Die Einzigkeit Gottes und die Einzigkeit jedes Menschen
– das eine Volk und die Vielfalt der Völker.
Biblisches in der Spannung von Universalität und Partikularität

von Klaus Wengst

Es gibt ein Klischee, nach dem das Alte Testament wesentlich partikular orientiert sei, das Neue Testament wesentlich universal. Aber eben: Das ist ein Klischee. Auch das Alte Testament hat die Universalität der Völker und Menschen im Blick, auch das Neue Testament hält an der Partikularität Israels und jedes einzelnen Menschen fest. Partikularität und Universalität bleiben in beiden Testamenten spannungsvoll aufeinander bezogen. Dem will ich in einigen Aspekten nachgehen.

1. Die bleibende Unterschiedenheit zwischen Israel und den Völkern
Die jüdische Bibel, für Christinnen und Christen zu ihrem Alten Testament geworden, kennt die Grundunterscheidung zwischen „dem Volk“ im Singular, womit Israel bezeichnet wird, und „den Völkern“ im Plural, womit alle anderen Völker gemeint sind. Die Bezeichnung im Plural bedeutet keine Wertung; sie ist neutral. Ob „die Völker“ positiv oder negativ eingeschätzt werden, hängt von ihrem Verhalten gegenüber Israel ab, ob sie es bekämpfen und vernichten wollen – dafür steht vor allem „Amalek“ – oder ob sie es leben lassen. Luthers häufige Übersetzung der hebräischen und griechischen Worte für „Völker“ mit „Heiden“ ist daher fehlleitend, da das Wort „Heiden“ im Deutschen pejorativ besetzt ist. Außerdem verwischt es – da wir ja keine „Heiden“ sind –, dass wir nach dieser biblischen Grundunterscheidung gleichwohl zu „den Völkern“ gehören und nicht „das Volk“ sind.

Dieselbe Unterscheidung gilt fast durchgängig auch für das Neue Testament. „Das Volk“ bezeichnet in den allermeisten Fällen das jüdische Volk, Israel. So heißt es in Apg 10,2 von dem Centurio Kornelius in Cäsarea: „Er war fromm und gottesfürchtig mit seinem ganzen Haus, erwies dem Volk viele Wohltaten und betete immer nur zu Gott.“ Lukas setzt ganz selbstverständlich voraus, dass seine Leserinnen und Leser wissen: Wenn er von „dem Volk“ spricht, meint er das jüdische Volk, und wenn er von „Gott“ spricht, meint er Israels Gott als den einen und einzigen Gott. Einige Male stehen „das Volk“ und „die Völker“ in einem prägnanten Gegenüber. Nach der Apostelgeschichte gibt Paulus im autobiographischen Rückblick seiner Rede vor König Agrippa wieder, was ihm Jesus bei seiner Berufung gesagt habe: „Jetzt aber: Steh auf und stell dich auf deine Füße! Denn dazu bin ich dir erschienen, um dich als Diener und Zeugen dessen auszuwählen, als was du mich gesehen hast und als was ich dir noch erscheinen werde. Und ich rette dich vor dem Volk und vor den Völkern, zu denen ich dich sende. Du sollst ihnen die Augen öffnen, dass sie sich von Finsternis zum Licht wenden, von Satansmacht zu Gott, dass sie Sündenvergebung und Anteil unter den Geheiligten erlangen im Vertrauen auf mich“ (Apg 26,16–18). Kurz danach spricht er noch einmal in unmittelbarem Zusammenhang von „dem Volk“ und „den Völkern“ (Apg 26,23). Im Evangelium lässt Lukas den greisen Symeon mit dem sechs Wochen alten Jesus auf dem Arm Gott preisen: „Meine Augen haben gesehen, womit du retten willst, was du bereitet hast vor dem Angesicht aller Völker, ein Licht zur Offenbarung für die Völker und zum Glanz für dein Volk Israel“ (Lk 2,30–32). Paulus fordert im zusammenfassenden Abschnitt des Römerbriefes die von ihm Angeschriebenen, die zur Völkerwelt gehören, mit dem Zitat aus Dtn 32,43 auf: „Freut euch, ihr Völker, mit seinem (Gottes) Volk!“ (Röm 15,10) Im Bericht über das Treffen in Jerusalem stellt Paulus zweimal „die Beschneidung“ als Kennzeichen des jüdischen Volkes „den Völkern“ gegenüber (Gal 2,8–9). Und in Röm 3,29 fragt er: „Oder ist etwa Gott allein Gott der Juden? Nicht auch der Völker?“ und antwortet emphatisch: „Ja, auch der Völker““ Der Ton liegt auf dem „Auch“.

Neben „dem Volk“, also Israel, gibt es im Plural „die Völker“. An sie weiß sich Paulus gesandt. Er versteht sich von Jesus als dem Gesalbten dazu beauftragt, „ein begnadeter Gesandter zu sein, damit seinem Namen in allen Völkern vertrauensvoll gefolgt werde“ (Röm 1,5). So ist er „Gesandter an die Völker“ (Röm 11,13). Diese Adressierung seines Auftrags umschreibt er im Proömium des Römerbriefes in aufschlussreicher Weise: „Griechen sowohl als auch Barbaren, Gebildeten und Ungebildeten bin ich verpflichtet“ (Röm 1,14). Für die griechisch sprechende Welt sind alle anderen Barbaren, was kulturelle Rückständigkeit meint. In der griechischen Perspektive sind in der Wendung „Griechen und Barbaren“ alle eingeschlossen, nicht aber für Paulus, für den die biblische Unterscheidung zwischen „dem Volk“ und „den Völkern“ gilt. In dieser ihm vorgegebenen Perspektive bilden „Griechen und Barbaren“ die Gesamtheit der Völker im Gegenüber zum Volk Israel. In diesem Gegenüber können „Griechen“ auch pars pro toto für „die Völker“ stehen. Das ist der Fall in der dreimal begegnenden Wendung „Juden zuerst, aber auch Griechen“ (Röm 1,16; 2,9–10). Wieder findet sich das „Auch“. Da Paulus sich für die Völker zuständig weiß, legt er darauf den Ton. Aber zunächst nimmt er mit dem „Zuerst“ eine Gewichtung vor. Er markiert damit einen bleibenden Unterschied; Israel als „das Volk“ hat ein Prae.

