Allein die Schrift? – Allein die Tradition!
von Frank Crüsemann

Wussten die Verfasser und Verfasserinnen (und die Verantwortlichen) des EKD-Grundlagentextes „Rechtfertigung und Freiheit“ was sie taten? Oder waren sie blind für ihr eigenes Tun? Das fragt man sich immer intensiver und ratloser, je öfter man den gesamten Text und insbesondere den Abschnitt „Sola scriptura – allein aufgrund der Schrift“ (76-86) liest. Da wird in einem Abschnitt (78) die „Theologie vor der Reformation“ dadurch charakterisiert, dass die kirchliche Tradition als eine Autorität galt, welche „für die meisten mittelalterlichen Denker … in einer selbstverständlichen Harmonie mit der Heiligen Schrift“ stand. „Nur gelegentlich blitzte auf, dass diese Voraussetzung irrig sein könnte.“ Für die Reformatoren dagegen sei allein entscheidend, „ob eine Aussage den biblischen Texten entspricht“, wodurch die Schrift „zum kritischen Gegenüber der Kirche“ wurde, an der „kirchliche Lehre und kirchliche Praxis immer wieder neu zu messen“ ist. An diesem Maßstab muss sich dann ja wohl auch dieser „Grundlagentext“ selbst messen lassen!

Doch was erklärt diese Schrift zum „zentralen Thema“, zum „Kerngedanken“ und „Herzstück“ der Reformation, von dem sie immer wieder ausgeht und an dem sie alles andere misst? Es ist die „Rechtfertigungslehre“, wie immer wieder mit großem Nachdruck gesagt wird (13.14.24.44.45.46 usw.). Die Lehre also ist es, die Lehre der Reformation und der Reformatoren, um deren historische Erläuterung man sich bemüht und deren Bedeutung bis heute an Beispielen wenigstens angedeutet werden soll. Es ist also weder die biblische Rede von Rechtfertigung und Gnade oder die Erfahrungen, die dabei gemacht werden, noch ist es Jesus Christus oder der Glaube oder die Schrift, sondern es ist die reformatorische „Lehre“ darüber, die ins Zentrum gerückt wird. Kann man ernsthaft behaupten, das sei methodisch etwas anderes als es die „Überlieferungen, Meinungen von Kirchenvätern sowie kirchlicher Lehrentscheidungen“ der vorreformatorischen Theologie sind? Von ihnen wird gesagt, dass sie Glauben und Schrift durch „menschengemachte theologische Lehren und Frömmigkeitstraditionen“ (78) verstellen? Warum sollte es anders sein, wenn nun die reformatorische Lehre und Frömmigkeitstradition an diese Stelle tritt? Natürlich haben wir all das, worauf die reformatorische Lehre hinweist, wozu sie hinführen will, immer nur in Gestalt menschlicher Worte und damit auch menschlicher „Lehre“. Doch die Lehre ins Zentrum zu rücken und nicht das, was sie sich bemüht zu lehren, schreibt ihr genau die Bedeutung und Funktion zu, die die Reformatoren an der kirchlichen Tradition ihrer Zeit kritisiert haben. Die Reformation wird so, und das ist in dieser Schrift mit wenigen Ausnahmen (bes. 29ff) durchgehend zu beobachten, unvermeidlicherweise selbst zu einer Tradition, die den Zugang zur Schrift normieren will und ihn damit faktisch immer wieder verstellt.

Was die heftige Kritik des Rates der EKD und einiger anderer kirchenoffizieller Stellen an der „Bibel in gerechter Sprache“, in der ja zentrale neuere theologische Entdeckungen in biblischer Theologie verarbeitet wurden, bereits erahnen ließ, zeigt sich hier in aller Deutlichkeit: Wie damals gegen die Freiheitstraditionen der Reformation und insbesondere gegen Martin Luthers Einschätzung seiner eigenen und seiner Forderung nach neuen Bibelübersetzungen faktisch der (mehrfach redigierte) Luthertext zum allein gültigen erklärt und damit in der Praxis über den Ausgangstext gesetzt wurde, so wird jetzt die reformatorische Lehre gegen ihre eigene Intention in die Rolle eines Quasidogmas erhoben.

