Stellungnahme der EKHN-Synode zu Luthers Judenschriften
Vier Beiträge aus der Synodaldebatte

Im November 2014 verabschiedete die Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau einstimmig ein Votum zu Luthers Judenschriften. Den Wortlaut finden Sie in den Blickpunkten 1/2015, den Brief von Präses und Kirchenpräsident zusammen mit 5 Essentials und dem Beschluss in Blickpunkten 2/2015. Im Folgenden lesen Sie vier Wortmeldungen während der Synode, die nach dem Wortprotokoll des Kirchensynodalvorstands zitiert werden.

Stellv. Präses Susanne Bei der Wieden:

Luther und die Juden: Das ist ja ein Thema, das in den letzten Jahren zunehmend Raum in der innerkirchlichen und im Rahmen der Reformationsdekade vor allem in der innerprotestantischen Öffentlichkeit findet. In unserer Kirchensynode hat das Thema erstmals unser Herr Kirchenpräsident angemahnt, der hat nämlich in seinem Bericht zur Lage in Kirche und Gesellschaft aus dem Frühjahr

2013 zur 7. Tagung gefordert, dass sich die Evangelische Kirche auf dem Weg zum Reformationsjubiläum durch eine offizielle Bekundung deutlich von Luthers antijüdischen Äußerungen distanzieren soll.

Heute legt uns der Theologische Ausschuss unserer Kirchensynode durch Herrn Professor Breul eine Stellungnahme zu Luthers Judenschriften vor.

Herr Breul, Sie haben an diesem Thema mit Ihrem Oberseminar gearbeitet und dann diese Ergebnisse auch für unsere weitere synodale Arbeit fruchtbar gemacht, in der Drucksache, die wir vorliegen haben, in dem Vortrag, den wir jetzt von Ihnen erwarten dürfen, um den ich Sie jetzt bitte.

Ich kündige schon an, dass sich der Theologische Ausschuss noch intensiver mit der Thematik beschäftigt hat, auch im Blick auf unseren Grundartikel der EKHN und dass wir dazu dann weitere Voten aus dem Theologischen Ausschuss hören werden, die ich dann aufrufe. Jetzt zunächst aber Herr Professor Breul bitte.

Dr. Wolfgang Breul:

Hohe Synode, sehr verehrter Herr Kirchenpräsident, sehr verehrter Herr Präses.

Martin Luther hat in den letzten Wochen vor seinem Tod noch mit großem Engagement versucht, zwischen den zerstrittenen Grafen seiner Heimatregion Mansfeld zu vermitteln. Am 01. Februar 1546 schrieb er in diesem Zusammenhang an seine Frau Katharina über die Reise in seine Geburtsstadt Eisleben.

Zitat: „Ich bin ja schwach gewesen auf dem Weg hart vor Eisleben, das war meine Schuld. Aber wenn du wärest da gewest, so hättest du gesagt, es wäre der Juden oder ihres Gottes Schuld gewest. Denn wir mussten durch ein Dorf hart vor Eisleben, da viel Juden innen wohnen, vielleicht haben sie mich so hart angeblasen. So sind hier in der Stadt Eisleben itzt diese Stund über fünfzig Juden wohnhaftig.“

Über die Verhandlungen schrieb er von gleicher Stelle: „Wenn die Hauptsachen geschlichtet werden, so muss ich mich dran legen, die Juden zu vertreiben. Wills Gott, ich will auf der Kanzel Graf Albrechten helfen und sie auch preisgeben.“

Tatsächlich hat Luther in seinen Predigten in Eisleben zur Vertreibung der Juden aufgerufen. An den Schluss seiner letzten Predigt, gehalten am 14. oder 15. Februar (also ganz wenige Tage vor seinem Tod) hängte er eine Vermahnung wider die Juden an.