Worin ist es begründet, dass von Israel als „dem Volk“ geredet wird, dem alle anderen Völker gegenüberstehen? Einen Hinweis auf die Antwort gibt der Umstand, dass Paulus im Gegenüber zu den Völkern von Israel als der „Beschneidung“, der „Beschnittenheit“ sprechen kann. Die Beschneidung ist das Zeichen des Bundes, den Gott nach dem biblischen Zeugnis mit diesem Volk geschlossen hat, angefangen mit Abraham, Isaak und Jakob. So gibt er sich als „der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“ zu erkennen (dreimal in Ex 3; im Neuen Testament in Mt 22,31 parr.), als „Israels Gott“ (im Neuen Testament etwa Mt 15,31). Israel ist also „das Volk“, weil es Gottes Volk ist. Noch einmal sei die Aufforderung des Paulus in Röm 15,10 zitiert: „Freut euch, ihr Völker, mit seinem Volk!“ Israel ist „das Volk“, weil es Gott gefallen hat, sozusagen in Israel zur Welt zu kommen, sich der Welt als Israels Gott bekannt zu machen im Zeugnis seines Volkes: „Ihr seid meine Zeugen, Spruch des Ewigen, und ich bin Gott“ (Jes 43,12).

Dieser Zusammenhang von Gott und seinem Volk Israel weist auf die Besonderheit des biblischen Redens von Gott hin. Sie besteht in dem Zusammendenken von Gott und bestimmter, höchst partikularer Geschichte. Von dem großen Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, wird geredet im Erinnern der Geschichte des kleinen Volkes Israel. Dieses Erinnern bezeugt, dass Gott Israel souverän erwählt, dass er mit ihm mitgeht, dass er da ist und sich entzieht, es reich beschenkt und ihm zürnt und es zurechtweist, dass er Mitleid mit ihm hat und mitleidet und in all dem treu und verlässlich ist. An dieser Partikularität hängt die Konkretheit des Redens von Gott, das Erzählen einer Geschichte in Geschichten.

Das ist im Neuen Testament nicht anders, ja noch einmal zugespitzt, indem hier Gott zusammengedacht wird mit dem Leben und Sterben eines einzelnen Menschen aus diesem jüdischen Volk, mit Jesus aus Nazaret, der zudem ein schlimmes Schicksal gehabt hat. Auch im Erinnern seiner Geschichte werden Geschichten so erzählt, dass sie das Mitsein Gottes bezeugen.

Die auf Jesus bezogene messianische Verkündigung hat sich alsbald als attraktiv für Menschen aus der Völkerwelt erwiesen. Durch den Glauben an Jesus als den messianischen Endzeitkönig wurden sie kraft des heiligen Geistes zu Israels Gott als dem einen Gott in Beziehung gesetzt und in ihr gehalten, ohne dass sie ins jüdische Volk integriert wurden. Dadurch wurde der Unterschied zwischen ihnen und diesem Volk in bestimmten Hinsichten vergleichgültigt. Das wird in großer Deutlichkeit von Paulus im Römerbrief ausgeführt. Zweimal formuliert er im Blick auf Juden und Nichtjuden: „Es gibt ja keinen Unterschied.“ In Röm 3,23 begründet er das negativ: „Denn alle haben gesündigt und es fehlt ihnen am Glanz Gottes.“ Im Blick auf die jüdische Seite hatte er dafür zuletzt ausführlich Schriftzitate beigebracht (Röm 3,10–18) und festgestellt, dass das, was die Tora sagt, sie zu denen redet, die im Geltungsbereich der Tora sind (Röm 3,19). Für die nichtjüdische Welt hatte er die Verfallenheit an die Sünde schon vorher ausgeführt. In positiver Hinsicht begründet er die Aussage, dass es„keinen Unterschied zwischen Juden und Griechen“ gebe, damit, dass es „derselbe Herr über alle“ sei, „der reich ist für alle, die ihn anrufen“ (Röm 10,12). Das hatte er ab 3,21 ausgeführt, beginnend mit der Feststellung, dass durch Jesus „Gottes Gerechtigkeit“, seine rettende Hilfe, „außerhalb des Geltungsbereiches der Tora sichtbar geworden“ und also auch Menschen aus der nichtjüdischen Welt zugutegekommen sei. Im Fortgang der Darstellung dieses Aspekts findet sich dann wiederholt das schon erwähnte „Auch“: auch die Völker, was Israel als schon bestehenden Adressaten der Zuwendung Gottes voraussetzt; auch die Völker, nicht: die Völker anstatt Israels.

