Oral History
Lebendige Geschichte(n) gegen das Vergessen
von Christian Gropper

Ich kann mich noch genau daran erinnern. Ich war damals dreizehn Jahre alt, als ich mit großen Ohren den Geschichten meines Großvaters lauschte. Der konnte erzählen, spannender als jedes Buch und so detailliert, dass man sich jedes einzelne Detail lebendig vor Augen halten konnte.

Schon damals war mein Großvater ein alter Mann. Jahrgang 1888. Alter, preußischer Landadel, mit 14 in die Kadettenschule, mit 21 schon Leutnant und dann, so erzählte er immer, mit 26 endlich in den für ihn so langersehnten Krieg. Das Vaterland verteidigen. Doch das, was dann kam, hatte er sich anders vorgestellt. Vier Jahre Westfront. Vier Jahre elendes Verrecken in Schützengräben. Angst und Tod. Giftgas, endloser Hunger und bittere Kälte. Die Schlacht an der Somme, dann nach Verdun. Seine zwei besten Freunde kamen ums Leben. Direkt neben ihm im Dreck der Schützengräben. Mein Großvater redete immer wieder von den Beiden. Ihre Namen haben sich mir bis heute eingeprägt. Otto Richter und Simon Löwenstein hießen die Kameraden meines Großvaters. Immer wieder hat er von ihnen erzählt. 1918 kam mein Großvater aus dem Krieg zurück. Als geschlagener Soldat und gebrochener Mann mit Tapferkeitsmedaillen, auf die er nicht stolz war. Nie wieder wollte er etwas mit einem Krieg zu tun haben.

Als ich fünfzehn war, sprachen wir im Geschichtsunterricht zum ersten Mal über die NS-Zeit. Damals ging ich auf ein humanistisches Gymnasium in einem sehr gutbürgerlichen Kölner Stadtviertel. Das war Mitte der siebziger Jahre. Unsere Lehrer schienen damals vom Aufbruch der Studentenbewegung noch nichts gehört zu haben. Über die NS-Zeit sprach man lieber nicht, dafür wurde der Unterricht jeden Morgen mit einem lauthals zu schmetternden Gaudeamus Igitur begonnen, während sich unser Lateinlehrer mit Herr Professor titulieren ließ. Sportunterricht hieß bei uns noch Leibeserziehung und ich werde bis heute das Gefühl nicht los, dass unser oberster Leibeserzieher drei Jahrzehnte zuvor seine Schüler noch in Uniform und mit ausgestrecktem rechten Arm hat strammstehen lassen. Es schien ihm immer noch Freude zu bereiten, uns zu erniedrigen und davon zu träumen, aus uns noch einmal anständige deutsche Jungs zu machen.

Doch irgendwie überstanden wir den furchtbaren Sportunterricht, denn wir freuten uns insgeheim auf die folgende Stunde. Dann gab es Geschichte bei einem ganz jungen Lehrer, der irgendwie nicht auf unsere Schule zu passen schien. Dafür hatte er viel zu lange Haare, weigerte sich einen Anzug zu tragen und verstand es vor allem, uns für seinen Unterricht zu interessieren. Wir sprachen über Kriege, vor allem den letzten, über 12 Jahre Nationalsozialismus und die Taten unserer Väter.

Zum ersten Mal hörte ich von den Gräueltaten der Nazis, vom Rassenwahn und der Judenverfolgung. Darüber hatte mein Großvater nie gesprochen. Als ich ihn das nächste Mal besuchte, wollte ich wissen, wie er diese Zeit erlebt hatte. War er ein Nazi? War er mit schuldig an dem, was damals geschah?

„Ach hör doch auf mit dem alten Kram“, sagte er dann immer. „Das ist doch schon so lange vorbei.“

Partout wollte er nicht über die NS-Zeit sprechen, versuchte meinen Fragen auszuweichen und sprach immer wieder davon, dass er von all den schlimmen Dingen nichts mitbekommen habe. Seine Zeit war der erste Weltkrieg, mit dem größenwahnsinnigen Hitler wollte er nie etwas zu tun haben. Ich ließ nicht locker. Im Schulunterricht hatten wir davon gehört, dass Ende der dreißiger Jahre überall die Juden verschwanden. Ich wollte von ihm wissen, wie das geschehen konnte, ohne dass irgend jemand etwas dagegen unternahm.

Immer wieder fragte ich ihn und immer wieder bekam ich die gleiche Antwort. „Wir haben uns doch nichts dabei gedacht. Wir glaubten doch damals, dass die Juden alle nach Palästina gehen.“

Und was war im November 1938? Als Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte eingeworfen wurden, Synagogen brannten und der Mob auf die Straße rannte, um eine regelrechte Jagd gegen jüdische Mitbürger zu entfachen? Hatte er denn davon nichts mitbekommen?

Als ich ihn das fragte, wurde er still und fand keine Worte. Ich weiß noch, wie enttäuscht ich von meinem Großvater war und seine ganzen Heldengeschichten vom jungen zackigen Leutnant nichts mehr zählten. Nie wieder habe ich mit meinem Großvater über seine Vergangenheit gesprochen.