Was dann als die Rechtfertigungslehre der Reformation beschrieben wird, ist gegenüber den historischen Lehren der Reformation fast zwangsläufig erheblich verkürzt und verwässert, es muss ja in eine im Grunde überzeitliche Gestalt gebracht werden. Und wenn dieser recht formelhaft beschriebenen Lehre dann nachhaltige Folgen für viele positive Entwicklungen in der Neuzeit und bis in die Gegenwart zugeschrieben werden, konnte das im Grunde zwangsläufig nur zu einer massiven Kritik von Seiten kritischer Historiker führen. Zumal die Tatsache, dass nicht nur theologisch in den Jahrhunderten seitdem und im 20. Jh. zumal immer wieder mit bestimmten Momenten der „Lehre“ des 16. Jh.s gebrochen werden musste, um bei der Sache, auf die die Reformation mit ihrer Lehre hinweisen wollte, bleiben zu können, nirgends zur Sprache kommt.

Erbärmliche Leere
In dem einschlägigen Abschnitt über das reformatorische Prinzip sola scriptura (76-86) gibt es einen einzigen Satz, der davon redet, dass gewisse Inhalte der Bibel für das Leben der Kirche heute etwas bedeuten können. Es ist der letzte Satz des Abschnitts. Er lautet: „Außerdem kann sie [die Kirche] durch ihren Bezug auf biblische Texte in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen eindrucksvoll zeigen, wie kulturelle Traditionen bewahrt und eingebracht werden können“ (86). Auch er ist abstrakt formuliert und umgeht jeden Inhalt sorgfältig. Und in ihm wird die Bedeutung des sola scriptura für all die vielen Fragen, vor denen Glaube und Kirche heute stehen, auf ein mögliches Bewahren (das zuerst!) und Einbringen kultureller Traditionen reduziert!

So sieht also das aus, was bei einem Beharren auf der inhaltlichen Lehre des 16. Jahrhunderts, für die Gegenwart und damit auch für das Reformationsfest übrig bleibt. Ist es nicht erbärmlich, wie wenig die Bibel hier für die Gegenwart zu sagen hat? Dass Glaube, Theologie und Kirche sich an der Bibel zu orientieren haben und zwar letztlich allein, davon ist hier im Grunde nichts übrig geblieben außer der Behauptung, das solle nach der Lehre der Reformation so sein, der Erinnerung an einige Diskussionen, die es bei diesem Thema damals gab, und knappen Hinweisen auf die historisch-kritische Methode und auf kulturelle Traditionen.

Und das angesichts der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, wo die Kirche vor immer neuen massiven Herausforderungen stand und sie – nach Schwankungen und trotz Konflikten – letztlich allein durch einen Rückgriff auf ihre biblischen Grundlagen bewältigen konnte. Man denke hier nur aus der Fülle möglicher Beispiele an die Neuorientierung am Wort Gottes nach den Erfahrungen des sinnlosen millionenfachen Todes im und des Zusammenbruchs der bisherigen, sich christlich verstehenden Kultur durch den 1. Weltkrieg. Man denke an die Orientierung an der Bibel in der Bekennenden Kirche und hier insbesondere an die Neuentdeckung des verachteten und bestrittenen Alten Testamentes, wofür exemplarisch die Namen Gerhard v. Rad und Dietrich Bonhoeffer stehen, deren Theologie die Nachkriegszeit so stark geprägt haben. Folgt man Bonhoeffers Erkenntnis aus seiner intensiven Lektüre des Alten Testaments nach seiner Verhaftung – „Wer zu schnell und zu direkt neutestamentlich sein und empfinden will, ist m. E. kein Christ“ (1 DBW 8, 226) – kann übrigens dieser „Grundlagentext“ nicht als christlich bezeichnet werden. Man denke weiter an die von jüdischer Seite ausgestreckte Hand über den Abgrund von Blindheit und Schuld der christlichen Kirchen und ihrer Theologie hinweg im beginnenden christlich-jüdischem Gespräch – was ich nur als die wichtigste Form erfahrener Rechtfertigung im 20. Jahrhundert werten kann – und an ihre Folgen bis hin zur Änderung kirchlicher Verfassungen. Das alles geschah doch im bewussten Rückgriff auf die Bibel, die sich jeweils ein ganzes Stück weit neu erschloss. Und die EKD, die heute alle diese und manche weiteren Erfahrungen der immer neuen Aktualität der Bibel hinter einer formelhaft wiederholten Lehre aus dem 16. Jahrhundert versteckt, statt sie als Folgen reformatorischer Bibelzuwendung zu begreifen, hat doch in ihren drei Studien „Christen und Juden“ an der Neuorientierung an der Bibel mitgewirkt und dabei in der zweiten die biblische Rede vom Volk Gottes und in der dritten die von Bund und neuem Bund für ihr Selbstverständnis in der Gegenwart aufgegriffen. Es war doch die Bibel und letztlich allein die Bibel, der die Kirche immer wieder Überleben und Neuorientierung verdankt. Warum ist all das – und es wäre ja sehr viel mehr zu nennen – in einer Besinnung auf das reformatorische Prinzip sola scriptura nicht einmal einer beispielhaften Erwähnung wert?