Trotz dieser doppelten Vergleichgültigung des Unterschieds zwischen Juden und Nichtjuden, zwischen „dem Volk“ und „den Völkern“, hält Paulus entschieden an der Besonderheit Israels fest. Das zeigt sich an Römer 9–11 im Ganzen und tritt besonders eindrücklich hervor, wenn er im Blick auf das nicht an Jesus als Messias glaubende Israel von unwiderruflich geschenkten Gnadengaben Gottes spricht (Röm 11,29), die er im Einzelnen aufzählt (Röm 9,4–5). Unter ihnen sind solche, die – durch den Gesalbten Jesus vermittelt – auch den ihm Zugehörigen zukommen. Das ist einmal „die Sohnschaft, bzw. „die Kindschaft“ und ist zum anderen „die Herrlichkeit“, „der Glanz“. Dazu sei für die Gemeinde jetzt nur Römer 8,16–17 genannt. Alle anderen Gnadengaben in Römer 9,4–5 gelten spezifisch für Mitglieder des jüdischen Volkes, ob sie an Jesus als Gesalbten glauben oder nicht, und sie gelten nicht für Menschen aus den Völkern, auch nicht für diejenigen unter ihnen, die zum Glauben an Jesus gekommen sind. Das ist nicht sofort einsichtig für „die Verheißungen“. Paulus kennt selbstverständlich eine Verheißung für die Völker; dafür sei hier nur auf Römer 4,16–17 hingewiesen. Bei den in Römer 9,4 genannten Verheißungen dürfte er jedoch spezifisch auf Israel bezogene im Blick haben, wie das auch in Röm 15,8 der Fall ist, wo er eine spezifisch messianische Funktion Jesu für Israel anführt: „Der Gesalbte ist Diener des Volks der Beschneidung geworden zum Erweis der Treue Gottes, um die den Vätern gegebenen Verheißungen zu bestätigen“. Gegenüber dem Volk Israel hat Jesus als Gesalbter hiernach eine diakonische Funktion, die er „zum Erweis der Treue Gottes“ vollzieht. Was Paulus in Römer 9–11 ausgeführt hat, wird hier auf eine knappst mögliche Formulierung gebracht: Gott hält Treue zu seinem Volk – unabhängig von dessen Verhalten, vor allem: unabhängig von dessen Stellung zum Messias Jesus. Im Gegenteil: Für diese Treue steht Jesus als Gesalbter auch noch ein. Er tut es so, dass er die den Vätern gegebenen Verheißungen bestätigt. Bei den „Vätern“ dürfte in erster Linie an Abraham, Isaak und Jakob gedacht sein. Die ihnen gegebenen Verheißungen sind nach Ausweis der entsprechenden biblischen Aussagen vor allem die von Nachkommenschaft und Land und vom sicheren und gesicherten Leben im Land. Bei allen übrigen in Römer 9,4–5 genannten Punkten liegt es auf der Hand, dass sie spezifisch für das jüdische Volk sind: die Bundesschlüsse, die Gabe der Tora, der Gottesdienst (= Tempeldienst in Jerusalem), die Väter, die leibliche Herkunft des Gesalbten. Das gilt auch für die voranstehende Bezeichnung „Israeliten“. Die Partikularität Israels wird von Paulus nicht in eine Universalität aufgehoben. Vielmehr ist Gott „im Gesalbten Jesus“ auch Gott für die Völker gerade als Israels Gott und in seiner bleibenden Bezogenheit auf Israel. Nach dem Römerbrief ist das partikulare Israel, wie es außerhalb des Bereichs „im Gesalbten“ weiter existiert, von Gott gewollt und geliebt. „In Hinsicht auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen“ (Röm 11,28b). Das ist der stärkste Widerhaken gegen eine Universalisierung Israels.

Diesen Widerhaken hat die ab dem 2. Jahrhundert entstehende christliche Kirche nicht nur übersehen, sondern sie hat sich seiner bewusst entledigt. Ab dieser Zeit ist die auf Jesus bezogene Gemeinschaft aus jüdischen und nichtjüdischen Menschen mehr und mehr zu einer Kirche aus den Völkern geworden, die ihre Identität als Christentum im Gegenüber und im Gegensatz zum Judentum gewann und in der deshalb in ihr existierende Jüdinnen und Juden nicht mehr ihre jüdische Identität leben durften. Diese Kirche hat „Israel“ so universalisiert, dass sie – sich selbst als universale Kirche verstehend – den Namen „Israel“ für sich usurpierte und sich selbst als „wahres Israel“ behauptete. Das halte ich für den Sündenfall der Kirche. Er wirkte sich notwendig in Feindschaft gegenüber dem tatsächlichen Israel aus, dem außerhalb der Kirche weiter existierenden Judentum. Jüdinnen und Juden und ihre Synagogen wurden die ersten Opfer der mächtig gewordenen Kirche und waren es im Verlauf der Kirchengeschichte immer und immer wieder. Für die Kirche wird daher die Wahrnehmung des Judentums als Israel zur Bedingung dafür, diese Geschichte nicht fortzusetzen. Anders gesagt: Ob Christentum eine humane Religion ist, entscheidet sich in erster Linie an seinem Verhältnis zum und im Verhalten gegenüber dem jüdischen Volk, ob es die besondere Partikularität Israels zu achten versteht.

Die Unterschiedenheit zwischen Israel und den Völkern wird biblisch auch endzeitlich nicht aufgehoben. In der bekannten Stelle am Anfang von Jesaja 2 und Micha 4, die man vor allem wegen der Verheißung des Umschmiedens von Schwertern und Lanzen in Pflugscharen und Winzermesser kennt, steht am Beginn die Zeitangabe „am Ende der Tage“, „in der letzten Zeit“. Dann werden die Völker zum Berg Gottes nach Jerusalem strömen und sagen: „Auf, lasst uns hinaufsteigen zum Berg des Ewigen, zum Haus von Jakobs Gott, auf dass er uns unterweise in seinen Wegen und wir in seinen Pfaden gehen. Denn von Zion geht Weisung aus und das Wort des Ewigen von Jerusalem“ (Jes 2,3; Mi 4,2). So werden auch die Völker auf den einen Gott bezogen sein. Dennoch steht am Ende kein universales Einheitsvolk, sondern Israel bleibt Israel und die Völker bleiben Völker.