Erst Jahre nach seinem Tod habe ich erfahren, dass er kein Nazi war und sich in den letzten Kriegstagen vielleicht sogar als ein wirklicher Kriegsheld erwiesen hatte. Im April 1945 hatte man den alten Offizier aus dem ersten Weltkrieg noch einmal einberufen, damit er mit einer Volkssturmeinheit britische Truppen im westfälischen Sauerland aufhalten sollte. Doch mein Großvater hatte endgültig genug vom Krieg. Er versteckte sich mit dem letzten Aufgebot aus Kindern und alten Männern im Wald und wartete auf die britischen Truppen. Die Gestapo hatte davon gehört und sich auf die Suche nach dem Fahnenflüchtigen gemacht. Doch der hatte Glück. Das Versteck wurde nicht gefunden. Mein Großvater und seine Leute harrten aus und hörten zwei Tage später einen Jeep aus westlicher Richtung auf sie zukommen. Es waren britische Pioniere. Mein Großvater hisste eine weiße Fahne und trat auf die Waldlichtung. Hinter ihm seine Männer. Aus dem ersten Jeep entstieg ein Offizier und ging auf meinen Großvater zu. Der glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Er erkannte den Mann in britischer Uniform. Er hieß Paul Löwenstein und war der jüngere Bruder seines im Ersten Weltkrieg gefallenen Freundes Simon. Der Familie Löwenstein war es gelungen, 1935 nach England zu emigrieren. Paul ging zur Armee und wurde im Sauerland eingesetzt, da er die Gegend noch aus seiner Jugend kannte.

Für meinen Großvater und seine Männer war an diesem Tag der Krieg zu Ende.

Da er nie in der Partei war und sich viele für seine eher kritische Haltung gegenüber den Nazis verbürgten, wurde er bald als unbelastet eingestuft.

Doch bis zu seinem Ende wollte er nicht mehr über diese Zeit sprechen. Meine Großmutter sagte mir, dass er sich geschämt habe, weil auch er viel zu lange weg geschaut habe.

Die Geschichte meines Großvaters hat mich viele Jahre später dazu bewogen, nach meinem Filmstudium auch noch Geschichte zu studieren und dieser so wichtigen Frage nachzugehen. Es gibt heute unzählige Bücher, Filme und Projekte, die sich mit diesem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte beschäftigen. Doch wie lebendig und mittelbar kann uns Geschichte aus Büchern überhaupt erzählt werden?

Geschichte lebt, und so lange wir noch Zeitzeugen haben, die etwas über ihre Erlebnisse berichten können, so lange haben wir die Pflicht, sie ernst zu nehmen, sie zu befragen und ihre Geschichten weiter zu erzählen.

Als Filmemacher habe ich die Werkzeuge dazu und kann mich immer wieder auf die Suche nach spannenden Begegnungen mit Zeitzeugen begeben.

Viele meiner Filme erzählen die Geschichten der von mir interviewten Zeitzeugen weiter. Auf meinen Reisen durch Deutschland, nach Polen, Frankreich, Großbritannien oder Israel, konnte ich bis heute viele Gespräche mit Verfolgten des Nazi-Regimes aufzeichnen und so vielleicht ein wenig dazu beitragen, ihre Geschichten lebendig zu halten.

Als mir Ritula Fränkel und Nicky Morris zum ersten Mal vom Projekt der Gedenkstätte der liberalen Synagoge erzählten, war ich sofort von der Idee begeistert, ehemalige Darmstädter Juden zu interviewen, denen damals noch rechtzeitig die Flucht ins Exil geglückt war. Wenige Wochen später war es so weit. Ich traf Rose Abrahamson, Emmy Loeb und Peter Ranis in den Räumen der Darmstädter Synagoge und war erstaunt, wie offen und freundlich sie mir begegneten.

Obwohl ihre Geschichte mit Darmstadt so lange her war, waren ihre Erinnerungen oft noch sehr lebendig. Wenn Rose Abrahamson von ihrem ersten Schuljahr in der Goetheschule erzählte, von ihren nichtjüdischen Freundinnen, die sich immer mehr von ihr distanzierten und von den zunehmenden Ängsten im Alltagsleben der Juden in Darmstadt, dann entstanden wieder Bilder vor meinen Augen. Ich sah das kleine Mädchen, das nicht verstehen konnte, was um sie herum geschah. Ich spürte ihre Angst auf dem Schulweg und bekam eine Vorstellung davon, was es heißen muss, bloß nicht aufzufallen.

Auch Peter Rains, der eigentlich viel zu klein war und die meisten seiner Kindheitserinnerungen mit der Zeit nach der Flucht verband, ließ immer wieder spüren, wie bedeutend diese Zeit der Verluste und der Ängste für ein Kind sein mussten.