Gerichtet an die Obrigkeiten seiner Zeit sagte er dort unter anderem: „Sie sind unsere öffentlichen Feinde, hören nicht auf, unseren Herrn Christus zu lästern, heißen die Jungfrau Maria eine Hure, Christum ein Hurenkind. Darum sollt ihr Herren sie nicht leiden, sondern sie wegtreiben. Wo sie sich aber bekehren, ihren Wucher sein lassen und Christum annehmen, so wollen wir sie gerne als unsere Brüder halten.“

Hohe Synode, Sie sehen an diesen Zitaten aus den letzten Lebenstagen Luthers, in denen er schon von seiner Krankheit gezeichnet war, dass das Thema der Austreibung der Juden ihn beschäftigt hat. Es kann kein Zweifel bestehen, dass Martin Luther den in seiner Zeit weit verbreiteten Judenhass geteilt hat. Das ist eine, für einen Reformationshistoriker, der Luthers Theologie und auch seinen Einsatz für die Reformation schätzt und achtet, eine ebenso schmerzliche wie unvermeidliche Einsicht.

Luther gehört in die Geschichte des christlichen Antijudaismus und partiell auch des Antisemitismus hinein. Im Kontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts müssen evangelische Christen offen und ehrlich über dieses Thema sprechen. Das Votum, das Ihnen vorliegt, möchte dazu eine Formulierungshilfe, eine Orientierungshilfe sein für Menschen, die in der Kirche Verantwortung tragen, die an den Orten religiöser Bildung arbeiten, vor allem in Schulen und Kirchengemeinden.

Zu einem offenen und ehrlichen Umgang gehört, dass wir Luther in seinem historischen Kontext wahrnehmen; der Judenhass war im frühen 16. Jahrhundert in allen gesellschaftlichen Schichten verbreitet, selbst bei denen, die sich, wie die Humanisten im Gefolge der Auseinandersetzung um Johannes Reuchlin, ein Hebraist, gegen die Zerstörung jüdischer Schriften aussprachen. Also auch diese Humanisten haben diese judenfeindliche Einstellung fast immer geteilt. Aber Martin Luther hat schärfer und er hat lauter formuliert, als viele seiner Zeitgenossen und vor allem auch öffentlichkeitswirksamer.

Zu einem offenen und ehrlichen Umgang mit Luthers sogenannten Judenschriften gehört auch, dass seine erste Schrift zu diesem Thema angemessen gewürdigt wird „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ von 1523. Diese Schrift gilt vielen als ein Bruch mit der Tradition des Judenhasses. Ihre Kritik an den Verleumdungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung, ihr Angriff auf die traditionellen Vorwürfe des Judenhasses sind getragen von der Erwartung einer Bekehrung von weiten Teilen der jüdischen Gemeinden zum Christentum. Der Durchbruch des Wortes Gottes in der Gegenwart Luthers wecke die Hoffnung, dass sich dem auch die jüdische Bevölkerung nicht verschließen werde, wenn man nur freundlich genug mit ihnen sprechen werde. Daraus resultierten auch judenfreundlichere Töne und eine gewisse Mehrstimmigkeit der reformatorischen Stimmen in dieser Frage.

Die Erwartung einer jüdischen Konversion bedeutete aber auch, dass es eine mehr oder weniger deutliche Kontinuität zu den späten Schriften Luthers zum Thema gibt, vor allem zu der Schrift, die Sie wahrscheinlich auch kennen: „Von den Juden und ihren Lügen“ aus dem Jahr 1543.

Das Verhältnis zu Christus und der Glaube an die Rechtfertigung des Sünders schlossen für Luther eine eigene und bleibende jüdische Erwählung durch Gott aus. Luthers, wie er es nannte, „scharfe Barmherzigkeit“ dieser Schrift resultiert wesentlich daraus, dass die Erwartungen einer jüdischen Konversion zum evangelischen Glauben weitgehend unerfüllt geblieben waren.

Mit dem territorialen Aufbau eigener evangelischer Kirchentümer in den Jahren davor, in den Jahrzehnten davor, konnte dies immer weniger der Römischen Kirche angelastet werden, wie noch 1523. Der Vorwurf richtete sich bei Luther nun an die Juden selbst. Luther sah sich darin durch Schriften jüdischer Konvertiten, die diese Polemik auch anstachelten, wie zum Beispiel Antonius Margaritha, bestätigt.

Zu einem offenen und ehrlichen Umgang mit Luthers sogenannten Judenschriften gehört aber auch, ihn nicht nahtlos in die Geschichte des modernen Antisemitismus und der massenhaften Verbrechen des Nationalsozialismus zu stellen; vom Holocaust des 20. Jahrhunderts konnte Luther nicht ahnen. Seine wüsten antijüdischen Schriften des letzten Lebensjahrzehnts wurden lediglich im 16. Jahrhundert in einem gewissen Umfang rezipiert.