Zur Einheit gelangt dadurch aber auch Gott selbst. Bisher hat er die völlige Einheit noch nicht erreicht, da er teilhat an der Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit seiner Schöpfung und Welt. So heißt es in Sach 14,9 als Verheißung: Und der Ewige wird König sein über die ganze Erde. An jenem Tag wird der Ewige einzig sein und einzig sein Name. Die jüdische Auslegung verbindet an einer Stelle diesen Vers mit dem Schema Jisrael (5. Mose 6,4): „Der Ewige ist unser Gott: über uns; der Ewige ist einzig: über alle, die in die Welt kommen. Der Ewige ist unser Gott: in dieser Weltzeit; der Ewige ist einzig: für die kommende Weltzeit. Und so sagt sie (die Schrift): Und der Ewige wird König sein über die ganze Erde. An jenem Tag wird der Ewige einzig sein und einzig sein Name“ (Sifrej Devarim § 31). Dem entspricht die Rezeption von Sach 14,9 durch Paulus in 1Kor 15,20–28. Dass alles Gott Feindliche schließlich beseitigt und die Welt in allen ihren Bereichen dem einen Gott in offenbarer Weise zugeordnet sei, ist nach ihm das endzeitliche Ziel des messianischen Wirkens Jesu: „Wenn ihm (Gott) aber alles untergeordnet worden ist, dann wird sich auch er, der Sohn, dem unterordnen, der ihm alles untergeordnet hat, damit Gott sei alles in allem“ (1Kor 15,28). Die Auferweckung Jesu von den Toten zielt nach diesem Textabschnitt „auf die uneingeschränkte und unangefochtene Herrschaft Gottes über alle Menschen und Mächte“ (Schrage, 1Kor IV, S. 231). Das messianische Werk Jesu vollendet sich darin, dass es keinen Bereich der Schöpfung mehr gibt, der sich nicht auch von sich aus auf Gott bezöge, dass keinerlei Götzendienst mehr geübt wird.

Was in Jesaja 2 und Micha 4 verheißen ist, das endzeitliche Hinzukommen der Völker zu Israels Gott, das sah man im Neuen Testament bereits anfangshaft im Vollzug. Man lebte im Bewusstsein der schon angebrochenen Endzeit, begründet im Glauben, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hatte. Dieses Handeln Gottes wurde nicht als eine einmalige, für sich allein stehende Tat verstanden, sondern als ein Akt endzeitlicher Neuschöpfung (1Kor 15,20), mit dem die Gabe des Geistes verbunden war. Und so wurde der Tatbestand, dass durch die auf Jesus bezogene messianische Verkündigung sich Menschen aus den Völkern Israels Gott zuwandten, im endzeitlichen Horizont als durch Gottes Geist gewirkt begriffen. Diese Sicht muss es begründet haben, dass auf dem Aposteltreffen in Jerusalem (Apg 15; Gal 2) die von pharisäischen Jesusgläubigen vertretene traditionelle Sicht abgewiesen wurde, einzelne aus den Völkern zum Glauben an den Gott Israels kommende Menschen müssten sich, soweit sie Männer sind, beschneiden lassen, also in Israel integriert werden. Nein, wie in endzeitlichen Texten der jüdischen Bibel – und deshalb! – gilt auch hier: Die Völker kommen zu Israels Gott als dem einen Gott, aber sie werden nicht jüdisch, nicht in Israel integriert; sie bleiben Völker.

Das gilt im Neuen Testament nicht nur für die im Anbruch befindliche Endzeit, sondern auch für die erhoffte vollendete – wieder: wie in der jüdischen Bibel und deshalb. Das sei an Apk 21,3 aufgezeigt. Dort hört Johannes, nachdem er das „neue Jerusalem“ gesehen hat, wie es vom Himmel herabsteigt, vom Thron Gottes her eine laute Stimme sagen: „Siehe, die Wohnung Gottes bei den Menschen und er wird bei ihnen wohnen und sie werden seine Völker sein und er selbst, Gott, wird bei ihnen sein als ihr Gott.“ „Die Menschen“ werden differenziert aufgenommen als „die Völker“. Allerdings haben eine Reihe von Handschriften statt des Plurals „Völker“ an dieser Stelle den Singular „Volk“. Bei dieser Lesart stünde am Ende ein einheitliches Volk, in dem die Unterschiedenheit zwischen Israel und den Völkern und zwischen den Völkern untereinander aufgehoben wäre. Das aber entspricht nicht der Sicht des Johannes, was sich daran zeigt, dass im weiteren Text dieser Schlussvision die Völker im Plural samt ihren Königen als Bewohner des neuen Jerusalem erscheinen. Das ist erstaunlich. Die Könige waren nach der bisherigen Darstellung der Apokalypse Parteigänger des „Tieres“ (Apk 13) und Freier der „Hure“ (Apk 17), was Rom in seiner militärisch-politischen und in seiner wirtschaftlich-ausbeuterischen Macht symbolisierte, und ihre Völker waren ihre dumpfen Mitläufer, beide längst vom Gericht Gottes eingeholt. Aber jetzt sind die Völker geheilt durch die Blätter des Lebensbaums, der im neuen Jerusalem am Fluss lebendigen Wassers als doppelte Allee vorhanden ist (Apk 22,1–2), und wandeln im Licht dieser Stadt, während die Könige der Erde ihren Glanz in sie einbringen und den Glanz ihrer Völker (Apk 21,24.26). Die Vielfalt der Völker bleibt. Aber jetzt gilt für sie, was für Israel schon immer galt, dass Gott auch ihr Gott ist und sie seine Völker sind und er ihnen seine Gegenwart zuspricht. Dass in Apk 21,3 der Plural „Völker“ in einigen Handschriften durch den Singular „Volk“ ersetzt wurde, geschah wahrscheinlich aufgrund des Anspruchs der Kirche, Israel als das Volk Gottes abgelöst zu haben und jetzt selbst das „wahre Israel“ zu sein.

