vgl. Ayre Maimon (Hg.), Germania Judaica III/1, Tübingen 1987, S. 294.
14 Germania Judaica III/1, wie Anm. 10, S. 293.
15 Ayre Maimon s.A. – Mordechai Breuer – Yacov Guggenheim (Hg.), Germania Judaica III,/2, Tübingen 1995, S. 832.
16 AaO, S. 778.
17 Germania Judaica III/1, wie Anm. 10, S. 310f.
18 Vgl. die in Kaufmann, Luthers „Judenschriften, wie Anm. 3, S. 157f; 93 Anm. 42. gegebenen Nachweise.
19 Vgl. WABr 11, Nr. 4195, S. 275-277 (1. Febr. 1546).
20 WABr 3, S. 428, 14ff; 429 mit Anm. 15; 439, 4ff; WaBr 6, Nr. 1998, S. 427; vgl. von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden, wie Anm. 3, S. 103ff., bes. 108f.
21 Vgl. Thomas Kaufmann, Das Judentum in der frühreformatorischen Flugschriftenpublizistik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 95, 1998, S. 429-461; ders., Luthers „Judenschriften“, wie Anm. 3, S. 42ff.
22 WABr 3, Nr. 629, S. 102, 37-40.
23 WA 11, S. 336, 28f.
24 Vgl. zur Rekonstruktion im Einzelnen: Kaufmann, Luthers „Judenschriften“, wie Anm. 3, S. 13ff.
25 Vgl. jetzt: Christoph Burger, Marias Lied in Luthers Deutung [Spätmittelalter und Reformation Neure Reihe 34], Tübingen 2007, S. 166ff.
26 WA 7, S. 600, 17f = LuStA1, S. 361, 36-38.
27 WA 7, S. 600, 27f = LuStA1, S. 362, 7f.
28 WA 7, S. 600, 36ff. = LuStA1, S. 363, 13ff.
29 WA 11, S. 315, 10.
30 WA 11, S. 315, 10-12.
31 WA 11, S. 336, 25ff.
32 WA 11, S. 315, 15; vgl. S. 315, 9.
33 WA 11, S. 315, 11f.
34 Vgl. WABr 8, S. 89, 9-10; vgl. WABr 8, S. 91, 58f.; vgl. WA 50, S. 309.
35 WATr 3, Nr. 3597; vgl. zum Kontext: Kaufmann, Luthers „Judenschriften“, wie Anm. 3, S. 83ff.
36 Vgl. WATr 1, S. 149, 18f.; S. 166, 4-9; WATr 4, Nr. 4795; Kaufmann, Luthers „Judenschriften“, wie Anm. 3, S. 87 Anm. 26.
37 Vgl. Martin Bucers Deutsche Schriften Bd. 7, Gütersloh 1964, S. 332; 362ff.
38 Vgl. WATr 4, S. 517, 4ff.; siehe Kaufmann, Luthers „Judenschriften“, wie Anm. 3, S. 90ff.
39 WA 53, S. 417, 17f.; S. 525, 30f.; Kaufmann a.a.O., S. 535ff.
40 Vgl. Kaufmann, a.a.O., S. 97ff.
41 WATr 5, Nr. 5521, S. 212, 15-17.
42 WA 11, S. 315, 3f.
43 WA 53, S. 541, 36-542,1.
44 WA 53, S. 522, 35.
45 WA 53, S. 418, 30ff.
46 WABr 9, Nr. 3699 (6.1.1542).

 

Vortrag am 20. November 2013 in der Evangelischen Akademie der Nordkirche in Hamburg.
Quelle luther2017.de unter dem Titel „Luther und die Juden“
Im letzten Jahr erschien von Thomas Kaufmann das Buch „Luthers Juden“, Stuttgart 2014

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