Der Pietismus des späten 17. und des 18. Jahrhunderts zählte zu den Voraussetzungen seiner eschatologischen Erwartungen auch die Bekehrung der Juden, und das führte zu einer freundlicheren Haltung, teilweise auch zu einer Kritik an Luthers judenfeindlichen Schriften.

Beginnend um 1900 und dann verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg wurden Luthers Judenschriften in der Debatte um den aufkommenden völkischen und rassistischen Antisemitismus aufgegriffen.

Unter dem Nationalsozialismus suchten Theologen und Kirchenführer, die mit den neuen Herrschern sympathisierten, Luther für ihre Position einzusetzen. Den fürchterlichen Höhepunkt dieser Entwicklung bilden die Aussagen des thüringischen Landesbischofs Martin Sasse, der den Pogrom vom 10. November 1938 als Erfüllung von Luthers Hoffnungen deutete.

Man muss festhalten, dass es keine direkte Linie von Luthers Schriften zu diesen schlimmen Entgleisungen gibt, aber wir stehen eben in einer Geschichte des christlichen Antisemitismus, zu welcher der Völkermord gehört, der sich mit dem Namen Ausschwitz verbindet. Diese Geschichte fordert auch eine kritische Sichtung unserer theologischen Traditionen, zu der viele Spielarten des Antijudaismus und des Antisemitismus gehören.

Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau hat die Konsequenz aus der notwendigen theologischen Neuorientierung mit der Erweiterung des Grundartikels ihrer Kirchenordnung 1991 gezogen: „Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen, bezeugt sie neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein.“ In diesem Sinne bitte ich Sie um Unterstützung für das vorgelegte Votum zu Martin Luthers sogenannten Judenschriften.

Abschließend möchte ich mich bei allen bedanken, die an der Abfassung dieses Votums beteiligt waren; beim Herrn Kirchenpräsidenten Jung und Herrn Präses Oelschläger, die den Auftrag gegeben und die Abfassung des Votums nachdrücklich unterstützt und begleitet haben; bei den Angehörigen meiner Kirchengeschichtlichen Sozietät in Mainz, die sich über einige Monate mit diesem Thema befasst und intensiv an der Formulierung mitgearbeitet hat; bei Herrn Triebel, der an den Sitzungen der Sozietät und der formulierenden Arbeitsgruppe wiederholt aktiv und sehr engagiert mitgewirkt hat und bei meinen Mainzer Kollegen Andreas Lehnardt aus der Judaistik und Isaac Kalimi aus dem Alten Testament, welche die Vorlage mit solidarisch kritischem Blick und kleineren Korrekturen und Ergänzungen vorgeschlagen haben.

Ihnen allen gilt mein herzlichster Dank für die anregende und produktive Zusammenarbeit. Vielen Dank.

 

Dr. Angela Rinn:

Frau Präses, hohe Synode. Mein Votum ist zugleich das Votum des Theologischen Ausschusses, der sagen will, dass die Thematik mehr mit uns auch zu tun hat, als wir es vielleicht auch wahrhaben wollen.

Das Judentum erhielt, wie Herr Professor Breul es schon gesagt hat, 1991 in der EKHN eine besondere Stellung. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau hatte sich intensiv mit der historischen und theologischen Dimension der christlich begründeten Judenfeindschaft auseinandergesetzt und ihre Abkehr davon 1991 in der Erweiterung ihres Grundartikels zum Ausdruck gebracht. Doch auch Erweiterungen des Grundartikels können in einen unheilvollen Dornröschenschlaf verfallen und das hat Gründe.

Seit dem Holocaust fehlt uns hier in Deutschland jüdisches Leben als selbstverständliches Element unserer Gesellschaft. Wer nach England reist, in Paris oder in New York lebt oder, wie ich vor einigen Tagen, in Straßburg ist, der erlebt Juden und ihre Tradition im Alltag: Ein jüdischer Jugendlicher, der mit Kippa joggt oder ein orthodoxer Jude, der im Fahrrad vorbeifährt. Ganz selbstverständlich für das Straßenbild.

