Antijudaismus im 19. Jahrhundert: Die Sozialdemokratie
von Klaus-Peter Lehmann

Allgemeines
Die Sozialdemokratie war in Deutschland die einzige gesellschaftspolitische Bewegung, in der der Antisemitismus als Problem ernst genommen und als Phänomen soziogisch analysiert wurde. Die Sozialdemokratie die einzige Partei, die den Antisemitismus entschieden verurteilte und allen Versuchungen widerstand sich seiner wahltaktisch zu bedienen. Friedrich Engels, August Bebel, Karl Kautsky und Leonhard Bernstein bezeichneten den Antisemitismus als unvereinbar mit Demokratie und Sozialismus. Dennoch enthielten die sozialistischen Stellungnahmen zum Antisemitismus grundlegende Irrtümer über das Judentum, die für spätere Fehleinschätzungen des Nationalsozialismus mitverantwortlich zeichnen.

Im Blick auf die weltanschaulichen Quellen, aus denen die Sozialdemokratie Lasallescher und Marxscher Prägung sich speiste, war das keineswegs selbstverständlich. Sowohl das Gedankengut der frühsozialistischen Utopisten Frankreichs, als auch die Schule der Hegelianer sowie Ferdinand Lasalle (1825-1864) und Karl Marx (1818-1883) selbst waren geprägt von antijüdischen Vorurteilen.

Die utopischen Sozialisten
Durch die Werke von Henri de Saint-Simon (1760-1825), Charles Fourier (1772-1837) und Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) zieht sieht der Antisemitismus wie ein roter Faden. Anders als Marx sahen sie im Handel und Geldwesen das Herz des Kapitalismus. Der Finanzsektor sei vom Judentum okkupiert, so dass es den Kapitalismus als Tausch, Schacher und Profit verkörpere. Diese unheilvolle Gleichsetzung legt sogar die französische Sprache nahe, in der das Wort juiverie gleichermaßen mit Judentum, Ghetto und Wucher wiedergegeben werden kann. Nach Proudhon beherrschten die Juden als Verbündete der Monarchie insgeheim die Gesellschaft. Man solle sie nach Asien deportieren, meinte auch Fourier.  (1)  Manchen französischen Sozialisten galt der Handel als unproduktiver Sektor, demzufolge wären die Juden Parasiten. Andere betrachteten den Handel als bedeutsam für die wirtschaftliche Prosperität. Sie äußerten sich nicht antisemitisch. Die sozialistische Presse in Frankreich beurteilte den Antisemitismus weithin als positiv, als noch unentwickelte Larvenform eines klassenbewussten Antikapitalismus.

Die Hegelsche Linke
Auch die Denker im Umkreis der Hegelschule unterlagen antijüdischen Vorurteilen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) selbst sah im System seiner Fortschrittsgeschichte der Menschheit als Selbstentfaltung des Geistes eine mehrstufige Entwicklung vom Polytheismus über das Judentum zum Christentum, einmündend in das absolute Bei-sich-sein des Geistes (= Philosophie) nach dem idealisierten Bild der griechischen Polis. Dabei gerinnt das Judentum zum Sammelpunkt des Negativen. Abrahams Wille zur Unabhängigkeit sei verbunden mit Gleichgültigkeit und Liebesverzicht gegenüber Heimat und Herkunft, was zu einer Haltung der Beherrschung der Welt führe, zu einer selbstsüchtigen Liebe.  (2)  Das stehe im Gegensatz zum Ideal der christlichen Liebe.
Ähnlich sieht es Ludwig Feuerbach (1804-1872): Die personifizierte Selbstsucht des israelitischen Volkes mit Ausschluss aller anderen, die absolute Intoleranz – das Geheimnis des Monotheismus kulminiere in einem religiösen Prinzip, dem  Egoismus in der Form der Religion.  (3) 

Auch wenn Hegel und Feuerbach die rechtliche Gleichstellung der Juden bejahten, schwammen sie im Strom des Antijudaismus. Dasselbe gilt für Ferdinand Lassalle und Karl Marx. Wie alle Hegelianer meinten sie, aufgrund der Höherentwicklung der Menschheit müsse das Judentum notwendigerweise untergehen. Mit allen emanzipierten oder sozialistischen Juden sahen sie auf ihr Judentum mit Verachtung oder ignorierten es. Die Leiden der Juden im zaristischen Russland erregten weder ihr Mitleid noch ihr Interesse. Nur den jungen Lassalle erfüllte die Judenverfolgung in Damaskus 1840 mit Empörung.  (4)  Lassalle bekannte sich offen zu seinen Antipathien gegen die Juden: Ich kann behaupten, dass ich kein Jude mehr bin. Ich liebe die Juden gar nicht, ich verabscheue sie sogar im allgemeinen. In sehe in ihnen nichts als die äußerst degenerierten Söhne einer großen, aber längst vergangenen Zeit. Diese Menschen haben in den Jahrhunderten ihrer Versklavung die Eigenschaften von Sklaven angenommen, und deshalb bin ich ihnen so unfreundlich gesinnt. Ich habe auch keinerlei Berührung mit ihnen. Unter meinen Freunden und in der Gesellschaft, die mich umringt, gibt es fast keinen einzigen Juden.  (5)