Noch einmal die alten Fehler
Ein Festhalten an der Lehre des 16. Jh.s ohne die damit gegebene Distanz zur Bibel einerseits, zur Gegenwart andererseits reflektiert ins Auge zu fassen, führt in dieser Schrift zu hochproblematischen Folgen, von denen wenigstens zwei im Folgenden benannt werden sollen.

1. Da ist der Umgang mit Luthers hasserfüllten und geradezu kriminellen Judenschriften. Zunächst ist zu konstatieren, dass hier eine deutliche Kritik an „den Äußerungen des sechzehnten Jahrhunderts“ geübt wird (22). Ähnliches gilt für die Türkenschriften. Die „Überprüfungen reformatorischer Sichtweisen“ werden zu Recht als „unabdingbare Voraussetzung“ bezeichnet, um das Jubiläum „als Erinnerung an eine zentrale Voraussetzung europäischer Freiheitsgeschichte über den Kreis der Kirchen hinaus zu feiern“ (23). Doch es ist festzustellen: Eine solche Überprüfung und Revision finden in dieser Schrift wieder einmal nicht statt. Das zeigt sich bereits an der Formulierung, es gehe darum, „die Äußerungen …über das Judentum kritisch zu mustern und …selbstkritisch zu korrigieren“ (22). Das mag für die Aufrufe zur Judenvertreibung und Synagogenzerstörung des alten Luther gelten. Doch die Frage, wie weit die durchgängig antijüdische Haltung und die Feindschaft zu anderen Religionen nicht gerade in der „Lehre“ der Reformation verankert und also auch diese zu korrigieren ist, wird nicht einmal andeutungsweise gestellt. Eine Kritik findet nur an den „Äußerungen“, aber nicht an deren Theologie, nicht an deren Sicht der Bibel, insbesondere des Alten Testamentes, nicht an der reformatorischen Christologie statt. Eine der Folgen besteht darin, dass die alten Verwerfungsmuster für Judentum und Fremdreligionen, wenn auch tief in Watte verpackt, an nicht wenigen Stellen wieder zu beobachten sind. Wo aber soll in der Evangelischen Kirche die nötige offizielle inhaltliche Auseinandersetzung geschehen, wenn nicht in einer Schrift wie dieser?

2. Wie sehr die Annahme, dass die konstruierte reformatorische Rechtfertigungslehre „in einer selbstverständlichen Harmonie mit der Heiligen Schrift“ stehe, (78), diese Schrift prägt, zeigt sich deutlich beim Umgang mit der Bibel und hier insbesondere mit dem Alten Testament.

Die Bedeutung des Alten Testamentes für Martin Luther wird ausgeklammert. So wird mehrfach behauptet, Luther habe seine reformatorische Entdeckung der Rechtfertigung allein aus Gnaden an den paulinischen Schriften und insbesondere am Römerbrief gewonnen (27.46). Es ist aber heute nicht mehr strittig, dass sich der Durchbruch zur reformatorischen Erkenntnis schon vorher in der ersten Psalmenvorlesung ereignet hat, also an alttestamentlichen Texten. Luthers Auslegung dieser und anderer Texte der jüdischen Bibel zeigt zweifellos, dass es für ihn wie für die ganze Reformation gerade im Blick auf die Rechtfertigung, um die es doch angeblich allein geht, keine grundsätzliche Differenz zwischen Altem und Neuem Testament gibt. Freilich spricht für Luther in den Psalmen direkt Christus und so liest er die jüdischen Texte von Anfang an antijüdisch, weil die Juden diese Voraussetzung nicht teilen und ihre eigene Bibel nicht verstehen. Indem das Verhältnis von Rechtfertigung und Altem Testament in „Rechtfertigung und Freiheit“ nicht einmal angesprochen wird, wird faktisch dazu angeleitet, die Rechtfertigung weiter antijüdisch zu verstehen.