2. Gemeinde im Neuen Testament: eine Gemeinde aus Israel und den Völkern
Gemeinde im Neuen Testament ist eine Gemeinde aus Israel und den Völkern. Sie ist im 1. Jahrhundert eine Gruppe im Judentum, zu der nicht nur Jüdinnen und Juden gehören, sondern auch Menschen aus der Völkerwelt, die nicht zum Judentum konvertiert sind und doch als gleichberechtigte Mitglieder angesehen werden in vollgültiger Beziehung zu dem einen Gott. Da dieser eine Gott kein anderer ist als Israels Gott und er als Israels Gott nur erkennbar ist in seinem Zusammenhang mit seinem Volk Israel und in seiner Bindung an es, sind und bleiben die Hinzugekommenen auch bezogen auf Israel. Israel ist aber mehr als diejenigen Jüdinnen und Juden, die Mitglieder der auf Jesus bezogenen Gemeinschaft sind. Ja, die Mehrheit Israels steht außerhalb und lehnt die Botschaft von Jesus als dem Gesalbten ab. So ist dieser Gemeinde, seit Menschen aus den Völkern zu ihr gestoßen sind, die Aufgabe gestellt, sich zum Judentum außerhalb ihrer zu verhalten und über dieses Verhältnis zu reflektieren. Das hat Paulus gründlich und präzis getan.

Er gilt weithin als der große Universalisierer. Nach dem Paulusbuch von Alain Badiou lieferte er sogar, wie es schon programmatisch im Untertitel zum Ausdruck kommt, „die Begründung des Universalismus“. Es ist verbreitete Sicht, er habe aus einer partikularen jüdischen Sekte eine universale Religion gemacht. Das Universale gilt damit als Überwindung des Partikularen. Aber diese Sicht ist ein Fehlurteil. Paulus hält Universalität und Partikularität spannungsvoll zusammen. Weder hat er den Universalismus begründet noch bedeutete seine Mission in der Völkerwelt eine Universalisierung Israels und der besonderen Beziehung zwischen Gott und seinem Volk Israel. Das lässt sich am Gesamt des Römerbriefes zeigen. Dessen Thema – wie überhaupt das Lebensthema des Paulus – ist nicht die Rechtfertigung, sondern das Verhältnis von Israel und den Völkern in Bezug auf Gott. Darüber habe ich schon im ersten Abschnitt gehandelt.

Jetzt ist herauszustellen: Die ab dem 2. Jahrhundert entstehende christliche Kirche ist nicht mehr wie die auf Jesus bezogene Gemeinschaft im 1. Jahrhundert eine Gemeinde aus Juden und Menschen aus den Völkern, sondern nur noch Völkerkirche. Das gilt ganz unabhängig davon, wieviel geborene Jüdinnen und Juden es in ihr gibt, da diese als Christinnen und Christen nicht mehr ihre frühere jüdische Identität leben können und dürfen. Die Nur-Völkerkirche ist, wie zahlreich sie auch geworden sein mag, selbst partikular. Als partikulare Nur-Völkerkirche ist sie umso mehr auf Israel verwiesen, wenn sie denn an dem in ihren biblischen Grundlagen bezeugten Gott festhalten will.

Sie sollte daher die Aufforderung des Paulus beherzigen, die er seiner römischen Adressatenschaft als Menschen aus der Völkerwelt in Aufnahme von Dtn 32,43 gibt: „Freut euch, ihr Völker, mit seinem Volk!“ (Röm 15,10) Das ist der bescheidene, aber völlig zureichende Platz, der der Kirche aus den Völkern zukommt, an dem sie kein Unheil anrichten wird. Sie sollte bewusst ihre Partikularität wahrnehmen und annehmen, dass sie nur Kirche aus den Völkern ist, und nicht in universaler Überspanntheit meinen, schon das Ziel der Geschichte und Heilsgeschichte zu sein. Was eine christliche Schrift der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts, der Barnabasbrief, entschieden in Abrede stellen will, dass „wir“ „Hinzugekommene“ seien (Barn 3,6), gilt es schlicht zu akzeptieren – hinzugekommen zu dem biblisch bezeugten Gott durch die auf Jesus bezogene Verkündigung.

Diese Kirche sollte auch darauf verzichten, sich selbst als „das Volk Gottes“ zu bezeichnen. Sicherlich gibt es Stellen im Neuen Testament, die von der Kirche als dem Volk Gottes sprechen. Aber es ist die Frage, ob wir sie beerben können und dürfen. Am klarsten – und problematischsten – sind zwei Stellen in relativ späten Schriften des Neuen Testaments. In Titus 2,14 wird der Begriff vom „Eigentumsvolk“, der in der jüdischen Bibel die Besonderheit Israels als des Volkes Gottes bezeichnet, für „uns“ beansprucht – für Leute, die sich aus „allen Menschen“ (2,11) rekrutieren. Israel ist hier völlig aus dem Blick. Ganz ähnlich wird in 1. Petrus 2,9–10 von denen, die „nicht Volk“ waren, nun in Aufnahme biblischer Bezeichnungen für Israel ausgesagt, dass sie es seien. Ich plädiere entschieden dafür, sich in dieser Hinsicht an Apk 21,3 zu orientieren, dass also die Kirche aus den Völkern sich als „Völker Gottes“ versteht.