Diese lebendige, überall sichtbare Kultur ist in Deutschland zerstört worden; Menschen sind nicht mehr vertraut mit jüdischen Gebräuchen. Nur so erklärt sich auch die Heftigkeit der Debatte um das Beschneidungsurteil. Menschen in Deutschland wissen nicht mehr darum, dass die Beschneidung von Jungen im Judentum eben keine freie Entscheidung ist, die man nach Belieben herauszögern kann, sondern ein notwendiges Zeichen der Zugehörigkeit der jüdischen Gemeinschaft, die schon am wenige Tage alten Säugling vollzogen werden muss.

Äußerungen auch aus evangelischen Gemeindekreisen und Reaktionen in den Medien zeigen, dass Menschen das nicht mehr verstehen. Sie begreifen die Beschneidung als Körperverletzung und verstehen nicht, dass ein Verbot der Beschneidung es für viele jüdische Familien unmöglich machen würde, in Deutschland ihren Glauben zu leben, und das ist eine bedenkliche Entwicklung.

In der Synodaltagung am 15. Juni 2013 zur Lebensordnung, auf der wir auch über die gemeinsamen Gottesdienste mit anderen Religionen diskutiert haben, wurde das deutlich. Bei der Abstimmung über gemeinsame Gottesdienste mit Juden zeigte sich, dass entweder viele Synodale offenbar über die besondere, einzigartige und für unsere Kirche konstitutive Verbundenheit mit dem Judentum nicht genügend informiert sind, oder dass die Brisanz der Abstimmung nicht verstanden wurde, oder aber, dass diese besondere Verbindung mit dem Judentum nicht mehr mitgetragen wird. Anders kann das knappe Abstimmungsergebnis kaum interpretiert werden, dass die Verbindung mit dem Judentum auf eine Ebene mit anderen Religionen gestellt hätte.

Aber das Judentum ist für uns mehr als eine Religionsgemeinschaft unter vielen, es ist unsere Wurzel. Der Theologische Ausschuss meint, dass die Synode in der Verantwortung steht, die grundlegenden Aussagen des Grundartikels der EKHN über die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen für die gesamte EKHN zu bewahren, sie ins Bewusstsein ihrer Mitglieder zu heben und sie zu verteidigen durch theologische Reflexionen und Anregung zur Vermittlung dieser Einsichten in Verkündigungen und Unterricht.

Synoden sind frei in ihren Beschlüssen, sie tragen zugleich Verantwortung dafür. Die Abstimmung im Juni 2013 erfordert nach Meinung des Theologischen Ausschusses eine intensive Diskussion innerhalb unserer Synode über versteckten christlichen Antijudaismus, über ungewollten Antisemitismus, über Respekt gegenüber denen, in deren Stamm wir Christen erst eingepfropft wurden.

„Nicht Du trägst die Wurzel,“, sagt Paulus, „sondern die Wurzel trägt dich.“
Herzlichen Dank.

 

Ulrich Weisgerber:

Frau Präses, hohe Synode. Was Kollegin Frau Dr. Rinn gerade vorgetragen hat, möchte ich noch durch ein kleines Beispiel ergänzen.

Ich zitiere einen Text, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht ausdrücklich Antijudaistisches transportieren sollte, der aber bedenklich ist. Bedenklich – das meine ich so. In einem Büchlein über Kinderbibeln habe ich vor sieben Jahren etwas zu der Frage gelesen, wie denn Jesus bildlich dargestellt wird, und da fand ich die Aussage, die eine Alternative aufmacht: „Kann man an den Bildern die jüdische Herkunft Jesu erkennen oder ist er ein junger Mann von heute?“

Ich lese ihn noch einmal: „Kann man an den Bildern die jüdische Herkunft Jesu erkennen, oder ist er ein junger Mann von heute?“

Der Satz klingt so, als gäbe es keine Menschen von heute mit jüdischer Herkunft. Gemeint ist ja wohl: Erscheint Jesus in den Bildern von Kinderbibeln und anderen Werken als eine Gestalt aus der Antike, aus dem damaligen Judentum, außerdem aus einem uns fremden Land und Kulturkreis, oder wird er als ein Zeitgenosse dargestellt, der aussieht wie junge Männer, die in Frankfurt, Mainz, Gießen, Wiesbaden, Darmstadt oder in einem Dorf wie Wallertheim, wo ich wohne, rumlaufen und bei deren Anblick niemand vermutet, sie stammen ungefähr aus der Zeit der alten Römer, ganz egal wie sie sonst aussehen?