Drei Jahr später rief mich Gabriella Deppert an und erzählte mir davon, dass sie mit der israelischen Filmwissenschaftlerin Helga Keller über ihre Zeit in Darmstadt gesprochen hatte. Helga Keller ging bis 1936 auf die Viktoriaschule, die gleiche Schule, die meine Töchter besuchen. Doch sie konnte nicht wie meine Kinder ihr Abitur dort ablegen, weil sie vorher fliehen musste und gerade noch rechtzeitig mit Mutter und Vater nach Großbritannien ausreisen konnte. Ein Glück, das nicht vielen Juden beschert war.

Gabriella Deppert fragte mich, ob ich mir nicht vorstellen könnte, Helga Keller noch einmal zu interviewen. Natürlich wollte ich. Die Reisekosten wurden durch die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit (GCJZ) und die Stadt Darmstadt übernommen, und so konnten wir kurz darauf zu einer dreitägigen Reise nach Tel Aviv starten. Es waren sehr intensive Tage mit langen Gesprächen von einer sehr reflektierten alten Dame, die sehr viel zu erzählen hatte. Zwei Tage später besuchten wir in Jerusalem die Familie Itan. Und hatten auch dort lange und tiefe Gespräche über einen furchtbaren Lebensabschnitt, der bis heute in den Gedanken der Zeitzeugen festgehalten ist.

Ein Jahr darauf flog ich, wieder finanziert durch die Stadt Darmstadt und die GCJZ, mit dem Künstler Nicky Morris nach Großbritannien, wo wir Max Neu trafen. Eine Begegnung, die mich bis heute nachhaltig beeindruckt hat. Max Neu erzählte uns zwei Tage lang seine Geschichte.

Auf Englisch, denn im Sommer 1938, sechs Wochen nach seiner Ankunft in England, hatte er beschlossen, nie wieder die Sprache seines Geburtslandes zu sprechen.

Nicky Morris hörte gespannt zu, ich stellte meine Fragen, saß hinter der Kamera und saugte jede Bemerkung von Max auf, wie ein Schwamm. Bis heute bin ich unglaublich froh darüber, dass ich meine Tochter Hanna zum Interview mitgenommen hatte, die damals ein Au-Pair-Jahr in London absolvierte und genau wie Nicky und ich auf jedes einzelne Wort von Max hörte. Der freundliche ältere Herr erzählte so detailliert und bildhaft, dass wir schon nach wenigen Sekunden einen kleinen Schuljungen vor uns hatten, der uns seine unglaubliche Geschichte erzählte.

Max war als sechsjähriger Junge im letzten Moment, im Sommer 1938, den Nazis entkommen. Mit einer Kinderverschickung konnten er und weitere Kinder nach England auswandern, wo sie bei britischen Familien unterkamen. Max Neus Mutter hatte ihn damals mit dem Zug bis nach Köln gebracht, wo die Kinder gesammelt wurden, um nach England zu fahren.

Bis heute hat Max nicht vergessen, wie die Mutter, tapfer die Tränen unterdrückend, von ihm Abschied genommen hatte. Dann fuhr sie zurück nach Darmstadt. Max hat seine Eltern nie wieder gesehen, denn Beide wurden von den Nazis ermordet.

Für mich war es sehr erstaunlich, wie freundlich uns Max Neu und seine Frau in ihrem Haus empfangen hatten. Nach all diesen Erlebnissen.

Die Atmosphäre in seinem wunderschönen, gemütlichen und warmen Haus war während der Gespräche derart ruhig und knisternd, dass man sprichwörtlich jede Nadel gehört hätte, die auf den Boden gefallen wäre. Als wir mit dem Interview zum Ende kamen, Nicky, Hanna und ich kaum etwas sagen konnten, lächelte Max und meinte: „So, und jetzt ist genug, jetzt gehen wir was essen und ich lade euch ein. Keine Widerworte gestattet.“ Kurz darauf saßen wir in einem urigen Restaurant, hörten viel fröhlichere Geschichten aus Max' Nachkriegsleben, von Reisen mit seiner geliebten Frau und von den Kindern, denen er in einem Buch seine Geschichte aufgeschrieben hatte.

Kein einziges Mal an diesem Abend hatte ich das Gefühl, dass ich mich als Deutscher schämen müsse. Max hatte uns das Gefühl gegeben, dass er trotz seiner Geschichte sehr wohl einen Unterschied zwischen den Taten unserer Väter und Großväter und unserer heutigen Generation machen kann. Auch von dieser Ansicht war ich sehr berührt.

Meine Tochter Hanna hat sehr viel von diesem Besuch mitgenommen.

Erst kürzlich hat sie davon gesprochen, dass ihr diese Stunden im Haus von Max Neu mehr bedeutet haben als jeder Geschichtsunterricht.

aus: „Geh nicht den alten Weg zurück!“ Festschrift zum sechzigjährigen Bestehen der Darmstadt 1954-2014; Lange, Thomas; Triebel, Lothar edd., unter Mitarbeit von Godehard Lehwark, Darmstadt 2014; ISBN 978-3-87390-353-1

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