Auch in Marx‘ Schrift Zur Judenfrage bilden antijüdische Vorurteile, ein vom Hegelianismus geprägter weltanschaulicher Antijudaismus und die Erwartung vom Untergang des kulturell bzw. religiös degenerierten Judentums die Kulisse. Hinzu kommen perfide klingende, das Persönliche vergiftende, mit Ressentiments geladene Äußerungen, wie z.B. Marx‘ ausfällige Sottise gegen Lassalle, den er einen jüdischen Nigger nannte.  (6)  Trotzdem bleibt festzuhalten, dass die Sozialdemokratie aus Marx‘ judenfeindlicher Schrift kein Wasser auf die Mühlen der antisemitischen Bewegung gelenkt hat. Das liegt vielleicht auch an der eigenartigen Form, mit der Marx das Problem des Judentums und der Judenemanzipation behandelt. Für ihn handelt es sich nur um eine ideologische Frage. Die Bindung vieler Juden an den Finanzsektor des Kapitalismus sei kein soziologisches Problem, sondern ein religions- bzw. ideologiegeschichtliches. Marx richtet sich gegen das angeblich religiöse Unwesen des Judentums. Dieses hat für Marx im Kapitalismus seine säkulare Selbstverwirklichung gefunden: Der Gott der Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott geworden. Die Juden seien eine antisoziale Kaste von Börsenjobbern, eine chimärische Nation von Kaufleuten und Geldmenschen. Das Marxsche Vokabular modernisiert älteste Judenfeindschaft. Seine Wirkung verpufft aber eigenartig, wenn es heißt: Aus ihren eigenen Eingeweiden erzeugt die bürgerliche Gesellschaft fortwährend den Juden. Hier wird der Jude zum Synonym für die skrupellosen Geldmacher, von denen es viel mehr Nichtjuden gibt. Für die Marxsche Religionskritik, verbunden mit der ökonomischen Gesellschaftskritik, wird das Judentum zu einem Phantom, das sich mit der allgemeinen Emanzipation der Gesellschaft und dem Absterben der Religion von selbst auflösen wird. Mit der Abschaffung des Kapitalismus, indem sich das Unwesen des Judentums inkarniert habe, verschwindet das Judentum von selbst. Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum. Alle nichtjüdischen und viele jüdische Sozialisten erwarteten das Verschwinden des Judentums, meinten aber, dieser Prozess sei eingebettet in den notwendigen Untergang der kapitalistischen Gesellschaft, deren Ende die sozialistische Politik der proletarischen Parteien zu befördern hatte. Eine Bekämpfung der Juden erübrigte sich von daher und würde von der antikapitalistischen Stoßrichtung nur ablenken.

Die Stellung der deutschen Sozialdemokratie zum Antisemitismus  (7)
Als die Bewegung des Hofpredigers Adolf Stoecker mit ihrer antisemitischen Agitation auch in Berliner Arbeiterkreisen Fuß zu fassen versuchte, sah sich die sozialdemokratische Partei zu einer Stellungnahme aufgefordert. Selbst noch unter dem Druck des Bismarckschen Sozialistengesetzes verfasste sie im Januar 1881 eine klare Resolution, in der sie alle Bestrebungen die verfassungsmäßige bürgerliche Gleichberechtigung der Juden anzutasten, entschieden zurückwies. Sie warnte die Arbeiter vor der Beteiligung an einer scheinbar volksfreundlichen, aber zutiefst reaktionären Bewegung. Demonstrativ stellte sie für die Wahl ins Berliner Stadtparlament den jüdischen Fabrikanten Paul Singer als ihren Kandidaten auf.

Je mehr die antisemitische Bewegung um sich griff, umso mehr wuchs das Interesse der Sozialdemokratie an einem soziologischen Verständnis des Antisemitismus, an seinen ökonomischen Wurzeln. Erstmals beschrieb Friedrich Engels den Antisemitismus als den ideologischen Überbau einer ökonomischen Besonderheit: Der Antisemitismus ist nichts anderes als eine Reaktion mittelalterlicher, untergehender Gesellschaftsschichten gegen die moderne Gesellschaft und dient daher nur reaktionären Zwecken unter scheinbar sozialistischem Deckmantel… damit können wir nichts zu schaffen haben.  (8) 

Auf dem Kölner Parteitag der SPD im Oktober 1893 präsentierte August Bebel eine gründliche Beschreibung, die das widersprüchliche Phänomen des Antisemitismus ernsthaft zu erfassen versuchte. Bebel verwies auf den pseudosozialistischen Ultrakonservatismus, auf die mit Beteuerungen von Königstreue einhergehende verlogene Oppositionshaltung, auf seine Funktion, den in Wirtschaftskrisen bedrohten kleinbürgerlichen Schichten ein Feindbild anzubieten, auf seine Verbreitung bei den reaktionären Junkern und Pfaffen. Seine soziologischen und psychologischen Ausführungen waren einleuchtend und mündeten in eine optimistische Resolution.