Dieser abgedruckte Satz hat mich erinnert an meinen ersten akademischen Lehrer im Fach „Neues Testament“ – das war 1973. Der, als Bultmann-Schüler, hat ganz ungeniert vom Spätjudentum gesprochen, und er hat damit das mit Jesus zeitgenössische Judentum gemeint. In der Logik dieser Redeweise dieses Begriffes liegt es aber, dass Judentum heute, 2000 Jahre später (rundgerechnet): Ein völliger Anachronismus; etwas aus der Zeit gefallenes oder vertriebenes – ein groteskes Überbleibsel. Was daran pervers ist an diesem Gedanken brauche ich Ihnen hier nicht zu sagen.

Ich möchte mit diesem Begriff, mit diesem Beispiel auf etwas hinweisen, das uns umgibt, an dem wir oft auch Anteil haben, es würden mir noch mehr Beispiele einfallen (auch hier aus diesem Raum), und das wir unbedingt beachten und reflektieren und überwinden müssen.

 

Dr. Christian Ferber:

Sehr geehrte Frau Präses, liebe Mitsynodale. In seinem Grundriss zur Theologie des Paulus schreibt der in Bonn lehrende Neutestamentler Michael Wolter im Jahr 2012 folgende eindrückliche Zeilen:

„Die paulinische Bekehrung darf auf keinen Fall als eine Bekehrung vom Judentum zum Christentum verstanden werden, weil es so etwas wie ein vom Judentum zu unterscheidendes Christentum in paulinischer Zeit noch nicht gegeben hat. Am Ende unserer Darstellung (und das ist ein über 400-seitiges Werk) und im Rückblick auf die Gesamtheit der paulinischen Theologie kann es nur eine einzige Antwort geben: Paulus sieht das von ihm verkündete Evangelium und den Christusglauben selbstverständlich und ohne jede Einschränkung in einer elementaren und ungebrochenen Kontinuität mit den theologischen Grundlagen und der Tradition Israels.“ – Zitat Ende.

Das ist, Gott sei Dank, im Bereich der neutestamentlichen Forschung ein Erkenntnisfortschritt, haben doch Georg Strecker und Jürgen Becker in den 90er-Jahren noch schreiben können, dass Paulus nach eigenem Verständnis sich fundamental vom Judentum geschieden wusste, beziehungsweise der Christ Paulus seine jüdische Lebensperiode fast ganz abgestoßen hat.

Die neutestamentliche Theologie hat also in den letzten 20 Jahren gelernt, den jüdischen Kontext des Paulus in und durch seine Theologie hindurch zu profilieren. Aber was hier eine wichtige Entwicklung innerhalb der neutestamentlichen Exegese ist, bleibt dann ein stumpfes Schwert, wenn diese Erkenntnis nicht in das kirchliche Leben, gottesdienstliche Verkündigen und Lehre in Schulen und gemeindlichen Fortbildungsveranstaltungen eingepreist und eingespielt wird.

Heute setzen wir uns kritisch mit Luthers schwieriger Haltung zum Judentum auseinander, aber diese historische Rückbesinnung trägt einen Geltungsanspruch für die Gegenwart unserer Kirche in sich. Wie können wir im Zuge der Reformationsdekade die lutherische Rechtfertigungslehre als bahnbrechende Entdeckung vom gnädigen und barmherzigen Gott feiern, ohne dabei darauf zu verzichten zu sagen, dass Luthers pointierte Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium eine eigene Lesart der paulinischen Theologie darstellt, die nicht unmittelbar im Horizont und in der Intention des Paulus selbst lag.

