„Geh nicht den alten Weg zurück!“
Eine Buchvorstellung
von Ulrich Schwemer

Der Titel des Buches lässt aufmerken. „Geh nicht den alten Weg zurück“ ist nämlich keine bekannte Floskel oder ein biblischer Text. So bin ich gespannt, in welchen Zusammenhang dieses Zitat gehört. Schon bald finde ich die Antwort: Noch vor dem Vorwort der Herausgeber finde ich den Faksimile-Abdruck eines Gedichtes von Alexander Haas, einem Holocaustüberlebenden, der sein Schicksal in Form von Gedichten versuchte zu beschreiben, der mit seinen Gedichten aber auch einen Blick in die Zukunft warf. Dieses Gedicht überschreibt er: „All denen, die während der 13 Jahr Hitler-Herrschaft nicht hinter Stacheldraht litten!“ (S. 14) So treffe ich auf eine wichtige Persönlichkeit der Darmstädter Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.  Mit seinem Namen bleibt die Darmstädter Gesellschaft bis zum heutigen Tag verbunden, denn die von ihm aufgebaute „Alexander–Haas–Bibliothek“ wird bis heute von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gesellschaft betreut und weitergeführt.

Es entspricht der Bedeutung dieses Mannes, dass ihm in dem Jubiläumsbuch ein eigenes Kapitel gewidmet ist: „Alexander Haas und seine Bibliothek“ (S.50-68). Der in einer sog. “privilegierten Mischehe“ lebende Alexander Haas kam in das „Arbeitserziehungslager“ Frankfurt-Heddernheim und von dort in das KZ Buchenwald. Nach der Befreiung durch die Amerikaner auf einem „Todesmarsch“, konnte er nach Darmstadt zurückkehren. Diese Erfahrungen ließen ihn wohl später seine Bibliothek aufbauen im Kampf gegen den weiterhin virulenten Antisemitismus in Darmstadt und der deutschen Bevölkerung insgesamt.

Was an der Person von Alexander Haas deutlich wird, gilt für die gesamte Entwicklung der „Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“. Was an lokalen Erfahrungen seit der Gründung der Gesellschaft beschrieben wird, gilt entsprechend für die gesamte Entwicklung in Deutschland: Die Vorbehalte, auf die die Gründung der Gesellschaft trifft, die Erfahrung von weiterhin vorhandenem Antisemitismus in Deutschland von Anfang an und durch die Jahrzehnte bis heute, der Blick auf einzelne Persönlichkeiten, die für das Gelingen der Arbeit unverzichtbar waren und sind, das reiche Veranstaltungsprogramm mit z.T. hochkarätigen Referenten wie z.B. Max Horkheimer oder Martin Buber.

Zugleich glättet die Festschrift nicht die eigene Geschichte. Sie lässt Verwerfungen nicht aus, bis hin zu so kleinen Informationen, dass durch Familie Haas, in deren Wohnhaus die Geschäftsstelle der Gesellschaft untergebracht war, die Benutzung untersagt wird wegen des fehlenden „Reinlichkeits- bzw. Ordnungssinns“ (S.58) von Leitung und Besuchern.

Aber auch schon in den Grußworten werden Fragen nicht ausgelassen. So hinterfragt der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Darmstadt, Moritz Neumann, die Bezeichnung der Gesellschaft als „christlich-jüdisch“, was eher eine religiöse Zielrichtung vermuten ließe. Allerdings verkennt Neumann nicht die Problematik eines möglichen Namens „deutsch-jüdische Zusammenarbeit“, weil „die ersten Opfer der Nazis schließlich Deutsche waren. Deutsche und Juden, nämlich deutsche Juden.“ (S. 10)

So wehrt sich Martin Stöhr gegen die Beschreibung der Gesellschaftsgründung als einer obrigkeitlichen Gründung, wie sie Josef Foschepoth in seinem Buch  „Im Schatten der Vergangenheit. Die Anfänge der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“ (1993) beschrieben hat (vgl.S.23): „Damit widerspreche ich auch einer Meinung (…), die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit seien ein Produkt US-amerikanischer Besatzungspolitik und seien durch ihre Anordnung entstanden. Es waren Überlebende aus den Lagern, der Emigration und den wenigen Versteckten sowie eben Menschen wie Haas und Gollwitzer.“ (S.71)

So bedauert der katholische Pfarrer der Darmstädter Kirche St. Ludwig in seinem Bericht über diese Gemeinde (S.158-164), dass Grußkarten der Gemeinde zu den jüdischen Festtagen an die um die Ecke liegende jüdische Gemeinde keine Reaktion erfuhren.

In diesem von viel Sensibilität für die jüdischen Wurzeln des Christentums geprägten Artikel problematisiert er auch die Frage der Verwendung des Symbols des Siebenarmigen Leuchters in christlichen Kirchen, in St. Ludwig als künstlerisch gestaltete Stützen der Kommunionsbank. Er deutet dies als Hinweis auf die Verwurzelung des Christentums im Judentum. Es ist allerdings anzumerken, dass diese Verwendung auch umgekehrt als Ausdruck der Enteignung des Judentums verstanden werden könnte.

In weiteren Artikeln werden u.a. Themen behandelt wie der jüdische Friedhof, Fragen des Gedenkens, internationale Beziehungen und Orte jüdischen Lebens und Gedenkens in Darmstadt. Bewegend ist auch der Artikel „Ruth Bratu – Ein exemplarisches jüdisches Leben“ (S.96-105). Viele allgemeingültige Erfahrungen werden an dieser beispielhaften Biographie deutlich.

Auch das Projekt der „virtuellen Synagoge“ der TU Darmstadt wird ausführlich dargestellt. Lesenswert ist der Brief des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Darmstadt, Moritz Neumann, der sich der Spannung von virtueller und tatsächlicher Wirklichkeit in fast poetischer und fein sezierender Weise nähert: „Es ist ein Traumbild und ein Trugbild zugleich. Denn die alte Synagoge ist künftighin zwar sichtbar, aber sie ist nicht begreifbar. So wie es nicht begreifbar in jedem Sinn ist, dass aufgeputschte Menschen sich an einem Haus des Gebets vergriffen und es für alle Zeiten vernichtet haben“ (S.153).

Der Artikel „Oral History – Lebendige Geschichte(n) gegen das Vergessen“, der unten abgedruckt ist, sei noch besonders erwähnt, da er an konkreten Erinnerungen, Erfahrungen und Begegnungen sehr bildhaft die gesamte Problematik und Notwendigkeit von Erinnern verdeutlicht.

Die Festschrift zeichnet sich also durch einen immer wieder mal selbstkritischen Blick auf die eigene Geschichte und  auf die Geschichte der Gesellschaften überhaupt aus. Das macht sie besonders lesenswert, ob man nun eher Interesse hat an der lokalen Geschichte oder auch an sich daraus ergebenden allgemeinen Fragen. Auch die lokalen Erfahrungen und Initiativen haben allgemeine Gültigkeit über Darmstadt hinaus

Geh nicht den alten Weg zurück!“ Festschrift zum sechzigjährigen Bestehen der Darmstadt 1954-2014; Lange, Thomas; Triebel, Lothar edd., unter Mitarbeit von Godehard Lehwark, Darmstadt 2014; ISBN 978-3-87390-353-1

Pfr. i.R. Dr. h.c. Ulrich Schwemer war lange Jahre Gemeindepfarrer in Heppenheim und bis 2006 Vorsitzender von ImDialog – Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau

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