3. Gemeinde als messianische Verkörperung in Einheit und Unterschiedenheit
Der mit dieser Überschrift angedeutete Zusammenhang wird am klarsten und differenziertesten von Paulus zum Ausdruck gebracht. Nach ihm ist Gemeinde kein zusammengewürfelter Haufe, kein zufällig entstandenes Konglomerat. Sie organisiert ihre Einheit auch nicht erst selbst, sondern findet sie als eine mit ihrer Existenz schon gestiftete vor, der sie dann allerdings auch zu entsprechen hat. Das führt Paulus in 1Kor 12,4–11 aus. Ich fasse das knapp so zusammen: Alle in der Gemeinde sind von Gott her durch den Souverän Jesus kraft des heiligen Geistes unterschiedlich begabt. Ihre Einheit ist ihnen so als funktionales Zusammenwirken vor- und aufgegeben.

Die Zuordnung der unterschiedlich Begabten zueinander und zum Ganzen der Gemeinde erläutert Paulus mit dem Bild vom Leib und seinen Gliedern. Der Leib als ganzer kann nur funktionieren, wenn sich kein Glied absolut setzt, sondern jedes das tut, was es kann und wofür es da ist. Niemand in der Gemeinde ist so begabt, dass er oder sie nicht auf andere angewiesen wäre; niemand ist unbegabt, dass sie oder er nichts beitragen könnte. Die Einheit der Gemeinde besteht also in ihrer funktionalen Differenzierung. Sie kann sich aber nur vollziehen, wenn die unterschiedlich Begabten auch tatsächlich zusammenkommen und zusammenwirken.

Das organische Bild vom Leib und seinen Gliedern wird von Paulus nicht wie bei Menenius Agrippa dazu missbraucht, um gesellschaftliche Unterschiede durch die Behauptung zu zementieren, sie seien schöpfungsgemäß oder naturgegeben. Er gebraucht es nicht, um Rangunterschiede zwischen den Begabungen zu etablieren. Im Gegenteil, die gegenseitige Bedürftigkeit aller begründet bei ihm eine prinzipielle Gleichrangigkeit.

Am Beginn und Ende des Abschnitts 1Kor 12,12–27 geht Paulus über den bildlichen Vergleich hinaus, indem er die angeschriebene Gemeinde geradezu als sóma christoú bezeichnet. Diese Wendung wird meistens nur halb übersetzt mit „Leib Christi“. christós ist aber kein Name, konnte im 1. Jahrhundert nur von nichtjüdischen Außenstehenden als Name missverstanden werden und wurde es auch, nicht aber von den Menschen in der Gemeinde. Also nicht: „Leib Christi“, sondern „Leib des Gesalbten“. Als präzisere Verdeutschung des damit Gemeinten schlage ich vor: „messianische Verkörperung“. Sachlich entspricht das der bei Paulus häufig gebrauchten Wendung en christó. Nicht: „in Christus“, sondern „im Gesalbten“. Diese Wendung steht nicht, wie behauptet wurde, sozusagen als Ersatz für das noch nicht vorhandene Adjektiv „christlich“, sondern bezeichnet präzis den Ort, an dem sich Menschen schon jetzt der messianischen Herrschaft Jesu unterstellen und an dem damit diese Herrschaft jetzt schon Raum gewinnt. Gemeinde gilt daher als der Erfahrungsraum des messianischen Reiches. Dem sei im Blick auf die Unterschiede, die nicht die verschiedenen Begabungen betreffen, sondern die schöpfungsmäßig vorgegeben oder sozial geworden sind, anhand der Aussagen von Gal 3,28 nachgegangen.

4. Die Einheit und Einzigkeit der Unterschiedenen
Die häufig für die Aufhebung der Unterschiede angeführte Stelle Gal 3,28 enthält zwei Übersetzungsprobleme, die selten thematisiert werden. Doch sei zunächst auf den vorangehenden Kontext geachtet. In V. 26 hatte Paulus die Menschen in der Gemeinde als solche angeredet, die alle durch das unter der Herrschaft des Gesalbten Jesus gewonnene und praktizierte Vertrauen „Kinder Gottes“ seien. Zueinander stehen sie daher im Verhältnis geschwisterlicher Gleichheit. Paulus begründet das in V. 27 damit, dass diejenigen, die auf den Gesalbten getauft und damit ihm zugeeignet worden sind, den Gesalbten angezogen haben. Sie sind also sozusagen messianisch gewandet. „Kleider machen Leute.“ Es liegt daher eine analoge Vorstellung vor zur Bezeichnung der Gemeinde als „messianischer Verkörperung“. Von daher, dass sich Jesus als Gesalbter in seiner Gemeinde repräsentiert, in der alle Kinder Gottes und so untereinander gleiche Geschwister sind, nimmt Paulus am Beginn von V. 28 eine Verneinung vor mit den beiden Worten: oúk éni. Im Wörterbuch von Walter Bauer wird dafür nur eine Übersetzungsmöglichkeit angeboten, die sich daraufhin auch in den meisten Übersetzungen findet: „Es gibt nicht“. Was dann aufgezählt wird – Juden und Griechen, Versklavte und Freie, Männer und Frauen – gibt es aber in der Gemeinde. Paulus wird ja wohl eine vorhandene Realität nicht einfach leugnen wollen. Das Wort éni ist eine Kurzform für énesti: „Es ist darin“. Wir kennen die Wendungen: „Das ist drin“ oder verneint: „Das ist nicht drin“. Andere Wörterbücher nennen – dem sehr ähnlich – als mögliche Bedeutung auch: „Es geht an“, verneint also: „Es geht nicht an“. Vom vorausgehenden Kontext her ergibt sich als gemeinter Sinn, dass es für die Gemeinde unmöglich ist, wenn sich jüdische Mitglieder in ihr gegenüber Menschen aus den Völkern als den „nur“ Hinzugekommenen hervortun, Freie gegenüber Versklavten, Männer gegenüber Frauen. Daher übersetze ich den ersten Teil von V. 28 so: „Da geht es nicht an, dass es etwas zu sagen hätte, ob jemand griechisch oder jüdisch, versklavt oder frei, männlich oder weiblich ist.“ Die Unterschiede spielen in der Weise keine Rolle, dass sie noch länger Begegnung von gleich zu gleich verhindern könnten. Die Unterschiede werden gleichgültig und damit die Unterschiedenen gleich gültig, um echte Konvivenz zu ermöglichen. Paulus intendiert nicht eine differenzlose Universalität, sondern kritisiert die Selbstgenügsamkeit der je eigenen Identität, verneint jedoch nicht die je eigene Identität. Identität wird erst gewonnen im Eingeständnis der eigenen Begrenztheit und in der Anerkenntnis durch die anderen.