Es gibt ja auch hier, zwischen Luthers Lesart und der Theologie des Paulus, eine Differenz. Und es ist kein Grund zur Klage, sondern das lässt uns Neues entdecken, nämlich wie es die Erweiterung des Grundartikels der EKHN bekennt, dass die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen aus dezidiert theologischen Gründen durch das Bekenntnis zu Christus nicht ausgeschlossen ist. Was der Grundartikel hier nur bekenntnisartig in historischer Verantwortung formuliert, dem muss neues theologisches Leben eingehaucht werden und ich glaube, das ist die theologische Aufgabe, vor der wir als Kirche stehen.

Und dann stehen wir, glaube ich, in einem tatsächlich guten reformatorischen Erbe, sowohl mit Luther, als auch mit Paulus, wenn wir die Worte der Bibel so intensiv behandeln, wie Luther es selbst fordert, wenn er sagt, Zitat: „Gottes Wort ist ein Blümelein, das heißt: Je länger, je lieber. Wer das einmal recht ergreift, der gewinnt es so lieb, dass er‘s immer je mehr und mehr begehrt.“

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Kirchenpräsident Dr. Volker Jung:

Frau Präses, hohe Synode. Auch von meiner Seite aus ein ganz herzlichen Dank an den Theologischen Ausschuss und insbesondere an Professor Breul für diese wunderbare Arbeit.

Das ging ja zurück auf eine Anregung, die ich in meinem Bericht vor zwei Jahren gegeben habe, als ich im Zusammenhang des Dekadethemas „Reformation und Toleranz“ eine Verhältnisbestimmung versucht habe zu dem Feld der Religion, und da habe ich in ganz besonderer Weise darauf hingewiesen, dass es überfällig ist, dass wir uns deutlich zu den sogenannten Judenschriften Luthers verhalten. Das haben wir mit dieser Erklärung getan, gleichwohl (und auch für diese Voten bin ich dankbar) ist es nötig, daran weiterzuarbeiten, denn das, was wir hier gemacht haben, kann exemplarisch für das stehen, was unsere Bewegung im Zusammenhang des Reformationsjubiläums ist: Wir setzen uns auch kritisch mit der eigenen Tradition auseinander, wir wollen vor allen Dingen eine vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung mit den reformatorischen Anliegen, aber eben auch mit den Schattenseiten der Reformation.

Ich bin sehr dankbar für diesen Text. Ich bin sehr dankbar auch für Ihr einstimmiges Votum, das wird jetzt weitergereicht an die EKD. Die EKD ist ihrerseits an diesem Thema dran; der wissenschaftliche Beirat für das Reformationsjubiläum hat ebenfalls einen Text

„Die Reformation und die Juden“ herausgegeben, auch dieser Text sei Ihnen zur Lektüre empfohlen, ist ganz einfach über das Internet auch zugänglich.

Ich weise an dieser Stelle darauf hin, wünschenswert wäre aber, und das will ich hier noch einmal unterstreichen, wünschenswert wäre es in der Tat, wenn es ein ähnlich deutliches Votum in der EKD-Synode geben würde, wie wir es hier für uns hinbekommen haben. Und dafür wollen wir uns stark machen.

Herzlichen Dank.

 

Präses Dr. Ulrich Oelschläger:

Liebe Frau Präses, liebe Schwestern und Brüder. Ich möchte am Schluss dieses Tagesordnungspunktes ein ganz herzliches Dankeschön, auch als Präses, hier loswerden.

Ein herzliches Dankeschön an den Theologischen Ausschuss für diese ausgezeichnete Vorlage. Und liebe Synodale, Sie wissen ja, dass das so ein Thema ist, das mir so ziemlich am Herzen liegt und auf das ich auch im anderen Zusammenhang schon häufiger eingegangen bin, und ich versichere Ihnen, diese Vorlage, dieses Papier ist nach meinem persönlichen Urteil besser als das, was der Wissenschaftliche Beirat zur Lutherdekade herausgebracht hat. Es ist nicht so apologetisch, sondern es benennt die Dinge beim Namen, es zeigt die historische Bedingtheit von Luthers Judenschriften, aber es nutzt diese historische Bedingtheit nicht zu irgendeiner Form der Apologie oder Entschuldigung und das ist die Stärke dieses Papiers, deswegen ist es auch gut, dass wir es weitergeben.

(…)

 

zur Titelseite

zum Seitenanfang

ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
Robert-Schneider-Str. 13a, 64289 Darmstadt
Tel 06151-423900 Fax 06151-424111 email