Entsprechendes zeigt sich beim Umgang mit dem Neuen Testament. Auch hier wird die Bedeutung des Alten Testamentes für die neutestamentlichen Texte systematisch verschwiegen. Mehrfach werden paulinische Kernstellen angeführt, auf die sich Luther für seine Rechtfertigungslehre beruft. So Römer 1,17 (27) und mehrfach Römer 3,28 (27.46). Dass Paulus jedes Mal sofort im engeren Kontext zur Begründung auf die Schrift, also die jüdische Bibel verweist, oder dass er seine Botschaft direkt als Zitat formulieren kann wie in Römer 1,17 mit dem Satz aus Habakuk 2,4 „Der Gerechte wird aus Glauben leben“, wird übergangen. An anderer Stelle (49f) wird die Bedeutung von Kreuz und Auferstehung Jesu herausgehoben, ohne auch nur anzudeuten, dass diese Bedeutung im Neuen Testament durchgängig durch Verweise auf die Schrift formuliert wird. Etwa indem der Tod Jesu in der Passionsgeschichte faktisch mit einer Kette von Psalmenzitaten geschildert wird. Oder wenn nach der alten, von Paulus schon übernommenen Tradition in 1 Korinther 15,3f Tod und Auferstehung Jesu „nach den Schriften“ geschehen sind. Von all dem findet sich hier kein Wort.

Für das lutherische Verständnis von sola scriptura ist entscheidend, dass die Bibel sich selbst auslegt, dass die Schrift sui ipsius interpres ist. Dass das gerade auch für das Verhältnis von Neuem und Altem Testament gelten muss, woran so unendlich viel hängt, und man dabei zu einem völlig eindeutigem Ergebnis kommt, mag nicht im Horizont des 16. Jahrhunderts gelegen habe. Insofern mag die restriktive Beschränkung dieses Prinzips allein für die individuelle Lektüre der Christen (80) historisch ihr Recht haben. Für die Frage nach der Bedeutung der Reformation für die Gegenwart kann davon aber nicht abgesehen werden, ohne dass alte und überholt geglaubte antijüdische Muster der Abwertung des Alten Testaments wieder bekräftigt werden. Und genau das geschieht hier.

Solche alten Muster zeigen sich deutlich an vielen Stellen. Etwa wenn die Bedeutung der alttestamentlichen Texte angeblich nach Meinung der Reformatoren auf Verheißungen, die in Christus erfüllt werden, reduziert wird (77), wenn mit dem Glauben „eine neue existentielle Haltung Gott und sich selbst gegenüber“ entstehe (87), oder wenn mit Jesus Christus „die Beziehung zwischen Gott und Mensch neu konstituiert“ wird (53), ohne zugleich daran zu erinnern, dass genau dieser Glaube und genau diese Beziehung für das Neue Testament mit Abraham beginnt, und die nichtjüdischen Menschen durch Christus in diese alte Haltung und in diese längst bestehende Beziehung eintreten (bes. Römer 4).

Schon vom Titel „Rechtfertigung und Freiheit“ her kommt dem Begriff der Freiheit eine zentrale Rolle zu. Insbesondere für das angepeilte Gespräch über die Kirchen hinaus sollte er, so heißt es, „von den biblischen Wurzeln“ her begriffen werden (23; vgl. 32f). Faktisch wird die Rede von Freiheit aber darauf reduziert, dass es sich um eine geschenkte Freiheit handelt, die von Selbstbezogenheit befreit. Dagegen fehlen die mit dem Alten Testament gegebenen sozialen und politischen Dimensionen des biblischen Freiheitsbegriffs, die im Neuen Testament vorausgesetzt, aber nicht neu entfaltet werden, praktisch völlig. Das Wort „Exodus“, der biblische Grundbegriff von Freiheit, von dem her sich gerade auch alle Aspekte von Rechtfertigung sachgemäß erschließen, fällt kein einziges Mal. Diese Verengung des biblischen Freiheitsbegriffs macht besonders deutlich, wieviel an möglicher Bedeutung des reformatorischen ‚Zurück zur Bibel’ für Gegenwart und Zukunft hier verschleudert und verschenkt wird.

Frank Crüsemann, Em. Professor für Altes Testament an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Er ist einer der Herausgeber/innen der Bibel in gerechter Sprache.

aus: JungeKirche 1/2015

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