Bei den in Gal 3,28 angeführten Unterschieden ist nun aber auch ein bedeutsamer Unterschied zwischen ihnen selbst zu beachten, insofern der gendermäßige und der ethnische Unterschied sozusagen natürlich vorgegeben sind, der Unterschied zwischen Freien und Versklavten aber ein aus gesellschaftlichen Prozessen hervorgegangener ist. Letzteres ist in der jüdischen Bibel klar gesehen. Deshalb darf dort Versklavung auch kein Dauerzustand sein, sondern Versklavte sind nach sieben Jahren – mit einem Startkapital! – freizulassen (Dtn 15,12–14). Nach Paulus ist „der im Herrn berufene Sklave ein Freigelassener des Herrn, ebenso der als Freier Berufene ein Sklave des Gesalbten“ (1. Kor 7,22). In die gesellschaftliche Herr-Sklave-Relation drängt sich hier ein anderer Herr ein und sprengt sie auf. In dem Bereich, den Jesus als Herr bestimmt, in der Gemeinde also, ist der Sklave nicht mehr länger Sklave. Hier kann und darf er nicht bei seinem Status als Sklave behaftet werden; hier kann und darf er nur noch als Freier angesprochen werden, den Jesus als sein Herr frei gemacht hat, sodass er als sein Freigelassener anzusehen ist. Dagegen ist „der als Freier Berufene ein Sklave des Gesalbten“. Die Berufung lässt auch seinen Status nicht unverändert. In dem Bereich, in den er durch die Berufung gelangt, hat sein Status als Freier nichts zu bedeuten; er macht sogar einen Statuswechsel zum Gegenteil durch. Durch die Berufung beansprucht Jesus dessen Freiheit mit ihren Möglichkeiten für sich – konkret für die Gemeinde als seine „Verkörperung“ – und macht ihn so zu seinem Sklaven. Wer als Freier berufen wird, bleibt ein in der Welt Freier. Aber seine Möglichkeiten, die er als Freier hat, sind von Jesus beschlagnahmt und werden so ausgerichtet auf eine Gemeinschaft von Menschen, in der es die Entgegensetzung von Freien und Sklaven nicht mehr gibt. Die Aufhebung dieses Gegensatzes ist eine Signatur der messianischen Zeit. Die Berufung öffnet so einen Raum, in dem der Freie und der Sklave die Erfahrung des jeweils anderen machen. In der Gemeinde erfährt der Sklave Befreiung und der Freie Knechtschaft. Die Berufung stellt in den Raum der Gemeinde, in dem sich der zum Freigelassenen des Herrn gewordene Sklave und der zum Sklaven des Messias gewordene Freie als Gleiche begegnen. Diesem sozialen Gegensatz ist daher eine Tendenz auf seine Überwindung hin eingestiftet.

Das gilt selbstverständlich nicht für die beiden anderen Unterschiede. Es sind Gegebenheiten, die zur jeweils eigenen Identität gehören. Aber sie haben in der Gemeinde nichts zu sagen; sie heben die einen nicht hervor und setzen die anderen nicht zurück. Bei der Gegenüberstellung von jüdisch und griechisch stehen die Griechen pars pro toto für die nichtjüdischen Völker. Die Bevölkerung in den großen Städten der antiken Mittelmeerwelt war – würde man heute sagen – „multikulti“. Da Griechisch die verbindende Sprache war, konnten diese Menschen zusammenfassend als „Griechen“ bezeichnet werden. Ihnen gegenüber haben Juden in der Gemeinde als Angehörige des von Abraham, Isaak und Jakob an erwählten Volkes Gottes keinen Vorrang. Mehrfach stellt Paulus im Römerbrief heraus, dass durch die gute Botschaft von Jesus als dem Gesalbten Gott auch Menschen aus der Völkerwelt erwählt und berufen hat. Dieses Auch bedeutet zwar ein zeitliches Danach, aber das begründet keine Nachrangigkeit. Die Gleichrangigkeit ermöglicht wirkliche Begegnung der Verschiedenen.

Die Gleichrangigkeit schließt nach Gal 3,28 Frauen und Männer ein, die auch in der Gemeinde selbstverständlich nicht aufhören, Männer und Frauen zu sein. Zur messianischen Zeit als Beginn der neuen Schöpfung, die in der Gemeinde schon Raum gewinnt, gehört das gleichgewichtige Gegenüber von Frauen und Männern dazu. Ich verbinde das mit einem Blick auf zwei Aspekte dessen, wie in Gen 2 die Differenzierung von Mann und Frau aus dem zunächst geschaffenen einen Menschenwesen dargestellt wird. Nach V. 18 sagt Gott im Blick auf dieses Menschenwesen: äes´äh lo éser kenegdó (V. 18). Ich übersetze möglichst eng am hebräischen Text: „Ich will ihm eine Hilfe als sein Gegenüber machen.“ In den danach zunächst geschaffenen Tieren findet das Menschenwesen nicht „sein Gegenüber“ (V. 20). Dann schafft Gott aus einer Seite – nicht Rippe! – von ihm die Frau, wodurch zum Mann wird, was von ihm übrig bleibt (V. 22). Der Mensch als Mann und Frau, als „Seiten“ des einen Menschen, findet sich so „Seite an Seite“ gestellt, im „Gegenüber“ auf Augenhöhe, in gegenseitiger Hilfe. Solche Schöpfungsgemäßheit stellt die messianische Herrschaft Jesu wieder her. Sie kann im Raum der Gemeinde als einem Raum der Begegnung praktiziert werden.