Die Sozialdemokratie bekämpft den Antisemitismus als eine gegen die natürliche Entwicklung der Gesellschaft gerichtete Bewegung, die jedoch trotz ihres reaktionären Charakters und wider ihren Willen schließlich revolutionär wirkt, weil die von dem Antisemitismus gegen die jüdischen Kapitalisten aufgehetzten kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Schichten zu der Erkenntnis kommen müssen, dass nicht bloß der jüdische Kapitalist, sondern die Kapitalistenklasse überhaupt ihr Feind ist und dass nur die Verwirklichung des Sozialismus sie aus ihrem Elende befreien kann.

Der grundlegende Fehler dieser Resolution liegt in einer, wohl ideologisch vorgeprägten, falschen Wahrnehmung. Sie übersieht oder ignoriert, dass sich der Antisemitismus nicht nur gegen die jüdischen Kapitalisten, sondern gegen alle Juden als solche richtet. Deshalb bleibt auch die ernsthaft bemühte und soziologisch einleuchtende Darstellung Bebels und die in der Sache entschiedene Stellungnahme des Parteitages schon in ihren Grundlagen ungenügend. Es fehlen letztlich auch bei den marxistischen Sozialisten die Voraussetzungen, um dem Phänomen des Antisemitismus gerecht werden zu können. Vielmehr reihen sich an die fehlende Grundeinsicht weitere Irrtümer.

  • Die vollständige Ein- bzw. Unterordnung des Antisemitismus in das geschichtliche Klassenkampfschema.
  • Der geschichtliche Optimismus, die Judenfrage werde sich mit der Entwicklung der Gesellschaft, der Zuspitzung der Klassengegensätze und der Annäherung an den Sozialismus, von selbst auflösen, führte zu zwei Fehleinschätzungen, der Unterschätzung des Antisemitismus und der des Nationalsozialismus.
  • Als die Massenbewegung des Antisemitismus vor der Jahrhundertwende verebbte, sah man darin den Beginn der vollständigen Assimilation und des Endes der Judenfrage. Zu dieser Ansicht verführte auch das Verhalten der sozialdemokratischen Juden, die nur deutsche Sozialisten und keine Juden sein wollten.
  • Als in der Weimarer Republik der Antisemitismus sein mörderisches Haupt zu erheben begann, hatten weder Sozialdemokraten noch Kommunisten die Mittel, dem Wahn des Vernichtungsbarbarismus einen politisch adäquaten Begriff zu geben. Das führte zur Verkennung des Nationalsozialismus und zum Versagen des Widerstandes.
  • Ein weiteres grundlegendes Manko bestand darin, in Übereinstimmung mit dem herrschenden bürgerlichen Säkularismus das Judentum ausschließlich als Religion und nicht als Volk zu betrachten. Das führte zu einer strikten Ablehnung des Zionismus als nationalistisch und reaktionär. Für den Zionismus als Befreiungsbewegung des jüdischen Volkes fehlte jede Antenne.  (9)

 

  1. W. Benz, Handbuch des Antisemitismus, Berlin 2010, S. 306
  2. M. Brumlik, Deutscher Geist und Judenhass, München 2000, S. 214
  3. J. Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung, Berlin 1990, S. 162
  4. W. Blumenberg, Marx, Hamburg 1962, S. 48
  5. F. Lassalle, Brief, 1860
  6. Der jüdische Nigger Lassalle, der glücklicherweise Ende dieser Woche abreist, hat glücklich wieder 5000 Taler in einer falschen Spekulation verloren… Es ist mir völlig klar, dass er, wie auch seine Kopfbildung und sein Haarwuchs beweist, von den Negern abstammt, die sich dem Zug des Moses aus Ägypten anschlossen /wenn nicht seine Mutter oder Großmutter von väterlicher Seite sich mit einem Nigger kreuzten). Nun, diese Verbindung von Judentum und Germanentum mit der negerhaften Grundsubstanz müssen ein sonderbares Produkt hervorbringen. Die Zudringlichkeit des Burschen ist auch niggerhaft (Privatbrief Marx an Engels, 1862, MEW 30, 257).  Das Gewicht solcher Äußerungen in Privatbriefen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren und in denen Marx und Engels, sich unter sich wissend, in einer Weise über ihre Bekannten ausließen, die alle Grenzen des anständigen Geschmacks sprengte, ist nicht leicht zu auszutarieren.
  7. Vgl. W. Kampmann, Deutsche und Juden, Frankfurt a.M. 1979, S. 322-349
  8. F. Engels, Wiener sozialdemokratische Arbeiterzeitung, 9.5.1890, s. P. W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt a.M. 1986, S. 189
  9. Die  marxistischen Sozialisten kritisierten den Zionismus als utopistisch, ohne ökonomische Grundlage und rückwärtsgewandt. So z.B. Karl Kautsky in seiner zusammenfassenden Erläuterung der Stellung der Sozialdemokratie zu „Rasse und Judentum“, Neue Zeit, 1914, Ergänzungsheft Nr. 20

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