Dass in der Gemeinde eine höhere Geltung nicht gewonnen wird durch eine behauptete oder tatsächliche Höherstellung der eigenen Zugehörigkeit in ethnischer, sozialer oder geschlechtlicher Hinsicht, sondern dass alle die gleiche Geltung haben, begründet Paulus in Gal 3,28 abschließend mit der Aussage: „Denn im Gesalbten Jesus – also unter der Herrschaft dieses messianischen Königs – seid ihr alle einer.“ Wie können „alle“ „einer“ sein? Zunächst ist zu beachten, dass hier das maskuline heis steht und nicht das neutrische hen. Daher halte ich die Übersetzung dieser Stelle in der Neuen Zürcher Bibel für verfehlt: „Ihr seid alle eins.“ Wo übrigens das neutrische hen mit einai verbunden gebraucht wird, geht es um funktionale Einheit, um ein Zusammenwirken, und nicht um eine Wesenseinheit. Das liegt für 1Kor 3,8 klar auf der Hand („der pflanzt und der begießt sind“ nicht „eins“, sondern „wirken zusammen“), sollte aber auch bei den beiden anderen Stellen beachtet werden (Joh 10,30: „Ich und der Vater wirken zusammen“; Joh 17,21: „damit sie alle zusammenwirken“). Aber Entsprechendes kann in Gal 3,28 wegen des heis nicht gemeint sein. Die Gute Nachricht übersetzt deutend: „Durch unsere Verbindung mit Jesus Christus seid ihr alle zu einem Menschen geworden.“ Man könnte das im Sinne einer corporate personality verstehen – dann aber gewiss nicht im Sinne des Mottos: „Das Volk ist alles, der Einzelne ist nichts.“ Sachlich müsste bei solchem Verständnis wohl doch an das Zusammenwirken aller gedacht werden. Aber wieso wäre das eine Begründung für die in der ersten Vershälfte ausgesprochene Verneinung, dass es in der Gemeinde nichts zu sagen habe, was jemand ethnisch, sozial oder gendermäßig ist?

Ich möchte deshalb einen anderen Deutungsversuch vorschlagen. Das heis, das dem hebräischen echád entspricht, begegnet biblisch, in der jüdischen Tradition und in neutestamentlichen Schriften als Aussage über Gott, genauer: als Bekenntnis zu seiner Einzigkeit. So an der zentralen Stelle Dtn 6,4: „Höre, Israel! Der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig.“ Das wird in Mk 12,29 im Munde Jesu zitiert und begegnet in ähnlicher Formulierung sachlich entsprechend in Mk 2,7; 10,18; Röm 3,30; 1Kor 8,4.6; Eph 4,6: 1Tim 2,5; Jak 2,19. Gott ist „einzig“, weil er „der Eine“ ist. Aber wie kann man es verstehen, wenn diese Aussage von einer Pluralität gemacht wird? Man kann Gal 3,28b so verstehen: „Ihr alle seid je einzig.“ Und genau diese Aussage lässt sich mit dem Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes verbinden, wenn anders der Mensch nach biblischem Zeugnis von der Schöpfung her Bild Gottes ist. Gott ist einzig und also auch der Mensch als sein Bild – und da es viele Menschen gibt, ist jede und jeder je einzig. So verstanden, käme nach Gal 3,28 „im Gesalbten Jesus“, in dessen Gemeinde als neuer Schöpfung, die schöpfungsgemäße Gottebenbildlichkeit des Menschen im Zerbrechen über- und unterordnender Hierarchisierungen wieder zum Zuge.

Was sich hier bei Paulus in der Perspektive neuer Schöpfung findet, wird von den Rabbinen sachlich entsprechend von der Schöpfung des Menschen her entwickelt. In mSan 4,5 wird die Frage, warum am Anfang nur ein einzelner Mensch erschaffen wurde, u.a. so beantwortet: „Um des Friedens unter den Geschöpfen willen, damit kein Mensch zu seinem Mitmenschen sagen kann: ‚Mein Vater war größer als dein Vater.‘“ Etwas weiter im Text wird angegeben: „Und um die Größe des Heiligen, gesegnet er, kundzutun: Wenn ein Mensch viele Münzen mit einigem einzigen Stempel prägt, sind sie alle gleich, eine wie die andere. Aber der König der Könige der Könige, der Heilige, gesegnet er, prägte jeden Menschen mit dem Stempel des ersten Menschen und kein einziger von ihnen gleicht seinem Mitmenschen. Deshalb ist jede und jeder Einzelne verpflichtet zu sagen: ‚Meinetwegen ist die Welt erschaffen worden.‘“ Hier kommen Universalität und Partikularität als notwendig aufeinander bezogene Pole zusammen und eröffnen so einen Raum für Humanität. Partikulares, das sich als universal behauptet, wird anderes Partikulare vergewaltigen. Eine humane Universalität kann sich nur einstellen in der gegenseitigen Achtung alles Partikularen.

Vortrag im Januar 2015 auf der KLAK-Delegiertenkonferenz in Berlin. Prof. Dr. Klaus Wengst war von 1981 bis 2007 als Professor für evangelische Theologie (Neues Testament) an der Ruhr-Universität Bochum tätig. Neben sozialgeschichtlichen Fragestellungen beschäftigte er sich zunehmend mit der Frage nach dem Verhältnis des Neuen Testaments zum Judentum.

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